Befreiungstheologie
19.09.2006 um 11:02
Der leise Absolutist
Wer bestimmt den Kurs des Vatikans? Joseph RatzingersStimme hat Gewicht – dem strengen Kardinal gilt die Institution Kirche mehr als diePerson des Papstes
Von Jan Ross
Seitdem es den sowjetischen Kreml unddie »Kreml-Astrologie« nicht mehr gibt, ist der Vatikan das letzte fantasieanregendeMachtzentrum, das letzte große Geheimnis der Weltpolitik. Der Papst ist krank – werregiert die Kirche? Wenn der Papst stirbt oder zurücktritt – wer wird sein Nachfolger,wer zieht bei der Wahl die Fäden? Die Deutschen denken bei allen Vatikan-Rätseln an einenLandsmann, der für sie zum Inbegriff des Römischen geworden ist, im ungeliebten Sinne vonHierarchie und Marmorkühle und Traditionalismus: Joseph Kardinal Ratzinger, der »Präfektder Kongregation für die Glaubenslehre«, der ebenso brillante wie konservativeCheftheologe Johannes Pauls II. Von ihm und seinem vermeintlichen Einfluss ist dieÖffentlichkeit geradezu obsessiv fasziniert: Wird Ratzinger Mittel und Wege finden,Reform und Fortschritt in der Kirche auch für die Zukunft zu blockieren, womöglich als»Königsmacher«, indem er einen Vertrauensmann auf den Stuhl Petri hebt?
DieVorsteher der wichtigsten Behörden des Vatikans, der päpstlichen Ministeriengewissermaßen, sind potenzielle Meinungsführer und Mehrheitsbeschaffer im Konklave, derKardinalsversammlung, die den Papst bestimmt. Wer in Rom die Glaubenslehre oder dieBischofsernennungen verwaltet, kennt seine Mit-Kardinäle in aller Welt, die untereinanderwenig Kontakt haben, er kann Fraktionen organisieren und mit seinem Ansehen fürKandidaten bürgen. Nur passt das alles zu Ratzinger überhaupt nicht. Entgegen derschwarzen Legende vom Großinquisitor, der mit eiserner Faust die Orthodoxie in der Kirchedurchsetzt, ist er kein Machtmensch und Politiker, sondern ein leiser Gelehrtentyp, inmancher Hinsicht bis heute ein typischer deutscher Professor, so, wie es sie einmal gab.
»1968« hat er im Hörsaal erlebt, mit geradezu apokalyptischem Entsetzen vor derKulturrevolution. »Ich habe das grausame Antlitz dieser atheistischen Frömmigkeitunverhüllt gesehen«, hat er später geschrieben, »den Psycho-Terror, dieHemmungslosigkeit, mit der man jede moralische Überlegung als bürgerlichen Restpreisgeben konnte, wo es um das ideologische Ziel ging.« Ein amerikanischer Kritiker hatihn einen Neokonservativen genannt, nicht im Sinne der heutigen außenpolitischen Falken,sondern wie die Ur-Neocons der Reagan-Ära, die von der Linken gekommen waren und sichernüchtert von gescheiterten Utopien zu Markt, Militär und Moral bekehrten.
Ratzinger ist nie ein »Linker« gewesen, auch nicht als Berater während des ZweitenVatikanischen Konzils (1962 bis 1965), das heute den enttäuschten Reformern als goldeneZeit des kirchlichen Aufbruchs gilt. Aber »neo« ist sein Konservativismus, weil er nichtnaiv, sondern reflektiert ist, eine skeptische Reaktion auf den Vernunft-Optimismus dersechziger und frühen siebziger Jahre. Haben wir es wirklich so herrlich weit gebracht mitdem Fortschritt – mit der Entzauberung der Liturgie, mit einer Idee von Demokratie in derKirche, die nur eine neue Gremienbürokratie von Laienaktivisten beschäftigt, mit einerVerwässerung des Glaubens, die ihn weniger drückend machen sollte, aber auch langweiligerund banaler gemacht hat? Als Ratzinger 1981 in sein Amt berufen wurde, ging dassozialdemokratische Zeitalter zu Ende; es waren die Jahre, da Thatcher, Reagan, Kohl andie Regierung kamen. Ratzinger hat, wie sie, den Sozialismus bekämpft – dieBefreiungstheologie, die in Lateinamerika Revolution predigte. Der Wind von Rom her wurdekühl für die Herz-Jesu-Marxisten, der Vatikan ernannte konservativere Bischöfe undKardinäle – als einer der geistigen Personalchefs, die den heutigen oberstenFührungszirkel der Kirche geprägt haben, wird Ratzinger bei der nächsten Papstwahltatsächlich seine Hand im Spiel haben.
Dem intellektuellen Theologen bleibt fürdie Studierstube kaum Muße
Wahrscheinlich ist es keine Koketterie, wenn er seinPräfekten-Amt als Last beschreibt. Er würde lieber Bücher schreiben, aber Johannes PaulII. lässt ihn nicht gehen, er will im Alter seinen alten Weggefährten behalten, bis zumEnde. Die Lehre der katholischen Kirche zu hüten und zu formulieren, in Gutachten überdie Rechtgläubigkeit von Professoren oder in einer für eine kleine Ewigkeit gedachtenSumme wie dem großen Katechismus von 1992 – das ist ein objektivierendes,entpersönlichendes Geschäft. Der Theologe Ratzinger hat nicht nur auf die Muße seinerStudierstube, er hat auch auf die Vollendung seines Lebenswerks verzichten müssen, indemer zur Instanz geworden ist. Erst recht ist so verborgen geblieben, dass die FigurRatzinger auch in ganz andere Rahmen als Theologie oder Kirche zu stellen wäre: Wenn mansich den Purpur wegdenkt, steht er in einer Reihe mit seinen Altersgenossen Habermas,Dahrendorf oder Enzensberger als einer der wenigen international beachtlichenIntellektuellen der Bundesrepublik.
Ratzinger, dieser Exponent des »Oben« inder Kirche, ist gerade kein Verfechter eines Thron-und-Altar-Christentums; er findet imGegenteil, dass die staatsnahe Wohlgenährtheit dem deutschen Katholizismus seinen Schneidabgekauft hat. Die Glaubensstrenge des Kardinals ist in der säkularisierten Gesellschaftnur als Minderheitenprogramm vorstellbar, in einer Art Rückkehr zur Radikalität derUrkirche: im vollen Ornat in die Katakombe. Die Unangepasstheit macht den Charme undintellektuellen Reiz seines Denkens aus. Aber es ist kein so vitaler Nonkonformismus wiebei Johannes Paul II., etwas Kulturpessimistisches und Ängstliches liegt über RatzingersWeltsicht, und wenn er den Zeitgeist in Gestalt eines unbotmäßigen Theologen vor sichhat, ist er einer enttäuschenden glaubenspolizeilichen Enge fähig.
Das populäreBild vom Papst und seinem Präfekten ist entweder das einer konservativen Einheitsfront –oder Ratzinger gilt als der Scharfmacher. Aber die Dynamik zwischen den beiden istkomplexer und interessanter. Sie könnten verschiedener kaum sein: Wojtyla von Hause ausein bildhaft spekulativer Philosoph, Ratzinger ein wasserklarer und messerscharferTheologe, der Papst In-stinktmensch und Kraftnatur, der Kardinal ein Kopf par excellence,Johannes Paul II. von farbiger Individualität, bis hart an den Rand des Subjektivismus,der Präfekt ein Mann der Form und Ordnung. Wo der Papst zum Impulsiv-Größzügigen neigt,wie im Gespräch der Weltreligionen, da zieht Ratzinger Grenzen: keine Abstriche bei derWahrheitsfrage, Toleranz darf nicht zum Relativismus werden. Es gibt aber auch den Fall,dass Ratzinger den Papst zur Moderne hin korrigiert oder interpretiert, dass er einespökenkiekerhafte Hardcore-Frömmigkeit ein bisschen an die Kette legt. Für Johannes PaulII. sind die Marienerscheinungen von 1917 im portugiesischen Fatima von besondererBedeutung, im Sommer 2000 hat er das »Dritte Geheimnis« von Fatima veröffentlichenlassen, eine rätselhafte Traumvision, in der er die Märtyrergeschichte der Kirche im 20.Jahrhundert und auch das Attentat auf sich selbst vorgezeichnet findet. Das hat Ratzingereher tief gehängt und zu einer Privatoffenbarung erklärt, an die man als Katholik nichtglauben müsse.
Der Schritt des Papstes vom »Wir« zum »Ich« ist Ratzinger nichtgeheuer
In einem durchaus verehrungsvollen Beitrag zu Wojtylas zwanzigstemThronjubiläum hat er durchblicken lassen, dass ihm bei der päpstlichen Subjektivitätnicht ganz wohl ist. Es geht um »Wir« und »Ich«, darum, dass Johannes Paul II. denPluralis Majestatis seiner Vorgänger in seinen Schriften und Reden abgeschafft hat und imeigenen Namen spricht, persönlich. Da ist, meint Ratzinger, nicht einfach ein Zopfabgeschnitten worden. Sondern das feierliche »Wir« bedeutete etwas – dass da nicht einEinzelner redete, sondern die Kirche selbst, ein Ganzes, das größer ist als jedes seinerGlieder, auch größer als ein Papst. »Auf gewisse Weise«, bemerkt Ratzinger, »ist es keinharmloses Phänomen, wenn das ›Ich‹ an die Stelle des ›Wir‹ tritt.« Das »Wir« steht nichtfür Hochmut, sondern für Selbstdisziplin – eine Selbstdisziplin, so mag man das beiRatzinger Ungesagte weiterdenken, die er auf seinem Weg von der Gelehrtenfreiheit insKirchenamt bewiesen hat und die er bei Johannes Paul II. trotz aller Loyalitätgelegentlich vermissen mag.
Insofern hat es seinen tiefen Sinn, wenn gegen Endedieses Pontifikats der Blick noch einmal auf Ratzinger fällt. Unter Johannes Paul II. istder Katholizismus in ungeheurem Maße mit dem Papsttum identifiziert worden, und dasPapsttum mit Karol Wojtyla, der charismatischen Führungsfigur. Ratzinger dagegen stehtfür die Kirche als Institution. In nicht allzu ferner Zukunft werden wir wissen, wie esum diese Institution ohne den Zauberer an ihrer Spitze bestellt ist.
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