Kinderpornografie: Täter verfolgen statt Seiten sperren
http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/16/0,3672,7558608,00.html (Archiv-Version vom 12.11.2011)



Niemand käme auf die Idee, dass das renommierte World Wide Web Consortium (W3C) auch nur im Entferntesten etwas mit Kinderpornografie zu tun hätte. Das W3C wurde 1995 von Sir Tim Berners-Lee, dem Erfinder des WWW, gegründet und soll technische Webstandards entwickeln. Dennoch musste die W3C-Webseite Ende September letzten Jahres von finnischen Internetprovidern gesperrt werden - wegen angeblicher Verbreitung von Kinderpornografie.

W3C-Sperrung kein Ausnahmefall

Die finnischen Polizeibehörden hatten die Adresse des W3C offenbar irrtümlich auf ihre Sperrliste mit kinderpornografischen Webseiten gesetzt. Diese Liste wird regelmäßig aktualisiert und an die finnischen Internetprovider weitergeleitet. Die Provider sind verpflichtet, die gelisteten Adressen für den Zugriff durch ihre Kunden zu sperren. Wie die Webadresse des W3C auf diese Liste geriet, blieb ungeklärt.


Eine peinliche Panne und ein absoluter Ausnahmefall? Keineswegs, sagt Lutz Donnerhacke vom Jenaer Internetdienstleister IKS und Leiter der Arbeitsgruppe "DNS Security" bei der Internet-Verwaltungsbehörde ICANN im Gespräch mit heute.de. "Die Erfahrungen in anderen Ländern belegen, dass weniger als ein Prozent der gesperrten Webseiten tatsächlich auch Darstellungen von Kindesmissbrauch enthalten."


Donnerhacke geht noch einen Schritt weiter in seiner Kritik an den von der Bundesregierung geplanten Internetsperren. Es gebe im Web keinen Massenmarkt für Kinderpornografie und keinen kommerziellen Vertrieb mit Millionenumsätzen, behauptet der Internetaktivist. Kinderpornos würden hauptsächlich im Geheimen und über andere Dienste als das World Wide Web verbreitet - über Tauschbörsen etwa oder über geschlossene Nutzergruppen.

Kinderporno-Server auch in Deutschland

"Die Erzeuger harter Kinderpornografie beliefern ihre zahlenden Kunden in der Regel über den Postweg", zitiert die IT-Fachzeitschrift c't einen auf die Verfolgung von Kinderpornografie spezialisierten Ermittler des LKA Niedersachsen. Das Internet diene zwar zur Kommunikation etwa per E-Mail, nicht aber zum Transport der "Ware". Für den kommerziellen Handel über Webserver fielen dem namentlich nicht genannten Ermittler aus seiner langjährigen Berufspraxis laut c't gerade einmal zwei Beispiele ein.


Der Grund liegt auf der Hand, sagt Alvar Freude vom Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG). Der Betrieb eines sperrbaren Webservers sei für die Anbieter von Kinderpornos viel zu gefährlich. Ein solcher Server könne nämlich mit einfachen Mitteln jederzeit schnell aufgespürt und abgeschaltet werden - zumal viele dieser Server eben nicht wie oft behauptet unerreichbar irgendwo im Ausland, sondern hauptsächlich in den USA, Kanada, Australien und Europa einschließlich Deutschland beheimatet seien.


Freude und andere Internetaktivisten berufen sich dabei auf bekannt gewordene Sperrlisten "aus Skandinavien und anderen Ländern". Man habe anhand dieser Listen die Standorte der gesperrten Webserver ermittelt. Sie befanden sich fast ausnahmslos in Ländern, in denen Kinderpornografie wie in der Bundesrepublik verboten sei. "Sollte über diese Webseiten tatsächlich illegale Kinderpornografie verbreitet werden, wäre es also ein Leichtes, die Server selbst vom Internet zu trennen bzw. zu beschlagnahmen und die Anbieter strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen", sagt der FITUG.

Kaum Kinderpornos auf den Sperrlisten

Warum werden deutsche Behörden dann nicht aktiv? Auch darauf kann Freude eine Antwort geben: "Eine inhaltliche Analyse der in Finnland verwendeten Filterliste zeigt, dass unter den rund 1000 analysierten Seiten kaum kinderpornographisches Material zu finden ist." Nur neun Webseiten, also weniger als ein Prozent, hätten Kinderpornografie enthalten. Beim Rest habe es sich unter anderem um erlaubte Pornografie und um "Darstellungen aus der Grauzone mit Teen-Bildern und Inzest-Comics" gehandelt.


Wie einfach es sein kann, Kinderpornos aus dem Netz zu tilgen, bewies Anfang März die Kinderschutzorganisation CareChild. Sie suchte sich aus einer im Internet aufgetauchten dänischen Sperrliste zwanzig Webadressen aus den USA, den Niederlanden, Südkorea, Portugal und England heraus, ermittelte die Provider und schrieb sie per E-Mail mit der Bitte an, die fraglichen Inhalte zu entfernen. Die Provider reagierten zügig. Bereits nach einem Tag waren sechzehn Webseiten abgeschaltet.

"Nutzlose Symbolpolitik"

Dieses Ergebnis sei "beschämend" für die deutsche Politik, sagt CareChild. Dass Webseiten mit illegalen Inhalten "so leicht und mit derart geringem Aufwand aus dem Netz zu fegen sind, sollte nachdenklich stimmen." Denn schon eine "Handvoll Polizeibeamter" reiche aus, "um die dänische Sperrliste mit ihren 3500 Einträgen innerhalb nur eines Monats um die Hälfte schrumpfen zu lassen", rechnet die Kinderschutzorganisation vor.


"Die Misshandlung von Kindern vollzieht sich vorrangig im familiären Umfeld", sagt Lutz Donnerhacke. "Statt die Täter durch Wegschauen zu schützen, müssen Taten verhindert werden." Doch den Familien, den Präventionsprogrammen und den Strafverfolgungsbehörden fehle das dafür nötige Geld. Das aber werde nun für eine "nutzlose Symbolpolitik zum Fernster hinaus geworfen", so das vernichtende Urteil des Internetaktivisten über die geplanten Zugriffssperren für kinderpornografische Webseiten.