Mit schmerzvoll pochendem Herzen, nahm Rufus all seinen Mut zusammen und zwang sich durch den Spalt seines Zeltes auf die Szene am Lagerfeuer zu schauen. Die Stimmen, die ihm fortlaufend Gesprächsfetzen zwischen Aphila, ihrem Bruder und den Engeln ins Ohr trugen waren schon schätzungsweise eine halbe Stunde verstummt. Leider war nicht viel zu verstehen gewesen, allerdings wusste er jetzt, dass der kleine Engel Achis und der große Achel hieß. Auch wenn Rufus noch immer kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, weil er nun nicht nur Alina – sondern sein gesamtes Dorf - verloren hatte, eine Gelegenheit mit den Engeln zu reden durfte er sich nicht entgehen lassen. Zwar wusste er nicht, was sie mit Aphila tun würden sobald er ihnen das wahre Geschehen und die Identität der angeblichen Engelsgeschwister erklärte, doch es war vermutlich die einzige Chance diesem Alptraum zu entkommen. So lugte er vorsichtig aus dem Zelt zum am Lagerfeuer liegenden Engel. Dieser schien zu Rufus Überraschung zu schlafen. Den anderen, größeren Engel Achel, konnte er nirgends entdecken. Ebenso wenig waren Methos und Aphila zu sehen. Das war seine Möglichkeit! Jetzt war er ungestört in der Lage, mit dem Engel zu reden. War es aber so klug einen schlafenden Engel zu wecken? Was wenn er Rufus nicht zuhören würde, oder gar schlimmer Methos zu einer Aussprache dazu hole?

Ihm war bewusst, wenn Methos dann damit durchkam, war Rufus ein toter Mann. Schwer schluckend, kämpfte er einen harten innerlichen Kampf mit sich selbst. Immer wieder blickte er zwischen Lagerfeuer und den Schatten um die Zelte hin und her um sicherzustellen, dass sich Keiner annäherte und ihm noch Zeit zu handeln blieb. Er kam einfach zu keinem richtigen Schluss. Die Angst vor einem langsamen und grausamen quälenden Tod durch Methos Hand stand in krasser Konfrontation mit der möglichen Rettung durch die Engel.

Plötzlich aber wurde Rufus die Entscheidung abgenommen, als ein Schatten sich aus dem allgemeinen Schattenspiel zwischen Lagerfeuer und Zelte hervorhob und sich dem schlafenden Engel näherte. Rufus wusste sofort, da ging etwas für ihn ungutes vor. Als er sich auf die Szene konzentrierte, wurde ihm übel.

Methos kniete sich von hinten zu dem Engel herunter, sein Schwert in der Hand und mit glühenden Augen und irrem Blick auf die Kehle des Engels zielend. Rufus war sofort bitterlich klar, er hatte seine Chance vertan. Erst fuhr Methos wie in Zeitlupe mit der Klinge so knapp über den Engel herunter, dass die Spitze nur Millimeter von der Haut entfernt war. Dann holte er aus – doch genau in dem Moment packte ihn eine Hand von hinten am Handgelenk.

„Darf ich fragen, was du da gerade vorhattest, Bruder?“, fragte Achel in sachlichem Tonfall. Rufus Herz machte einen freudigen Sprung, Methos war auf frischer Tat ertappt worden! Offensichtlich über die Vereitelung seines Mordplanes verärgert, zog Methos eine fürchterliche Grimasse. Dieser Anblick wirkte durch das Licht des Lagerfeuers noch unheimlicher als ohnehin schon. Methos gab keine Antwort, er wusste wohl selbst keine ihn noch rettende Erklärung. Rufus war den Freudentränen nah, sie waren befreit! Gleich würde der Engel ihm seine gerechte Strafe verpassen und alle waren glücklich!
Doch nur einen Bruchteil einer Sekunde später, wurden Rufus Hoffnungen brutal zerschmettert. Etwas, dass man für einen silbernen Blitz hätte halten können raste durch des Engels Arm mit dem er Methos festhielt und trennte ihn ab. Ein furchtbarer Schmerzensschrei Achels war zu hören. Seine Hand mit der Hälfte seines Armes stürzten in den sandigen Boden, gefolgt von einer saftigen Blutfontäne aus dem offenen Arm. Schmerzverzehrt und mit zusammengebissenen Zähnen torkelte der Engel einige Schritte zurück, während er sich die Reste seines Armes hielt.

Rufus versuchte zu erkennen, von wo der Angriff kam – und als er es erkannte, verstand er die Welt für einen Moment nicht mehr. Aphila stand mit gezücktem Schwert breitbeinig und beide Hände fest ihr Schwert umklammernd da. Es durchzog Rufus durch alle Knochen, was hatte sie sich dabei gedacht? Sie wollte ihren Bruder doch auch loswerden! Oder hatte er ihre Sympathien gegenüber ihm falsch interpretiert? – Nein! Sie war ebenso angewidert von ihrem Bruder, wie Rufus. Davon war er überzeugt. Also was waren dann die Beweggründe? Möglicherweise hatte sie vor den Konsequenzen für sich selbst Angst, sollten die Engel sie bestrafen wollen. Es war nun mal eine Tatsache, dass sie eine Art mutierte Dämonin war. Ohne Methos wäre sie den Engeln wohl komplett hilflos ausgeliefert gewesen, vermutete Rufus. Allerdings war er sich nicht sicher, ob sie auch zusammen mehr auszurichten vermochten.
Schließlich verdrängte er seine Gedanken so gut es ging dazu und versuchte die Geschehnisse mit zu verfolgen. Aphila stand noch immer so da, wenn er es recht erkannte zitterte sie etwas. Ihre Augen verrieten blanke Panik und jede Menge Angst. Dennoch starrte sie wie gebannt auf den Engel, der inzwischen scheinbar weniger Schmerzen empfand, da er seltsam zu Boden grinste. Methos drehte sich jetzt langsam und bedächtig von dem noch immer schlafenden Engel weg und wandte sich Achel zu. „Was hast du so schäbig zu lächeln, hm? Ihr Engel habt einen komischen Humor, du verlierst einen Arm und findest es lustig – oder wie?“, spottete Methos mit gereizter Stimme. Achel aber lachte nun erst recht laut auf. Schließlich stand er auf und warf Methos einen hasserfüllten Blick zu: „Ich wusste es, ich wusste doch etwas stimmt nicht mit euch beiden. Infizierung von einem Dämon, ja sicher. Es hätte mir schon beim gescheiterten Heilungsversuch auffallen müssen. Ich weiß nicht genau, was ihr seid, aber Engel auf keinen Fall.“ Sein makaberes Grinsen wurde noch breiter: „Und ihr denkt ich, ausgerechnet ich – Achel, der Anwärter auf den Posten des Nachfolgers Michaels, dem Erben der ultimativen Erzengelposition – wäre nicht in der Lage mir selbst mit dem Arm zu helfen?“

Sein Gesicht verzog sich wutentbrannt. Plötzlich – wie von Geisterhand – zuckte Achels abgetrennter Arm los und flog wieder zurück an den Rest des Armes an seinen Körper. Wenige Sekunden später war bis auf einige Blutflecken nicht mehr zu erahnen, dass der Arm mal verletzt worden war. Dies machte Methos und Aphila scheinbar deutlich, welch starkem Gegner sie hier gegenüber standen. Sie erschienen nämlich beide mit einem Mal sehr viel angespannter zu sein. Ehe sie jedoch etwas zu tun wussten, rief Achel auch schon: „Achis! Wach endlich auf, es gibt Arbeit!“ Einen Augenblick später gab der bis dahin noch selig Ruhende Geräusche von sich. Methos Augen wechselten währenddessen immer wieder schnell von Achel ihm direkt gegenüber, zu Achis hinter ihm. Er wog wohl ab, ob er es wagen konnte Achis noch rechtzeitig abzustechen ohne Achel die Chance zu geben zuvor ihn zu töten. Sein Zögern entschied dies aber von selbst.

Als Achis grade auf die Beine kam, stürmte Achel in wahnwitziger Geschwindigkeit und leicht angewinkelten Flügeln auf Methos zu. Blitzschnell hatte Achel sein Schwert im Flug gezogen und stemmte sich nun gegen Methos, der wiederum mit seinem abwehrte. „Eine der Tricks, die nur wenige Engel auf Anhieb verstehen - seine Flügel im Kampf für schnelle Manöver ausnutzen“, meinte er mit seltsam wahnsinnig wirkender Miene und setzte dann an seinen Bruder gewandt fort, „Achis, wir haben hier Betrüger vor uns! Kümmere dich um die Schlampe, ich mach den Dreckskerl hier fertig!“ Bei den letzten Worten setzte er ein süffisantes Lächeln auf. Achis verstand zwar wohl nicht sofort, aber das brauchte er auch nicht. Aphila stand nach wie vor leicht zitternd da und machte keine Anzeichen anzugreifen. Rufus war sich selbst nicht klar, was er denken sollte. Zum Einen wollte er Methos am Boden sehen, zum Anderen aber schrie seine innere Stimme Aphila solle endlich zu schlagen. Schließlich aber machte Aphila endlich eine Bewegung. Noch etwas unkoordiniert drehte sie sich zu Achis um und mit einem beherzten Verzweiflungsschrei, rannte sie mit der Klinge voraus auf ihn zu. Dieser blickte sie amüsiert an und zog sein eigenes. Bei ihm angekommen schlug sie mehrfach auf ihn ein, jedes Mal wich er mühelos aus. Zugleich drückten sich Methos und Achel noch immer gegenseitig mit dem Schwert voneinander weg, es wirkte fast wie Armdrücken in Schwertkampf-Variante. Jedoch wurde Methos immer weiter zurückgedrängt. Wenn er nur noch wenige Zentimeter einbüßte, musste er damit rechnen seinen festen Stand zu verlieren.

Aphila dagegen wurde zusehends schneller im Zuschlagen und inzwischen musste Achis ihre Hiebe tatsächlich schon abwehren. „Du lernst schnell für ein Monster“, kommentierte er ihren Ansturm. Sie verkniff sich jede Antwort, in ihren Augen war pure Konzentration zu erkennen, die ersten Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Rufus Atem wurde schneller, es sah nach einer deutlichen Überlegenheit der Engel aus. Eigentlich hätte ihn das freuen müssen, doch er entwickelte Sorge um Aphila. Trotz der Unterwürfigkeit, dem sie ihrem Bruder bot, trotz ihrer Verweigerung ihm in seiner Not zu helfen empfand er Mitleid mit ihr. Sie war gezwungen ihren Bruder zu unterstützen, wollte sie überleben. Das hieß auch wenn sie es gewollt hätte – was er sowieso vermutete – war es ihr nicht möglich gewesen Rufus zu helfen. Alles was sie tat beruhte auf der Entscheidung zu überleben und das konnte er ihr schlecht verübeln. Umso unwohler wurde ihm, als er sie so hoffnungslos unterlegen kämpfen sah. Doch er war nutzlos für sie. Weder besaß er Kampferfahrung, noch ein Schwert. Außerdem war er sich sicher, die Engel hörten nicht einfach auf seine Bitte hin auf. Es wurde eng.
Es war regelrecht zu beobachten, wie Aphila langsam doch die Puste ausging. Ihre erst so rasanten Hiebfolgen wurden wieder behäbiger und sie schwitzte immer heftiger. Mit jedem weiteren Schlag stieß sie einen spitzen Schrei aus, wie in der Hoffnung es stärke ihre Angriffe. Währenddessen gab Methos jetzt nochmal alles und drängte Achel tatsächlich so weit zurück, dass er wegspringen musste um nicht von Methos Klinge erwischt zu werden. Es gab von diesem Augenblick an immer wieder die gleiche Reihenfolge: Sie preschten aufeinander zu, stießen ihre Schwerter gegeneinander und wurden von der Wucht zurückgeschleudert um es dann erneut zu versuchen. Dabei wurde der Sand unter ihren Füßen bei jedem Aufprall aufgewirbelt. Es nahm einfach kein Ende.

Auf einmal wurde Achis mutiger: „Keine Kraft mehr, was? Tja, dann bin ich jetzt an der Reihe!“ Kaum gesagt, setzte er sie mit zahlreichen Schlägen und Hieben unter Druck. Mehrfach war sie nur noch knapp in der Lage auszuweichen und immer wieder streifte er sie schon und verpasste ihr Schnitte in die Haut. Sie versuchte verbissen dagegen zu halten, doch sie war nicht länger fähig das Schwert richtig zu schwingen, ihre Kraft war am Ende. Seine Treffer wurden zahlreicher und ihre Kleidung sah immer zerfetzter aus und färbte sich unter den blutigen Schnitten mit der Zeit rot. Rufus wollte nicht mehr hinsehen, doch wäre er sich wie ein Verräter vorgekommen den Blick abzuwenden. Sehr bald würde Aphilas kalter Leichnam auf dem Boden liegen und er musste bei ihrem Todeskampf einfach zu schauen. Unfähig einzugreifen, es zu stoppen.

Auch Achel setzte nochmal nach und verpasste Methos einen besonders knackigen Schlag. Daraufhin klirrte es verheißungsvoll und Methos Schwert, dass von seinem Vorbesitzer schon im Kampf beschädigt gewesen war, brach erneut weiter ab. Methos bekam große Augen - damit war er so gut wie tot. Einzig ein Wunder sollte sie beide noch retten können, aber ein Wunder für Dämonen?
Rufus sah der Wahrheit ins Auge, Aphila sowie Methos waren totgeweiht.

Da passierte es. Die Erde begann zu beben und ehe auch nur Einer von ihnen realisierte, was geschah brach etwas mit ohrenbetäubendem Lärm aus dem Boden direkt unter dem Lagerfeuer hervor.
Brennende Holzstücke, Funken und Erde flogen quer durch die Gegend und ein unnatürlicher Schrei war von einer Gestalt inmitten der Explosion zu hören.

Rufus stockte der Atem, wer oder was war das?




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