Schon seit langem ist eine Überlegung in der Diskussion um das deutsche Bildungssystem Teil der Diskussion: Die Abschaffung des so genannten ,,Sitzenbleiben".

Neben einigen anderen Bundesländern, die das Sitzenbleiben in der Schule schon eingeschränkt haben, möchte nun auch Hamburg schrittweise diesen Vorgang ganz abstellen.

Ich denke, ich muss nicht groß erklären, wie es bisher lief: Wenn die Noten, vor allem in den so genannten Hauptfächern, zu schlecht waren, wurde ein Schüler nicht in die nächste Klassenstufe versetzt, sondern musste ein Jahr wiederholen.


Nun, ich muss sagen, ich stehe der Abschaffung des Sitzenbleibens zweigeteilt gegenüber...

Tatsache ist allerdings, dass die Angst vor dem Sitzenbleiben, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiß, großen, psychischen Streß auslösen kann. Man wird aus seinem Klassenverband gerissen, man ist eventuell der einzige und hat dann das Gefühl, der einzige ,,Dumme" in der Klasse zu sein, sowohl der alten, als auch der neuen.
So etwas kann sehr demotivierend wirken und der Schüler kann die Lust verlieren, sich überhaupt noch weiter anzustrengen. Es braucht einen starken Willen und viel Kraft, um dann zu sagen:,,Ich werde die Schulform TROTZDEM gut beenden! Ich schaffe das!"

Motivation und Selbstwert jedoch sind ganz zentral für den schulischen Erfolg!

Man kann also durchaus annehmen, dass die Abschaffung des Sitzenbleibens positiv ist, da sie den Schülern Streß und Stigma nimmt.


Auf der anderen Seite sehe ich aber auch nicht nur positive Folgen, sondern auch negative:

Zunächst einmal können die beschriebenen, positiven Auswirkungen von wegen ,,weniger Streß" und Motivation auch anders herum betrachtet werden. Wenn man nicht mehr ,,Sitzenbleiben" kann, kann das bei Schülern auch die Einstellung auslösen:,,Warum soll ich mich überhaupt noch bemühen? Kann ja eh nicht hängen bleiben. Da mach ich mir`s doch lieber leicht, Handy, MP3-Player, Party...."

Die Möglichkeit des Sitzenbleibens habe ich nie nur als gemeine Drohung betrachtet, sondern auch als Mahnung und Erinnerung daran, dass ich mir nicht nur einen schönen Lenz machen darf, sondern etwas tun muss für meine Ausbildung, nicht nur fachlich, sondern auch Fähigkeiten wie organisiertes Arbeiten oder Pünktlichkeit lernen und trainieren.

Weiterhin muss man sich auch fragen, ob es in Bezug auf die Qualität der Ausbildung tatsächlich förderlich ist, wenn es keine oder nur noch freiwillige Wiederholungen gibt. Freiwillige Wiederholungen verlangen ebenfalls ein hohes Maß an Willen und auch eine gute Fähigkeit zur Selbstreflexion.
Aber es kann, wie schon gesagt, höher wiegen, dass man nicht der Dumme Wiederholer sein will und immer weiter geht. Oder man ist einfach faul und desinteressiert oder noch nicht in der Lage gewesen, die Inhalte des Schuljahres zu erlernen.

Teilweise bestehen, wie ich ebenfalls aus persönlicher Erfahrung von Schulen ohne Sitzenbleiben weiß, Situationen, in denen 9.-Klässler einen Wissens- und Fähigkeitenstand von 5.Klässlern haben!
Und das keinesfalls, weil sich niemand um sie kümmern würde. Sondern weil es für sie, ihrer Meinung nach, keinen Grund gäbe, sich wirklich anzustrengen. Sitzenbleiben können sie ja eh nicht.
Es fehlt ihnen der notwendige Leistungswille, sie haben diesen nicht gelernt, beispielsweise seitens ihres Elternhauses und da sie ohnehin nicht hängen bleiben können, fehlt auch hier der Ansporn.
Die Lehrer selbst haben gar nicht die Zeit, ihnen derartige, grundlegende Fähigkeiten wie Leistungswillen beizubringen, wenn die Schüler ohne Aufenthalt durchmarschieren.

Nun sind bloße Leistung und gute Noten nicht alles.
Aber man kann nicht bestreiten - und wer will es den Arbeitgebern auch verdenken, dass ein guter Schulabschluss sowie Sekundärtugenden (zu denen ich auch Leistungswillen zähle) einfach notwendig sind, um auch einen vernünftigen Arbeitsplatz zu bekommen.

Ich wäre durchaus bereit, mir als Arbeitgeber auch Leute anzuschauen, die auf den ersten Blick aufgrund ihrer Noten eher schlecht wirkten.
Aber in solchem Fall würde ich umso mehr Gewicht auf Sekundärtugenden legen.
Wenn sich da vor mir ein desinteressierter, gelangweilter Bewerber rumflegelt, der auch noch zu spät gekommen ist und mir Sätze in Bezug auf seine Motivation sagt, wie:,,Ja...Dachte, das könnte halt Spaß machen... Außerdem muss ich hier sein, meint die Arge...", dann würde ich eine solche Person nicht mal für einen Hilfsjob einstellen.

Übrigens geht es nicht nur um Leistungswillen und Sekundärtugenden, sondern auch darum, dass die reinen, fachlichen Fähigkeiten auf der Strecke bleiben können. Dies ist besonders deshalb problematisch, weil die Inhalte der verschiedenen Klassenstufen ja auch auf einander aufbauen.
Was man in einem Wiederholungsjahr vielleicht doch noch mal hätte lernen können, fehlt nun.
Aufgrund des fehlenden Wissens über eine Rechentechnik oder ein sprachliches Phänomen wiederum kann der Schüler in der nächsten Klasse nicht mehr richtig mithalten und hat noch weniger Lust, etwas zu leisten. Und auch als Lehrer steht man dann da, kann seinen, ihm vorgegebenen Lehrstoff nicht durchbringen, weil man irgendwie versuchen muss, die Grundlagen zu vermitteln, die der Schüler eigentlich schon in der vorigen Klasse hätte erlernen sollen.

Oder aber man kann keine Rücksicht auf den Schüler nehmen, weil man sich um die anderen kümmern muss, damit diese nicht unter dem Wissensdefizit ihres Mitschülers leiden.



Meiner Meinung nach muss die Abschaffung des Sitzenbleibens dann mindestens auch mit einem sehr massiven, stark erhöhten Förderaufwand verbunden werden!

Ob dies möglich ist und inwiefern das Modell des ,,Nicht-Sitzenbleibens" Erfolg haben wird, wird sich zeigen. Ich bin gespannt.