Der Mann – so Ende Dreißig, nein, eher Mitte Dreißig – steht mir nackt gegenüber.

Ich beobachte ihn nun schon eine sehr lange Zeit, seit seiner Geburt eigentlich.

Oft habe ich das Gefühl, ihn verdammt gut zu kennen, obwohl er es versteht, mich zu überraschen, mich immer wieder in Staunen zu versetzen, was mich im Grunde bloß dazu veranlasst, noch genauer hinzusehen.

In jungen Jahren war dieser Mann ziemlich egozentrisch, ein Narziss, bereit, oft auf äußerst grobe Weise seinen Willen durchzusetzen. Heute nimmt er sich auf sanfterem Wege nur noch Dinge, die niemand anderem gehören. Dabei erkenne ich eine Dankbarkeit, die ihm früher wohl entgangen war.

Wenn man ihn so ansieht, könnte man tatsächlich meinen, diesen Mann würde nichts umhauen, denn er wirkt sehr robust, manch einer würde sagen „männlich“, doch sieht man dahinter, erkennt man eine Seele aus Glas, die auch schon so einige Male gesplittert ist. Oft habe ich ihn dabei beobachtet, wie er sie wieder mühevoll, doch akribisch, wie das so seine Art ist, zusammengesetzt hat.

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich ihn aufrichten musste, wenn ihn das Leben wieder einmal in die Knie zwang und er mutlos weinte, laut wie ein kleiner Junge, nachts, wenn er dachte, es würde keinen stören. Ja, dieser Mann ist leidensfähig und manchmal scherzt er bitter, dass er bloß so gut im Leiden sei, weil er eben dazu fähig ist.

Allerdings kenne ich ihn zu gut, um nicht zu wissen, dass er auch sehr glücklich sein kann. Dabei zählt er eher zu den stillen Genießern, die lieber chronisch lächeln, statt ihr Glück mit Fanfaren hinaus zu posaunen.

Als junger Mann galt er als rastlos, unruhig, stand ständig unter Strom. Ihm war stets alles zu klein, zu gering, zu gewöhnlich. Heute gelingt es ihm wesentlich besser, den simplen Dingen des Lebens etwas abzugewinnen. Als ich ihn einmal beim Verzehr eines einfachen Gulasch zusah, da lag ein Ausdruck in seinem Gesicht, den ich bis jetzt nur bei indischen Heiligen beobachten konnte – Seligkeit. Ich glaube, er hat einen gewissen Frieden in sich gefunden oder wurde zumindest bescheidener, jedenfalls wirkt er ruhiger, und es ist heute wesentlich leichter mit ihm auszukommen.

Die meisten Menschen verbergen sich hinter Masken, einem so genannten „Außen-Ich“, doch in all den Jahren sah ich diesen Mann keine einzige Maske tragen, war oft erschrocken, ob seiner Ehrlichkeit, wobei ich seinen Mut zu offenen Gefühlen stets schätzte, auch wenn sie ihm nicht immer zum Vorteil gereichten. – Er hat sich damit nicht nur einmal in die Scheiße geritten, und ich glaube auch, dass es ihm stets bewusst war, auf was er sich da einließ, wenn er mit der Wahrheit liebäugelte.
Vielleicht hat er es aber auch bloß nie geschafft, einen Psycho-Panzer aufzubauen, kann sein, dass dies sogar aus einer Art Unfähigkeit heraus geschah.

Eine Unfähigkeit, die an diesem Mann sonst eigentlich nicht zu erkennen ist, denn mir ist selten ein Mensch begegnet, der in allem, was er tut, wirklich gut ist, aber er scheint ein solcher zu sein. Das macht ihn für andere manchmal einfach unsympathisch, weil Neid des Menschen zweiter Vorname ist. Nach wie vor ist mir nicht klar, ob ihn das Leben mit einer ungerechten Zahl an Talenten ausgestattet hat, oder ob er lediglich ein solch begabter Perfektionist ist, dass er einfach gar nicht anders kann, als es zu können. Fragt man ihn danach, dann meint er schlicht, aber ohne falsche Bescheidenheit, dass es bloß daran liege, eine einzige Türe aufzustoßen – die Tür zur Kreativität, die er selbst mit Intelligenz gleichsetzt. Es stößt einem jedoch sauer auf, wenn man sieht, wie wenig dieser Mann im Grunde aus seinen Talenten gemacht hat. In diesem Zusammenhang könnte man ihn wiederum für einen Idioten halten.

Ich betrachte also still den nackten Körper dieses Mannes, der mir reglos gegenübersteht, und wie im Zeitraffer sehe ich all die Metamorphosen, die er schon durchgemacht hat. Die Spuren des Alterns sind zwar nicht besonders tief, aber doch erkennbar, auch wenn ich finde, dass er immer noch ganz gut aussieht. Ich weiß auch, dass ihm das früher von Bedeutung war, heute aber an Stellenwert verloren hat. Was ihn heute anziehend macht, ist wohl eher eine gewisse Reife, denn gute Proportionen. Ich glaube, heute will er nicht mehr attraktiv aussehen, sondern attraktiv sein. – Für ihn besteht darin ein großer Unterschied.

Um diesen Mann zu lieben, so denke ich, muss man sich Zeit nehmen, denn er ist vielschichtig, verschachtelt und dabei doch ziemlich einfach gestrickt. Ehrlichkeit ist der Schlüssel zu seinem Herzen. Mit Ehrlichkeit zähmt man auch seinen Jähzorn, der furchterregend sein kann. Man geht dann besser in Deckung.

Mit zunehmendem Alter, so muss man gestehen, wurde aber auch er gelassener, gerät seltener in Rage, die ohnehin nicht lange anhält, denn er liebt zwar Gewitter, kann Dauerregen aber nicht ausstehen. Wenn du ihn aber anlügst, dann wird er mit Sicherheit sauer, ja, sogar grausam, obwohl er keiner ist, der jemals Rache geübt hätte, sieht man davon ab, dass er Lügen ohnehin zu wittern scheint wie ein Jagdhund den Fuchs und sie deshalb aufblättert, was für den Lügner zweifelsohne beschämend ist und somit einer Art Rache gleichzusetzen wäre, obgleich diese für ihn nie Motiv war, denn als nachtragend kann man ihn wirklich nicht bezeichnen.

Es ist mir jedenfalls ein Rätsel wie er das macht, aber ich glaube, niemand kann diesen Mann anlügen, obwohl ich den Verdacht hege, es wäre ihm manches Mal lieber, ein wenig beschummelt zu werden, denn er selbst sieht diese Gabe nicht als Segen, ich weiß nämlich, dass es ihn anstrengt, seine Mitmenschen zu durchschauen.

Wagt man sich etwas tiefer in die Seele, ins Herz dieses Mannes, dann entdeckt man dort Sensibilität, Einfühlungsvermögen und große Verletzlichkeit. Trotz der rauen Erscheinung im Außen findet sich da im Inneren eine Wärme, eine Warmherzigkeit, wie sie meist nur bei Kindern anzutreffen ist. Er selbst sagt schlicht, in seinem Herzen hätte er jedem Menschen seines Lebens ein Zimmer gerichtet, in dem ein Schaukelstuhl steht, dessen Schaukeln sein Herz am Schlagen hält. Hat dich dieser Mann erst mal ins Herz geschlossen, dann liebt er dich auf stoische, unerschütterliche Weise.

Vielleicht hängt damit auch die tiefe Bereitschaft zum Vergeben zusammen. Mag es auch noch so schlimm gewesen sein, er trägt einem nichts nach, denn ich glaube, dieser Mann weiß, dass keiner frei von Schuld ist, ganz besonders er selbst nicht. Und deshalb sehe ich in seinem Herzen auch aufrichtige Reue, die ein trauriges Tänzchen mit tiefem Bedauern wagt. Selten habe ich erlebt, dass dieser Mann seine eigenen Fehler abstreitet. Ganz im Gegenteil! Manchmal richtet er sich mit seiner Selbstkritik beinahe hin. Dann braucht er Zuspruch, das eine oder andere Kompliment und eine gehörige Portion Liebe.

Er macht auch kein Hehl daraus, in jungen Jahren treulos gewesen zu sein. Heute aber, da hat er regelrecht Freude am Treusein gefunden. Er bezeichnet Treue zwar als keine Notwendigkeit, da sie gegen die Natur des Menschen verstoße, bedient sich ihrer aber als Geschenk, einer Form von Loyalität, die sich zwei Liebende geben können, so sie die nötige Reife entwickelt haben.

Geht man noch ein Stück tiefer in das Herz dieses Mannes, wagt man sich ins Zentrum vor, findet man Ideale, die viel zu hochgesteckt sind, als das sie ein Mensch alleine jemals verwirklichen könnte.

So sucht er also weiter nach Verschmelzung, nach der zweiten Hälfte, die ihm zu fehlen scheint, wobei ich mir denken kann, dass ihm mittlerweile klar wurde, dass nur er selbst sich geben kann, was er ersehnt. Sehnsucht war jedenfalls stets ein weites Feld in seinem Herzen.

Manchmal, wenn ich ihn so ansehe, erkenne ich, dass ihn diese tiefe Sehnsucht nach der Göttlichkeit, nach Liebe oder was auch immer, auf tragische Weise mit sich fortspült wie eine Flutwelle, die ihn in eine Welt trägt, die wohl kein Außenstehender je verstehen wird. Daran verzweifelt er dann regelmäßig und es macht ihn auch auf unergründliche Art einsam. Doch dieser Mann ist nicht für Einsamkeit geboren. Zu groß ist der Wunsch nach Liebe. Denn hinter allem, als Allerletztes, da bin ich sicher, brennt da ein Feuer im Herzen dieses Mannes, das nie erlöschen mag. Heute weiß er wohl, womit er es zu füttern hat, dieses Feuer. War der Wunsch nach Liebe in jungen Jahren vermehrt auf ihn selbst bezogen, so dürstet es ihn heute weit mehr, Liebe geben zu dürfen, denn sie zu empfangen.

Ein warmes Gefühl durchströmt meine Brust, ich schenke dem Mann, der da vor mir steht, so nackt wie Gott ihn schuf, ein mildes Lächeln und flüstere dann: „Allmählich beginne ich dich zu lieben!“

Schließlich drehe ich mich um und kehre meinem Spiegelbild den Rücken, welches wohl dasselbe tut, während ich mir meines Lindenblattes auf der Schulter bewusst bin, in das noch viele Schwarze Ritter, besonders aber deren Frauen, ihre Lanze rammen werden.

Ich bin bereit und schenke mich der Welt mit einem Lächeln, denn ich weiß, so sicher wie der nächste Morgen:

Je durchsichtiger ich werde, um so sichtbarer bin ich!

- David Peterson Pauswek