Das Land der angelehnten Türen
08.12.2009 um 02:29Vor Jahren mal für ein Weihnachtswichteln in einem kleinen Forum geschrieben. Fiel mir vorhin wieder ein. KATZEN! Dies ist jetzt ein Katzenblogdings! Und dies ist die Antwort für viele Mysterien und die Bekanntmachung einer schrecklichen Wahrheit:
Das Land der angelehnten Türen
„Verdammte Katze!“
„Komm, jetzt lass sein…“
„Ich muss wissen wo sie ist, sonst kann ich nicht in Ruhe nicht zu Hause sein!“
Ein hysterisches, weibliches Häufchen huschte von Zimmer zu Zimmer, spähte in Schränke, Schubladen und sinnlos wie leer herumstehenden Pappkartons.
„Nun knall ihr Futter hin und zieh dir endlich eine Jacke an, wir kommen noch zu spät!“
Das Häufchen kam mit einer beträchtlichen Menge Staubflusen im zerzausten Haar zurück in den Flur. „Was, wenn sie rausgelaufen ist, Stefan? Sie soll doch nicht raus, ich meine, die Straße! Und überall wird Rattengift hingelegt! Wenn sie das frisst!“
„Schatz“, murmelte nun ein leicht entnervter männlicher Haufen, der keine Lust hatte, ebenfalls Staubflusen in die Haare zu bekommen, was, wenn dieses Gespräch nicht früh genug beendet werden würde, unvermeidlich wäre. „Wir haben weder die Fenster weit aufgemacht, noch haben wir einen Fuß vor die Tür gesetzt. Lissi hat sich einfach, wie immer, irgendwo verkrochen und wartet nur darauf, dass wir uns endlich vom Acker machen!“
Das weibliche Häufchen (um endlich aus der Häufchennummer herauszukommen nennen wir sie einfach unschön „Gisela“ – denn die Grausamkeit von Eltern äußert sich auch heutzutage nicht nur in Namen wie Chantal oder Kevin) atmete kurz durch und ging schweigend in die Küche, um eine Dose Katzenfutter zu öffnen und den Inhalt weder zu klatschen, noch zu knallen sondern mithilfe einer kleinen Gabel liebevoll auf dem kleinen süßen Napf zu verteilen.
„Diesmal bitte keine Petersilie oben drauf…“, stöhnte Stefan leise.
Gisela richtete sich unelegant wieder auf, die beschmierte Gabel und geöffnete Dose in den Händen, die sie sogleich in Windeseile in der Küche ablieferte. „Wenn wir sie nachher überfahren auf der Straße liegen sehen gebe ich dir die Schuld!“ Dann griff sie ebenso energisch zu ihrer Jacke, wie sie gesprochen hatte, und war schneller angezogen und auf der Treppe im Hausflur, als Stefan auch nur empört gucken konnte.
*
In den unordentlichen Tiefen der Wohnung leuchtete es kurz violett. Etwas Flauschiges wurde lautlos hinaus- und wieder hineingelassen. Das Leuchten verschwand.
*
Viele Stunden später klapperte die Wohnungstür wieder. Lissi richtete sich aufmerksam auf und rannte dem Geräusch entgegen, in dem Wissen, dass Frauchen und der Mann aus dem unbekannten Raum hinter dem knallgelben Holz wiederkehren würde. Als die ersten Beine erschienen maunzte sie mit freundlich zusammengekniffenen Augen und rieb sich schnurrend an ihnen. Wie eine ganz harmlose, normale Katze eben. Eine Katze, die es mochte, zur Belohnung für ihr Süßsein hinter den Ohren gekrault zu werden. Die schrillen Laute, die Frauchen mit seltsam in die Breite gezogenem Maul und kleinen Augen von sich gab, ignorierte Lissi wie immer.
*
„Ooooh, da bist du ja, meine kleine Süße Maus!“, quietsche Gisela selig lächelnd und rieb mit ihren Händen wild über den Kopf der schwarzen Katze. „Du Süße, du! Süße Maus!“
„Katze“, verbesserte Stefan sie. „Und ich hoffe inständig, wir kriegen nie Kinder.“
Gisela beruhigte sich schnell wieder, nun, da die Visionen einer toten Lissi nicht zur Wahrheit geworden waren. Stattdessen giftete sie kurz ihren Freund an (der seinerseits plötzlich nur schrille Laute hörte, die er weitestgehend ignorierte), zog sich hastig aus, stapfte kurzerhand ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und schmiss sich aufs Sofa.
Der Abend war nicht schön gewesen. Sie waren bei Freunden eingeladen gewesen, ein typischer Pärchenabend inklusive verbranntem Ofenkäse, den keiner außer der Leute in der Fernsehwerbung mochte, und eheerschütternden Streitigkeiten von befreundeten Pärchen, die in Zukunft vermutlich nur noch halbiert auftreten würden. Gut, dass Stefan und sie über solchen banalen Dingen standen, so ganz ohne Fußball- oder Schuhliebe.
„Wo zur Hölle ist schon wieder die Fernbedienung!“, unterbrach Gisela ihren eigenen, banalen Gedankenfluss.
„Da wo du sie zuletzt hingelegt hast!“, tönte es aus dem Bad.
„Sehr witzig.“
Zuletzt hatte sie Gisela natürlich auf den Tisch gelegt, den Platz, den man vom Sofa aus mit den Armen am bequemsten erreichte. Sie musste nicht mehr als einmal hinschauen, um zu wissen, dass sie nicht dort war.
„Wir wurden bestohlen!“, rief sie zurück ins Bad.
Trotz dieser Vermutung erhob sie sich widerwillig vom Sofa und suchte dessen Ritzen und die des Sessels nach dem langen, schwarzen Stück Plastik ab. Doch weder dort noch zwischen den zahlreichen Topfpflanzen auf dem Fenstersims hatte es sich versteckt. Gisela wirbelte herum. „Na toll, wo kann die verdam–“
*
Lissi verharrte in unbequemer Position auf dem Wohnzimmertisch. Zwischen ihren Vorderpfoten hielt sie noch immer das, was Frauchen und ihr Mann „Fernbedienung“ nannten. Noch ehe sie Frauchens verwirrten Blick sah, wusste sie, dass sie sich ihrem viel zu intelligentem Verhalten und dem berechnenden Blick verraten hatte.
„So eine Scheiße“, flüsterte die Katze, ließ die Fernbedienung auf die Tischplatte fallen und ließ mit einer kurzen Pfotenbewegung den Mann im gefliesten Nebenzimmer plötzlichen Durchfall erleiden, damit er nicht dazwischen funken konnte.
„Puh… nur keine Panik.“ Lissi setzte sich gesittet hin und rieb sich kurz die Nase. „Gut, Frauchen“, schnaufte sie schließlich. „Du hast mich erwischt. Ich bin intelligent genug, die Fernbedienung gezielt an einen Ort zu tragen. Was wirst du nun tun?“
Die Antwort war ein Kreischen (und ein lautes, nicht sehr wohliges Stöhnen, gefolgt von einem Fladdergeräusch aus dem Bad). Lissi legte ihre Ohren an, blieb aber ruhig, so wie es ihr von König Samir aufgetragen worden war. An den wollte sie im Übrigen in diesem Moment lieber nicht denken, er wurde immer recht ungehalten, wenn Katzen mit ihren Aufträge nicht verantwortungsvoll genug umgingen – vor allem nicht, wenn diese Aufträge auch noch Fernbedienungen enthielten.
„Ich dachte mir, dass dies deine Reaktion sein würde“, sagte sie schließlich und nickte verständnisvoll. „Du hast Glück, dass du mein Frauchen bist. Jemand anderen hätte ich mit einem vermutlich schmerzhaften Fluch belegen müssen, der mit einem qualvollen Tod geendet hätte.“
Frauchen Gisela brachte noch sinnloseres Gefasel heraus als sonst: „Du – Lissi – Katze – haww – hawwwahawww – haaaa – reden – ich –“
Lissi verdrehte die Augen, hüpfte elegant vom Tisch und lief offen und freundlich auf ihr Frauchen zu. Am Klügsten wäre es, so zu tun, als wäre nichts passiert; einfach weiterhin die liebende Katze zu spielen. Deshalb schmiegte sie ihr Köpfchen an Giselas Knie.
„Keine Angst“, schnurrte Lissi. „Du wirst nicht verrückt. Ich werde jetzt zwinkern, um dich zu besänftigen.“
Lissi zwinkerte.
„Wieso machst du das?“, hauchte Gisela, offenbar zutiefst erschüttert. „Was soll das, was hat es damit auf sich? Was sollte das mit der Fernbedienung? Wieso kannst du reden? Liebst du mich genauso, wie ich dich? Ich habe Angst!“
In einer betont liebevollen Geste legte die Katze der Menschenfrau ihre Pfote auf die Lippen und lächelte be... – nun ja, versuchte, zumindest beschwichtigend auszusehen. Den Dreh mit dem Lächeln hatte sie immer noch nicht so ganz raus. „Du wirst mir folgen müssen, Frauchen. Das Geheimnis, das ich dir nun offenbaren werde, kennen nur wenige Menschen. Du wirst einer von ihnen sein. Eine Auserwählte.“ Lissi lächelte (wenigstens im Geiste); sie wusste, dass die Auserwählten-Nummer immer zog.
Und wie sie zog.
*
„Auserwählt? Ich?“
Gisela stand wie in Trance auf und folgte mit seltsam tauben Beinen ihrer Katze, während der Fernseher hinter ihr nackte, in die Kamera gerichtete Ärsche mit entsprechendem Ton zeigte.
„Lissi…“, brachte sie hervor, verstummte jedoch bei dem leisen Zischen, das ihre Katze von sich gab.
Gemeinsam erreichten sie das Schlafzimmer. Lissi huschte zum Schreibtisch und sah sich demonstrativ nach ihrem Frauchen um. „Komm bitte näher“, sagte sie mit ihrer hohen, leicht krächzenden Stimme. „Und habe keine Angst, das mögen meine Leute gar nicht gern.“
„Jetzt habe ich“, sagte Gisela. Die zweite Hälfte des Satzes („noch mehr Angst“) verschwand irgendwo zwischen ihren Stimmbändern und dem Mund. Und doch folgte sie den Anweisungen der Katze und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen.
„Gut“, sagte Lissi nickend, machte eine komplizierte Bewegung mit ihren Pfoten und ließ ein lang gezogenes Miauen hören. Wenige Momente später, die jeweils nicht länger als ein Augenzwinkern waren, erschien aus dem Nichts ein–
„.Portal?“ Gisela zog die Augenbrauen hoch. „Oder was soll das jetzt sein?“
„Nun hast du die unheimlich spannende Spannung zerstört, tolle Wurst.“
Das violette Licht des Portals, wie Gisela so weise festgestellt hatte, tanzte in dem Versuch, eine gewisse Stimmung zu erzeugen, an den Wänden Ringelreihen und dann und wann Walzer.
„Katzen sollen keine Wurst essen.“
Lissi starrte gekonnt. „Richtig. Habe ich einmal gemacht, nie wieder, mein Stuhlgang die Tage danach war wirklich scheußlich… Wie dem auch sei, fass an meinen Schwanz – vorsichtig! – und folge mir.“
Gisela zögerte die vorgeschriebenen, dramatischen Sekunden lang; packte dann energisch, aber dennoch vorsichtig, zu und ließ sich von ihrer Katze kriechend durch das Tor führen.
*
Sie erreichten einen überraschend unspektakulären Raum mit dunkelblauem Teppichboden und zerkratzten, weißen Tapeten auf den Wänden.
„Willkommen im Land der angelehnten Türen, Frauchen“, sagte Lissi freundlich. „Jetzt kannst du dich wieder aufrichten. Und meinen Schwanz loslassen.“
Die Menschenfrau gehorchte angenehm brav und schnell und blickte sich daraufhin neugierig im Raum um. Ihr Blick wanderte mit mildem Interesse von den vereinzelten Papierschnipseln am Boden zum halb offenen Karton in der Ecke.
„Du musst wissen, die Türen hier sind immer angelehnt… Aber du wirst selbst sehen.“
Lissi steuerte auf die erste angelehnte Tür zu; sie hatte keine Klinke. Frauchen brauchte diesmal keine Aufforderung, um ihr zu folgen. Ihre Neugierde – eine äußerst interessante Angewohnheit der Menschen, wie Lissi fand – war inzwischen vermutlich zu groß. Kurz überlegte die Katze, ob sie Lissi eine knappe Anweisung geben sollte, wie sich in Anwesenheit von Samir zu verhalten hatte, dann fiel ihr jedoch wieder ein, dass sie bloß ein Menschenweibchen war und so beim König wahrscheinlich einen Niedlichkeitsbonus haben würde.
*
Ein überraschend großer, prunkvoller Raum verbarg sich hinter der Tür. Giselas Blick fiel sofort auf eine erstaunlich große, dicke Katze, die breitbeinig und flauschgesichtig in einem thronartigen Katzenkörbchen saß, eine Krone aus Leckerlistangen auf dem Kopf. So achtete sie nicht auf die anderen Katzen im Raum; bei Giselas Anblick begannen sie zu fauchen und ihr Fell aufzuplustern.
Lissi war unbemerkt auf den Katzenkönig zugelaufen und flüsterte angeregt mit ihm. Sein Gesichtsausdruck wechselte sprunghaft zwischen verärgert und vage interessiert hin und her.
Gisela hatte immer noch ein wenig Angst.
„Mensch!“, brüllte der dicke Kater nach ein paar Minuten. „Komm her und verneige dich vor mir!“
Sie zuckte zusammen, rannte dann auf den König zu, stolperte beinahe, und verneigte sich so hastig, dass ihr Rücken knackte.
„Sehr schön“, lobte der Katzenkönig. „Und jetzt –“ Er raschelte mit einer Leckerliverpackung. „Spiel hiermit!“ Mit diesen Worten zerknüllte er die Verpackung zusammen und warf sie Gisela an den Kopf. Der Papierball prallte von ihrer Stirn ab.
„Ich will aber nicht.“ Doch als sie in den Augen des Königs das venichtenste Starren erblickte, dass sie je an einer Katze sah, setzte sie sich rasch auf den Boden, nahm das Papier in die Hand und warf es ein paar Mal in die Luft.
„Ahahaha, sehr schön, sehr schön! Du hast König Samir zufrieden gestellt. Und nun hast du die Erlaubnis, still zu sein und zuzuhören, Menschenweibchen.“
Gisela warf ihrer kleinen Lissi einen kurzen Blick zu. Sie nickte zustimmend.
Mit einem leisen Knistern fiel die zerknüllte Packung zu Boden; Gisela blieb sitzen und hörte König Samir zu.
„Du hast Glück, dass Lissi deine Halterin ist. Lissi war mir vor einiger Zeit sehr behilflich, als es um einen großen Haarbürsten- und Zopfgummi-Transfer aus eurer – recht banalen – Menschenwelt ging, daher werde ich Gnade walten lassen.“ Er hustete kurz ein paar Haare aus, woraufhin seine Stimme lauter und förmlicher klang, als er weiter sprach: „Sicherlich hast du dich schon oft gefragt, kleines Menschchen, weshalb ausgerechnet Fernbedienungen, Socken, Haarbänder und gelegentlich auch Schlüssel und Taschentücherpackungen spurlos „verschwinden“, nur um wenig später an einem Ort aufzutauchen, an dem du schon die ganze Zeit gesucht hast.“
Samir machte eine Pause. Gisela wusste nicht, ob sie dazu verpflichtet war zu antworten, weshalb sie bloß unverbindlich mit dem Kopf ruckte. Das konnte der König dann auslegen, wie er wollte – hoffentlich zu ihren Gunsten.
„Süß, echt süß“, flüsterte er, räusperte sich dann. „Nun, mein Menschilein, du hast jetzt zwei Möglichkeiten.“ Er kramte in seinen Hosentaschen (ja, er trug tatsächlich eine Hose. Die sah allerdings genauso aus wie sein Beinfell, weshalb es Gisela bisher noch nicht aufgefallen war. Er trug ebenfalls Socken, ein T-Shirt und einen Hut in Katzenohrenform. Er haarte eben sehr viel, und das alles wegzuwerfen wäre ja Haarverschwendung, oder?) und zog schließlich zwei klebrig aussehende Bonbons heraus und hielt sie dramatisch in die Höhe. Die Katzen im Raum wedelten mit ihren Schwänzen; ein leiser, unangenehmer Laut. „Wählst du das rote Bonbon, wirst du in all unsere Katzengeheimnisse eingeweiht – inklusive, weshalb unsereins gerne an Plastik knabbert und Geschenkkringelband liebt. Wählst du allerdings das blaue Bonbon, wirst du für immer vergessen, dass es eine Katzenwelt im Untergrund gibt, in der wir heimlich die Weltherr- äh, ähm, die Senkung von Katzenstreupreisen planen… äh, kurzum: du gehst nach Hause zurück, als ob nie etwas Komisches gewesen wäre.
Aber bedenke: Nimmst du das rote Bonbon, darfst du nie wieder nach Hause zurückkehren. Du wirst stattdessen in den zahlreichen kleinen Menschenkolonien in dieser Welt leben müssen.“
Gisela starrte Samir an. Viele Gedanken schwirrten plötzlich durch ihren Kopf. Sie dachte an all die Helden aus Filmen und Büchern; an Harry Potter und an Frodo Beutlin und an Luke Skywalker. Nun dachte sie an Luke Skywalkers doofe Frisur und entschied sich, es bei Harry Potter und Frodo Beutlin zu belassen. Wobei deren Frisuren nicht viel besser waren.
Sie könnte etwas Besonderes sein, eine „Auserwählte“! Sie malte sich aus, wie sie mit den menschlichen Kolonisten – die es mit Sicherheit gab, ganz bestimmt! – Pläne schmieden und schließlich die Katzenverschwörung von innen heraus untergraben würde.
„Nun, Wie lautet deine Entscheidung?“
Gisela setzte sich wieder aufrecht hin. „Ähm. Was haben die Bonbons denn für Geschmacksrichtungen?“
Samir beugte sich kurz zu Lissi hinunter. „Rot ist Himbeer, blau ist ein seltsamer künstlicher Kaugummigeschmack. Vermutlich Brombeer.“
„Ok, dann nehme ich das blaue Bonbon, ich hasse Himbeer!“
*
Und so hatte die Welt einen auserwählten Helden weniger.
Gut so, denn davon gibt es ja ohnehin viel zu viele.
Das Land der angelehnten Türen
„Verdammte Katze!“
„Komm, jetzt lass sein…“
„Ich muss wissen wo sie ist, sonst kann ich nicht in Ruhe nicht zu Hause sein!“
Ein hysterisches, weibliches Häufchen huschte von Zimmer zu Zimmer, spähte in Schränke, Schubladen und sinnlos wie leer herumstehenden Pappkartons.
„Nun knall ihr Futter hin und zieh dir endlich eine Jacke an, wir kommen noch zu spät!“
Das Häufchen kam mit einer beträchtlichen Menge Staubflusen im zerzausten Haar zurück in den Flur. „Was, wenn sie rausgelaufen ist, Stefan? Sie soll doch nicht raus, ich meine, die Straße! Und überall wird Rattengift hingelegt! Wenn sie das frisst!“
„Schatz“, murmelte nun ein leicht entnervter männlicher Haufen, der keine Lust hatte, ebenfalls Staubflusen in die Haare zu bekommen, was, wenn dieses Gespräch nicht früh genug beendet werden würde, unvermeidlich wäre. „Wir haben weder die Fenster weit aufgemacht, noch haben wir einen Fuß vor die Tür gesetzt. Lissi hat sich einfach, wie immer, irgendwo verkrochen und wartet nur darauf, dass wir uns endlich vom Acker machen!“
Das weibliche Häufchen (um endlich aus der Häufchennummer herauszukommen nennen wir sie einfach unschön „Gisela“ – denn die Grausamkeit von Eltern äußert sich auch heutzutage nicht nur in Namen wie Chantal oder Kevin) atmete kurz durch und ging schweigend in die Küche, um eine Dose Katzenfutter zu öffnen und den Inhalt weder zu klatschen, noch zu knallen sondern mithilfe einer kleinen Gabel liebevoll auf dem kleinen süßen Napf zu verteilen.
„Diesmal bitte keine Petersilie oben drauf…“, stöhnte Stefan leise.
Gisela richtete sich unelegant wieder auf, die beschmierte Gabel und geöffnete Dose in den Händen, die sie sogleich in Windeseile in der Küche ablieferte. „Wenn wir sie nachher überfahren auf der Straße liegen sehen gebe ich dir die Schuld!“ Dann griff sie ebenso energisch zu ihrer Jacke, wie sie gesprochen hatte, und war schneller angezogen und auf der Treppe im Hausflur, als Stefan auch nur empört gucken konnte.
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In den unordentlichen Tiefen der Wohnung leuchtete es kurz violett. Etwas Flauschiges wurde lautlos hinaus- und wieder hineingelassen. Das Leuchten verschwand.
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Viele Stunden später klapperte die Wohnungstür wieder. Lissi richtete sich aufmerksam auf und rannte dem Geräusch entgegen, in dem Wissen, dass Frauchen und der Mann aus dem unbekannten Raum hinter dem knallgelben Holz wiederkehren würde. Als die ersten Beine erschienen maunzte sie mit freundlich zusammengekniffenen Augen und rieb sich schnurrend an ihnen. Wie eine ganz harmlose, normale Katze eben. Eine Katze, die es mochte, zur Belohnung für ihr Süßsein hinter den Ohren gekrault zu werden. Die schrillen Laute, die Frauchen mit seltsam in die Breite gezogenem Maul und kleinen Augen von sich gab, ignorierte Lissi wie immer.
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„Ooooh, da bist du ja, meine kleine Süße Maus!“, quietsche Gisela selig lächelnd und rieb mit ihren Händen wild über den Kopf der schwarzen Katze. „Du Süße, du! Süße Maus!“
„Katze“, verbesserte Stefan sie. „Und ich hoffe inständig, wir kriegen nie Kinder.“
Gisela beruhigte sich schnell wieder, nun, da die Visionen einer toten Lissi nicht zur Wahrheit geworden waren. Stattdessen giftete sie kurz ihren Freund an (der seinerseits plötzlich nur schrille Laute hörte, die er weitestgehend ignorierte), zog sich hastig aus, stapfte kurzerhand ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und schmiss sich aufs Sofa.
Der Abend war nicht schön gewesen. Sie waren bei Freunden eingeladen gewesen, ein typischer Pärchenabend inklusive verbranntem Ofenkäse, den keiner außer der Leute in der Fernsehwerbung mochte, und eheerschütternden Streitigkeiten von befreundeten Pärchen, die in Zukunft vermutlich nur noch halbiert auftreten würden. Gut, dass Stefan und sie über solchen banalen Dingen standen, so ganz ohne Fußball- oder Schuhliebe.
„Wo zur Hölle ist schon wieder die Fernbedienung!“, unterbrach Gisela ihren eigenen, banalen Gedankenfluss.
„Da wo du sie zuletzt hingelegt hast!“, tönte es aus dem Bad.
„Sehr witzig.“
Zuletzt hatte sie Gisela natürlich auf den Tisch gelegt, den Platz, den man vom Sofa aus mit den Armen am bequemsten erreichte. Sie musste nicht mehr als einmal hinschauen, um zu wissen, dass sie nicht dort war.
„Wir wurden bestohlen!“, rief sie zurück ins Bad.
Trotz dieser Vermutung erhob sie sich widerwillig vom Sofa und suchte dessen Ritzen und die des Sessels nach dem langen, schwarzen Stück Plastik ab. Doch weder dort noch zwischen den zahlreichen Topfpflanzen auf dem Fenstersims hatte es sich versteckt. Gisela wirbelte herum. „Na toll, wo kann die verdam–“
*
Lissi verharrte in unbequemer Position auf dem Wohnzimmertisch. Zwischen ihren Vorderpfoten hielt sie noch immer das, was Frauchen und ihr Mann „Fernbedienung“ nannten. Noch ehe sie Frauchens verwirrten Blick sah, wusste sie, dass sie sich ihrem viel zu intelligentem Verhalten und dem berechnenden Blick verraten hatte.
„So eine Scheiße“, flüsterte die Katze, ließ die Fernbedienung auf die Tischplatte fallen und ließ mit einer kurzen Pfotenbewegung den Mann im gefliesten Nebenzimmer plötzlichen Durchfall erleiden, damit er nicht dazwischen funken konnte.
„Puh… nur keine Panik.“ Lissi setzte sich gesittet hin und rieb sich kurz die Nase. „Gut, Frauchen“, schnaufte sie schließlich. „Du hast mich erwischt. Ich bin intelligent genug, die Fernbedienung gezielt an einen Ort zu tragen. Was wirst du nun tun?“
Die Antwort war ein Kreischen (und ein lautes, nicht sehr wohliges Stöhnen, gefolgt von einem Fladdergeräusch aus dem Bad). Lissi legte ihre Ohren an, blieb aber ruhig, so wie es ihr von König Samir aufgetragen worden war. An den wollte sie im Übrigen in diesem Moment lieber nicht denken, er wurde immer recht ungehalten, wenn Katzen mit ihren Aufträge nicht verantwortungsvoll genug umgingen – vor allem nicht, wenn diese Aufträge auch noch Fernbedienungen enthielten.
„Ich dachte mir, dass dies deine Reaktion sein würde“, sagte sie schließlich und nickte verständnisvoll. „Du hast Glück, dass du mein Frauchen bist. Jemand anderen hätte ich mit einem vermutlich schmerzhaften Fluch belegen müssen, der mit einem qualvollen Tod geendet hätte.“
Frauchen Gisela brachte noch sinnloseres Gefasel heraus als sonst: „Du – Lissi – Katze – haww – hawwwahawww – haaaa – reden – ich –“
Lissi verdrehte die Augen, hüpfte elegant vom Tisch und lief offen und freundlich auf ihr Frauchen zu. Am Klügsten wäre es, so zu tun, als wäre nichts passiert; einfach weiterhin die liebende Katze zu spielen. Deshalb schmiegte sie ihr Köpfchen an Giselas Knie.
„Keine Angst“, schnurrte Lissi. „Du wirst nicht verrückt. Ich werde jetzt zwinkern, um dich zu besänftigen.“
Lissi zwinkerte.
„Wieso machst du das?“, hauchte Gisela, offenbar zutiefst erschüttert. „Was soll das, was hat es damit auf sich? Was sollte das mit der Fernbedienung? Wieso kannst du reden? Liebst du mich genauso, wie ich dich? Ich habe Angst!“
In einer betont liebevollen Geste legte die Katze der Menschenfrau ihre Pfote auf die Lippen und lächelte be... – nun ja, versuchte, zumindest beschwichtigend auszusehen. Den Dreh mit dem Lächeln hatte sie immer noch nicht so ganz raus. „Du wirst mir folgen müssen, Frauchen. Das Geheimnis, das ich dir nun offenbaren werde, kennen nur wenige Menschen. Du wirst einer von ihnen sein. Eine Auserwählte.“ Lissi lächelte (wenigstens im Geiste); sie wusste, dass die Auserwählten-Nummer immer zog.
Und wie sie zog.
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„Auserwählt? Ich?“
Gisela stand wie in Trance auf und folgte mit seltsam tauben Beinen ihrer Katze, während der Fernseher hinter ihr nackte, in die Kamera gerichtete Ärsche mit entsprechendem Ton zeigte.
„Lissi…“, brachte sie hervor, verstummte jedoch bei dem leisen Zischen, das ihre Katze von sich gab.
Gemeinsam erreichten sie das Schlafzimmer. Lissi huschte zum Schreibtisch und sah sich demonstrativ nach ihrem Frauchen um. „Komm bitte näher“, sagte sie mit ihrer hohen, leicht krächzenden Stimme. „Und habe keine Angst, das mögen meine Leute gar nicht gern.“
„Jetzt habe ich“, sagte Gisela. Die zweite Hälfte des Satzes („noch mehr Angst“) verschwand irgendwo zwischen ihren Stimmbändern und dem Mund. Und doch folgte sie den Anweisungen der Katze und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen.
„Gut“, sagte Lissi nickend, machte eine komplizierte Bewegung mit ihren Pfoten und ließ ein lang gezogenes Miauen hören. Wenige Momente später, die jeweils nicht länger als ein Augenzwinkern waren, erschien aus dem Nichts ein–
„.Portal?“ Gisela zog die Augenbrauen hoch. „Oder was soll das jetzt sein?“
„Nun hast du die unheimlich spannende Spannung zerstört, tolle Wurst.“
Das violette Licht des Portals, wie Gisela so weise festgestellt hatte, tanzte in dem Versuch, eine gewisse Stimmung zu erzeugen, an den Wänden Ringelreihen und dann und wann Walzer.
„Katzen sollen keine Wurst essen.“
Lissi starrte gekonnt. „Richtig. Habe ich einmal gemacht, nie wieder, mein Stuhlgang die Tage danach war wirklich scheußlich… Wie dem auch sei, fass an meinen Schwanz – vorsichtig! – und folge mir.“
Gisela zögerte die vorgeschriebenen, dramatischen Sekunden lang; packte dann energisch, aber dennoch vorsichtig, zu und ließ sich von ihrer Katze kriechend durch das Tor führen.
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Sie erreichten einen überraschend unspektakulären Raum mit dunkelblauem Teppichboden und zerkratzten, weißen Tapeten auf den Wänden.
„Willkommen im Land der angelehnten Türen, Frauchen“, sagte Lissi freundlich. „Jetzt kannst du dich wieder aufrichten. Und meinen Schwanz loslassen.“
Die Menschenfrau gehorchte angenehm brav und schnell und blickte sich daraufhin neugierig im Raum um. Ihr Blick wanderte mit mildem Interesse von den vereinzelten Papierschnipseln am Boden zum halb offenen Karton in der Ecke.
„Du musst wissen, die Türen hier sind immer angelehnt… Aber du wirst selbst sehen.“
Lissi steuerte auf die erste angelehnte Tür zu; sie hatte keine Klinke. Frauchen brauchte diesmal keine Aufforderung, um ihr zu folgen. Ihre Neugierde – eine äußerst interessante Angewohnheit der Menschen, wie Lissi fand – war inzwischen vermutlich zu groß. Kurz überlegte die Katze, ob sie Lissi eine knappe Anweisung geben sollte, wie sich in Anwesenheit von Samir zu verhalten hatte, dann fiel ihr jedoch wieder ein, dass sie bloß ein Menschenweibchen war und so beim König wahrscheinlich einen Niedlichkeitsbonus haben würde.
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Ein überraschend großer, prunkvoller Raum verbarg sich hinter der Tür. Giselas Blick fiel sofort auf eine erstaunlich große, dicke Katze, die breitbeinig und flauschgesichtig in einem thronartigen Katzenkörbchen saß, eine Krone aus Leckerlistangen auf dem Kopf. So achtete sie nicht auf die anderen Katzen im Raum; bei Giselas Anblick begannen sie zu fauchen und ihr Fell aufzuplustern.
Lissi war unbemerkt auf den Katzenkönig zugelaufen und flüsterte angeregt mit ihm. Sein Gesichtsausdruck wechselte sprunghaft zwischen verärgert und vage interessiert hin und her.
Gisela hatte immer noch ein wenig Angst.
„Mensch!“, brüllte der dicke Kater nach ein paar Minuten. „Komm her und verneige dich vor mir!“
Sie zuckte zusammen, rannte dann auf den König zu, stolperte beinahe, und verneigte sich so hastig, dass ihr Rücken knackte.
„Sehr schön“, lobte der Katzenkönig. „Und jetzt –“ Er raschelte mit einer Leckerliverpackung. „Spiel hiermit!“ Mit diesen Worten zerknüllte er die Verpackung zusammen und warf sie Gisela an den Kopf. Der Papierball prallte von ihrer Stirn ab.
„Ich will aber nicht.“ Doch als sie in den Augen des Königs das venichtenste Starren erblickte, dass sie je an einer Katze sah, setzte sie sich rasch auf den Boden, nahm das Papier in die Hand und warf es ein paar Mal in die Luft.
„Ahahaha, sehr schön, sehr schön! Du hast König Samir zufrieden gestellt. Und nun hast du die Erlaubnis, still zu sein und zuzuhören, Menschenweibchen.“
Gisela warf ihrer kleinen Lissi einen kurzen Blick zu. Sie nickte zustimmend.
Mit einem leisen Knistern fiel die zerknüllte Packung zu Boden; Gisela blieb sitzen und hörte König Samir zu.
„Du hast Glück, dass Lissi deine Halterin ist. Lissi war mir vor einiger Zeit sehr behilflich, als es um einen großen Haarbürsten- und Zopfgummi-Transfer aus eurer – recht banalen – Menschenwelt ging, daher werde ich Gnade walten lassen.“ Er hustete kurz ein paar Haare aus, woraufhin seine Stimme lauter und förmlicher klang, als er weiter sprach: „Sicherlich hast du dich schon oft gefragt, kleines Menschchen, weshalb ausgerechnet Fernbedienungen, Socken, Haarbänder und gelegentlich auch Schlüssel und Taschentücherpackungen spurlos „verschwinden“, nur um wenig später an einem Ort aufzutauchen, an dem du schon die ganze Zeit gesucht hast.“
Samir machte eine Pause. Gisela wusste nicht, ob sie dazu verpflichtet war zu antworten, weshalb sie bloß unverbindlich mit dem Kopf ruckte. Das konnte der König dann auslegen, wie er wollte – hoffentlich zu ihren Gunsten.
„Süß, echt süß“, flüsterte er, räusperte sich dann. „Nun, mein Menschilein, du hast jetzt zwei Möglichkeiten.“ Er kramte in seinen Hosentaschen (ja, er trug tatsächlich eine Hose. Die sah allerdings genauso aus wie sein Beinfell, weshalb es Gisela bisher noch nicht aufgefallen war. Er trug ebenfalls Socken, ein T-Shirt und einen Hut in Katzenohrenform. Er haarte eben sehr viel, und das alles wegzuwerfen wäre ja Haarverschwendung, oder?) und zog schließlich zwei klebrig aussehende Bonbons heraus und hielt sie dramatisch in die Höhe. Die Katzen im Raum wedelten mit ihren Schwänzen; ein leiser, unangenehmer Laut. „Wählst du das rote Bonbon, wirst du in all unsere Katzengeheimnisse eingeweiht – inklusive, weshalb unsereins gerne an Plastik knabbert und Geschenkkringelband liebt. Wählst du allerdings das blaue Bonbon, wirst du für immer vergessen, dass es eine Katzenwelt im Untergrund gibt, in der wir heimlich die Weltherr- äh, ähm, die Senkung von Katzenstreupreisen planen… äh, kurzum: du gehst nach Hause zurück, als ob nie etwas Komisches gewesen wäre.
Aber bedenke: Nimmst du das rote Bonbon, darfst du nie wieder nach Hause zurückkehren. Du wirst stattdessen in den zahlreichen kleinen Menschenkolonien in dieser Welt leben müssen.“
Gisela starrte Samir an. Viele Gedanken schwirrten plötzlich durch ihren Kopf. Sie dachte an all die Helden aus Filmen und Büchern; an Harry Potter und an Frodo Beutlin und an Luke Skywalker. Nun dachte sie an Luke Skywalkers doofe Frisur und entschied sich, es bei Harry Potter und Frodo Beutlin zu belassen. Wobei deren Frisuren nicht viel besser waren.
Sie könnte etwas Besonderes sein, eine „Auserwählte“! Sie malte sich aus, wie sie mit den menschlichen Kolonisten – die es mit Sicherheit gab, ganz bestimmt! – Pläne schmieden und schließlich die Katzenverschwörung von innen heraus untergraben würde.
„Nun, Wie lautet deine Entscheidung?“
Gisela setzte sich wieder aufrecht hin. „Ähm. Was haben die Bonbons denn für Geschmacksrichtungen?“
Samir beugte sich kurz zu Lissi hinunter. „Rot ist Himbeer, blau ist ein seltsamer künstlicher Kaugummigeschmack. Vermutlich Brombeer.“
„Ok, dann nehme ich das blaue Bonbon, ich hasse Himbeer!“
*
Und so hatte die Welt einen auserwählten Helden weniger.
Gut so, denn davon gibt es ja ohnehin viel zu viele.