Dinosaurier der Tiefsee
In 1000 Meter Tiefe, im so genannten Abyssal, verbirgtsich eines der letzten Rätsel des Tierreichs: der Riesenkalmar. Kein Forscher hat je dasvermeintliche Seeungeheuer lebend zu Gesicht bekommen, um das Kryptozoologen eifrigLegenden ranken.
Sanft schaukelt das Boot der beiden Fischer Theo Piccot undDaniel Squires auf den Wellen vor der Küste Neufundlands. Die Netze sind eingeholt.Fangfrischer Kabeljau zappelt in großen Wannen. Plötzlich entdecken die Männer etwas imWasser, das wie Treibgut aussieht. Sie rudern darauf zu. Squires schlägt einen eisernenHaken in das vermeintliche Wrackteil, um es näher heranzuziehen. In derselben Sekundeerzittert das Boot unter einem gewaltigen, dumpfen Schlag. Armdicke Fangarme schnellenaus dem Wasser und schlingen sich um den Bug. Mit einer Kühnheit, die weit über seinAlter hinausgeht, greift der zwölfjährige Sohn von Theo Piccot nach einem Beil. Erschlägt mehrmals zu – und betrachtet mit einer Mischung aus Ekel und Faszination, wiesich ein abgetrennter Tentakel auf dem Deck windet. Gischt schäumt auf, als dasmysteriöse Ungeheuer in die Tiefen des Atlantiks zurücksinkt. Man schreibt das Jahr1873.
Die geschockten Fischer bringen den sechs Meter langen Fangarm zu ReverendMoses Harvey, einem Hobby-Naturforscher in dem kleinen Ort St. John. „Ich war vonEhrfurcht ergriffen“, schreibt der Pfarrer später an eine Zoologie-Zeitschrift: „Ich warnun Besitzer einer der seltensten Kuriositäten des gesamten Tierreiches – eines echtenTentakels des geheimnisvollen Riesenkraken, dessen Existenz die Zoologie jahrhundertelangin Zweifel zog.“ Erst wenige Jahre zuvor, 1857, war der Riesenkalmar erstmals von demDänen Japetus Steenstrup als Architeuthis monachus (heute: dux) anhand eines bei Aalbækangeschwemmten Exemplars beschrieben worden.
2001: Der amerikanische Zoologe undKalmar-Experte Clyde Roper steht an der Küste Neuseelands und deutet aufs offene Meerhinaus. „Nur zwei Kilometer weiter, im tiefen Wasser, leben diese Tiere. Aber genauso gutkönnten sie Aliens auf dem Mond sein.“ Mehr als 100 Jahre sind vergangen, seit einvermeintlich mythisches Geschöpf zu einer ganz normalen biologischen Gattung wurde.Anatzweise jedenfalls. Denn auch auf der Erde gibt es einen Ort, der fast wie der Mondunzugänglich kalt und finster ist. Einen pechschwarzen Abgrund, in dem fremdartigeLichter bizarrer Wesen wie Sternbilder aufblitzen. Eine Welt, die 62% der Erdoberflächeeinnimmt und dennoch schwieriger zu erforschen ist als das All: das Abyssal, die Welt derTiefsee. Schon ab 800 Meter herrscht totale Finsternis. Und hier verbirgt sich eines derletzten großen Rätsel der Meere: ein geheimnisvoller Riese, den wir Menschen so gut wienie lebend zu Gesicht bekommen. „Wahrscheinlich wissen wir mehr über Dinosaurier als überden Riesenkalmar“, bedauert Clyde Roper. Seit Jahrzehnten fahndet der Wissenschaftlernach dem größten wirbellosen Raubtier der Erde. Im Frühjahr 1999 kam Roper von seinerdritten großen Expedition ins Reich der ewigen Nacht zurück. Mit dem Forschungsschiff desNational Institute of Water and Atmospheric Research, „Kaharoa“ und dem Einmann-U-Boot„Deep Rover“ stöberte er zwei Monate lang vor der neuseeländischen Küste. Doch die Suchewar vergeblich. „Der Riesenkalmar bleibt ein flüchtiges, wenn auch reales Geheimnis derTiefe“, trug er am letzten Tag ins Logbuch ein.
Wir wissen weder genau, wie langesie leben, noch wie groß sie werden, wie schnell sie schwimmen oder wie sie mitArtgenossen kommunizieren. Viele Daten müssen aus der Anatomie und dem Verhaltenkleinerer Arten abgeleitet werden. Doch selbst der fantasiebegabte Jules Verneunterschätzte dabei das Wesen mit dem wissenschaftlichen Namen Architeuthis beträchtlich:„Es war ein Riesenkrake von gewaltigen Ausmaßen, an die acht Meter lang. Seine riesigenblaugrünen Augen starrten uns an“, lässt der französische Schriftsteller in „20000 Meilenunter dem Meer“ ein solches Tiefsee-Monster auf das Unterseeboot „Nautilus“ los. InWirklichkeit können Kalmare „eine Maximallänge von 45 Meter erreichen“, vermutetFrederick A. Aldrich vom Meereswissenschaftlichen Laboratorium der Memorial-Universitätin Neufundland. Das bislang größte Tier fand man 1880 tot am Strand der Bay of Islandsvor Neuseeland. Es maß knapp 17 Meter und wog eine Tonne. Etwa 200 angeschwemmte Kadaver,einige von Fischern gefangene und durch die Netze übel zugerichtete, alte und dadurchträge Exemplare sowie ein paar Riesenkalmar-Schnäbel aus Pottwal-Mägen – das sind diewenigen Fragmente des verwirrenden Puzzles namens Architeuthis. Und ein paarZufallsbegegnungen.
J. D. Starky war ein Schleppnetzfischer, der zu Beginn desvorigen Jahrhunderts den Indischen Ozean befuhr. Eines Nachts starrte er gedankenverlorenins dunkle Wasser, als ein kreisrundes Licht vor ihm erglühte. „Plötzlich wurde mir klar,dass ich aus kürzester Entfernung einem riesigen Kalmar ins Auge sah. Ich bin nichtleicht zu erschrecken, aber dieses kalte, böse und unerschrockene Auge war direkt aufmich gerichtet. Ich habe weder zuvor noch danach jemals etwas so Hypnotisches oderIntelligentes gesehen.“
Eine Viertelstunde lang fixieren sich die beidenungleichen Meeresbewohner. Dann scheint sich der Kalmar aufzublähen, und ohne sichtbareAnstrengung schnellt er zurück in die Nacht. Leicht zu verstehen, dass Architeuthismonstergläubigen Kryptozoologen wie „die Quintessenz eines Seeungeheuers“ erscheint, das„wahrscheinlich für mehr Mythen, Fabeln, Phantasien und Fiktionen verantwortlich ist alsalle anderen Meeresungeheuer zusammen“, behauptet etwa der US-Autor Richard Ellis. Dochdafür gibt es keine ausreichenden Belege. Der französische Mythen-Forscher Michel Meurgerhat zum Beispiel nachgewiesen, dass die vielen skandinavischen Kraken-Sagen eindeutignicht von einem gigantischen Tintenfisch inspiriert worden sind, sondern von insriesenhafte phantasierten Hummern oder Krabben – proteische Monster, groß wie eine Inselund gedacht als eine bizarre Mischung aus Wal, Sandbank, Vulkan undLuftspiegelung.
Ähnlich falsch liegen Ellis und die Zunft der Kryptozoologen, wennsie den zerbrechlichen Riemenfisch (Regalecus glesne) als „die Ursache für dramatischeSeeschlangengeschichten“ ins Feld führen. Denn dieser treibt passiv senkrecht im Meer undstreckt keineswegs seinen Kopf aus dem Wasser, weil er dann nämlich nicht mehr atmenkönnte. Auch das gefräßige Monster Skylla in Homers „Odyssee“ („Siehe, das Ungeheuer hatzwölf abscheuliche Klauen, und sechs Häls’ unglaublicher Läng’ …) bezieht sich eher aufFabelwesen aus dem Reich der Fantasie.
Im Herbst 1998 überraschte das Magazin mareseine Leser mit einer Sensation. 480 Meter unter dem Meeresspiegel erhaschen zweiReporter des Blattes an Bord eines Tauchbootes zufällig „einen Blick ins Auge desArchiteuthis: Scheinwerferreflexe tanzen in der pechschwarzen Iris. Der knochenloseLeviathan der Tiefsee beäugt uns. Jeder weiß es für sich: Der Riesenkrake dort draußenmuss an die 20 Meter lang sein. Keiner spricht es aus. Fast unerträglich ist diesesforschende Linsenauge, als sauge eine unbekannte Intelligenz das Kabineninnereleer.“
Einen Haken hatte die Reportage indes: Sie war frei erfunden. Fakt ist,dass Meeresforscher wie Jean-Michel Cousteau und Clyde Roper auch in diesem Jahr weitereinen solchen historischen Blickwechsel anstreben. Zweimal schon brachte Roper perSaugnapf eine Unterwasserkamera an einem Pottwal an. Die mächtigen Zahnwale sind dieeinzigen Fressfeinde des Riesenkalmars. Fast jeder Pottwal, den Walfänger erlegen,erbricht im Todeskampf riesige, mit Saugnäpfen bewehrte Tentakel. Das Husarenstück gelangjedoch in beiden Fällen nur unvollständig. Als die Kamera einige Zeit später wieder ander Wasseroberfläche auftauchte, entwickelten die Wissenschaftler Aufnahmen, die jedenWalforscher in helles Entzücken versetzen. Nur für die Architeuthis-Fans war nichts zusehen. Beim zweiten Durchgang nahm das Gerät in 700 Meter Tiefe immerhin den Kampfzwischen einem Pfeilkalmar und einem Hai auf. Die Tiere waren beide nur einen halbenMeter groß. Ihr Duell ließ aber zumindest erahnen, wie ein Scharmützel zwischen einem20-Meter-Pottwal und einem Riesenkalmar ablaufen könnte.
„Eines Tages“, ist Ropersicher, „wird sich jemand Auge in Auge mit einem Riesenkalmar wiederfinden“. Bis dahinhält Architeuthis in 1000 Meter Tiefe Ausschau und wartet. Er schnappt seine Opfer in derewigen Dunkelheit und bewegt sich lautlos zum nächsten Mahl. Zwei der zehn Fangarme sindverlängert und am Ende mit einer Keule versehen. Wie dicke Gummiseile schnellen sie derBeute entgegen, um sie wie mit einer Kneifzange zu packen und zu dem papageienartigenSchnabel zu führen. Stück für Stück zerlegt der hoch spezialisierte Räuber die Fische undschiebt sie mit zahnbewehrter Raspelzunge den Schlund hinunter. Beobachten können wir ihndabei nicht. Die tellergroßen Augen sehen so scharf, dass er alles in seiner Umgebungüberprüfen, jedem Netz und jedem Tauchboot ausweichen kann. Eine Aufnahme von diesemRiesen, sinniert der amerikanische Autor und Fachmann für Meerestiere Richard Ellis,„bleibt das letzte noch ungeschossene Bild“.
Bernd Harder
Ich findedie "Tiere" alle wunderschön, ekelig finde ich das sie oft unnötig getötet werden nur umsie auszustellen.....die Bilder mit den toten ,bizarren Kreaturen machen mich einfach nurtraurig.
Ich denke viele wissen gar nicht zu schätzen, was es für wundervolle Wesenauf der Welt gibt. Auf der Erde haben sie ja schon fast alles BESONDERE ausgerottet, dieWeltmeere auch...und jetzt ist eben die Tiefsee dran...
@datrueffel ich liebedeine Bilder "LEBENDER OBJEKTE" ! Grandios