NAB Neue avantgardistische Bewegung
19.01.2008 um 05:57
Es wurden von der Gruppe regelmäßig internationale Konferenzen abgehalten, Theorien wurden dabei ausgearbeitet, diskutiert und ausprobiert.
In ihrer Zeitschrift „internationale situationniste“ präsentierte die S.I. ihre Ideen, kommentierte die Weltlage und persönliche Affären, und beschimpfte und verhöhnte die gesamte politische und kulturelle Elite der Zeit, darunter oftmals besonders diejenigen, die öffentlich mit ihnen sympathisierten oder scheinbar ähnliche Ideale hatten wie etwa den Regisseur Godard. Die Zeitschrift wurde 1961 in Deutschland beschlagnahmt, Mitglieder wurden verhaftet. Intimfeinde der Situationisten waren Soziologen und Kybernetiker wie Abraham Moles, aber auch die vielen dogmatischen, teils stalinistischen kommunistischen Gruppierungen der Zeit.
Debord verfasste 1957 den „Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der Internationalen Situatonistischen Tendenz.“ und die „Vorschläge für ein Aktionsprogramm der SI“. Als sein Hauptwerk und eines der ersten Werke der Postmoderne gilt „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967). Die Erlebnisse und Diskussionen mit den Lettristen in Paris sind Thema von Debords „Mémoires“, einem Künstler-Buch, dessen erste Auflage nach Debords Anweisungen in Sandpapier gebunden werden sollte.
Raoul Vaneigem betonte in seinem „Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“ von 1967 besonders die Wichtigkeit der Gabe, der Subjektivität, der Poesie und des Spiels. Für ihn bot die Moderne nur noch eine würdelose rationalisierte Form des „Überlebens“, kein wirkliches „Leben“.
Asger Jorn verfasste u.a. das Buch „Open Creation and its Enemies“ (in Anlehnung an Poppers „The Open Society and its Enemies“), in dem er ein Ideal freier menschlicher schöpferischer Tätigkeit und Gestaltung entwickelte, und untersuchte, was dieser heute entgegensteht.
1966 erschien in Straßburg ein Pamphlet namens „Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet in seinen ökonomischen, politischen, psychologischen, sexuellen, und vor allem intellektuellen Aspekten, und einige Mittel zur Abhilfe“, das Studenten vom lokalen Büro der „UNEF“ auf Kosten der Universität Straßburg in einer 10000er-Auflage gedruckt hatten. Darin übten Situationisten eine fundamentale Kritik am Studenten als unmündig und abhängig gehaltenem Mitglied der Gesellschaft, am Studentenstatus, an der Selbstherrlichkeit einer studentisch-alternativen Subkultur, an Religion, und am ganzen Wirtschaftssystem. Sie verspotteten die Blindheit gegenüber der Ökonomisierung der Bildung in der Broschüre, für die eine angebliche „Gesellschaft zur Würdigung des Anarchismus“ als Herausgeber fungierte:
„Dem Studenten wird nicht einmal bewußt, daß die Geschichte auch seine lächerliche ‚abgeschlossene‘ Welt verändert. Die berühmte ‚Universitätskrise‘, Detail einer allgemeineren Krise des modernen Kapitalismus, bleibt Gegenstand eines tauben Dialogs zwischen verschiedenen Spezialisten. In ihr kommen ganz einfach die Schwierigkeiten einer verspäteten Anpassung dieses besonderen Produktionssektors an die Umwandlung des gesamten Produktionsapparates zum Ausdruck. Die Überreste der alten Ideologie einer liberal-bürgerlichen Universität werden in dem Augenblick nichtssagend, wo ihre gesellschaftliche Basis verschwindet. Die Universität konnte sich in der Epoche des Freihandelskapitalismus und seines liberalen Staates als autonome Macht verstehen, da er ihr eine gewisse marginale Freiheit gewährte. Sie hing in Wirklichkeit eng von den Bedürfnissen dieser Art von Gesellschaft ab: der privilegierten studierenden Minderheit eine angemessene Allgemeinbildung zu vermitteln, bevor sie sich wieder in die herrschende Klasse einreiht, die sie kaum verlassen hatte.“
Die für den Druck verantwortlichen Studenten wurden daraufhin von der Hochschule exmatrikuliert, die Broschüre aber fand weite Verbreitung unter den 1968 revoltierenden Studenten, und wurde auch in andere Sprachen übersetzt, obwohl der Rektor der Straßburger Universität ihren Verfassern empört noch eine psychiatrische Behandlung nahegelegt hatte.
Im Frühling 1968 kam es in Frankreich zu den Mai-Unruhen. Aus einer Besetzung der Pariser Universität Sorbonne entwickelt sich am Ende ein Generalstreik.
Rene Vienet, der wie 2 weitere Mitglieder der S.I. direkt an den Besetzungen an der Sorbonne beteiligt war, schreibt über diese Zeit:
„Die kapitalisierte Zeit stand still. Ohne Zug, ohne Metro, ohne Auto, ohne Arbeit holten die Streikenden die Zeit nach, die sie auf so triste Weise in den Fabriken, auf den Straßen, vor dem Fernseher verloren hatten. Man bummelte herum, man träumte, man lernte zu leben.“
Von der Verwicklung in die Studentenunruhen, und ein paar Kunstskandalen abgesehen blieben die weitaus radikaleren Forderungen der Situationistischen Internationalen allerdings größtenteils Theorie.
1972 löste sich die Gruppe auf, nach eigenen Angaben, um nicht zu erstarren und selbst zum Klischee zu werden, nicht zuletzt aber wohl auch aus Enttäuschung über die internationale Studentenbewegung und das von ihr Erreichte. Zu dieser Zeit bestand die Gruppe nur noch aus einem kleinen Kreis um Debord.
Im angelsächsischen Raum existierten noch längere Zeit situationistische Gruppen wie King Mob oder das Bureau of Public Secrets von Ken Knabb. Bekannt sind Aktionen wie der falsche Weihnachtsmann von King Mob, der zur Weihnachtszeit in Kaufhäuser ging und dort das Spielzeug aus den Regalen direkt an Kinder verschenkte. Die herbeigerufene Polizei musste den Kindern die Waren wieder abnehmen, die dann ungläubig dabei zusahen, wie der Weihnachtsmann verhaftet wurde.
Die Situationisten versuchten, ästhetische Konzepte auf die Gesellschaft zu übertragen, ähnlich wie z.B. auch Joseph Beuys, Fluxus, Konzeptkunst und andere zeitgenössische Strömungen in der Kunst: „Schön“, „ästhetisch“ interessant waren, bezogen auf ihren Kunstbegriff, Situationen, in denen sich Menschen unmittelbar frei und gleichberechtigt begegnen, austauschen, sich selbst verwalten, kreativ sein, sich ihren Leidenschaften hingeben, keinerlei unnötigen Zwängen mehr unterliegen würden.
„Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß. Wir wollen die am weitesten emanzipierende Veränderung von der Gesellschaft und dem Leben, in die wir eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich ist, diese Veränderung durch geeignete Aktionen durchzusetzen. Es ist gerade unsere Angelegenheit, bestimmte Aktionsmittel anzuwenden und neue zu erfinden, die auf dem Gebiet der Kultur und der Lebensweise leichter zu erkennen sind, aber mit der Perspektive einer gegenseitigen Beeinflussung aller revolutionären Veränderungen angewandt werden.“
Die Situationisten agierten somit in der Tradition von Dada und dem Surrealismus: „Der neue Künstler protestiert“, schrieb Tristan Tzara 1919, „er malt nicht mehr symbolistische und illusionistische Reproduktion, sondern handelt unmittelbar schöpferisch“. Der situationistische Slogan „Nimm deine Wünsche für Wirklichkeit“ verweist direkt auf die Beschäftigung der Surrealisten mit der Psyche und wurde später von Deleuze und Guattari im Begriff der „Wunschmaschine“ weiterentwickelt. Ein weiterer Slogan lautete: „Leben ohne tote Zeit!“
Geprägt sind ihre Anfänge aber auch von der Philosophie des Existentialismus der 1950er Jahre. Und auch wenn sich Situationisten nicht ausdrücklich auf ihn bezogen, hatte bereits Friedrich Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen moralphilosphische Überlegungen angestellt, nach denen etwa der Zustand der Freiheit, verbunden mit ästhetischer Erziehung, den Menschen dazu bringe, aus eigenem Antrieb in „edler“ Weise moralisch zu handeln (23. Brief). Solche humanistischen Ideen lassen sich weiter bis in die antike Philosophie zurückverfolgen.
Die Kunst selbst sollte nun durch ihre Verwirklichung im Leben „aufgehoben“ werden, was bedeutete, dass Poesie oder künstlerisches Denken und Handeln nicht mehr nur auf Leinwänden, sondern in der Gestaltung der alltäglichen Lebenswelt Aller stattfinden sollte. Dies bedeutete dann das „Ende der Kunst“ - als Kategorie wäre der Begriff dann sinnlos, denn er würde keinen speziellen Ort für etwas bezeichnen, das anderswo nicht stattfände, sondern „alles“ wäre (auch) Kunst.
Ähnlich beabsichtigten sie mit der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu verfahren. Arbeit als Mühsal, Fron, „entfremdete“ Lohnarbeit wurde als unnötig und dem menschlichen Wesen nicht gemäß empfunden, das Umhervagabundieren oder sich Verlaufen, sich Betrinken dagegen wurde mit dem Ernst von Wissenschaftlern künstlerisch erforscht und dokumentiert.
Bekanntestes literarisches Werk aus dem Umfeld der S.I. ist Debords Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“, eine radikale Abrechnung mit dem Kapitalismus und dem Ostblock-Sozialismus zugleich. Dabei nimmt Debord u.a. Bezug auf die Geschichte des Anarchismus, aber auch auf Motive von Hegel und auf Texte von Karl Marx, sowie Georg Lukács. Es zeigt aber auch den Blick der Situationisten auf die Welt: Seit den 20er-Jahren habe sich in Ost und West gleichermaßen die Wirtschaft verselbstständigt, sei zu einer autonomen Macht geworden, die mit ihren Gesetzen das Leben der Menschen beherrsche. Das Spektakel transportiere verschiedene Ideologien, denen aber allen die Entfremdung des Menschen gemeinsam sei (siehe Haupt-Artikel Die Gesellschaft des Spektakels).
„Sei realistisch, verlange das Unmögliche
Aus dem Widerspruch zwischen eigenen Idealen und der vorgefundenen Realität entstand die situationistische Kritik.
Die Situationisten waren allerdings nie an einem Zurück zu vermeintlich besseren alten Zuständen oder Mythen wie Religion, Ideologie oder „Natürlichkeit“ interessiert. Sie vertrauten u.a. auf die befreienden Wirkungen von Technik und hatten die Zweckentfremdung und Umgestaltung der modernen Industriegesellschaft durch Liebe, Subjektivität, Kunst und Fantasie zu einem Ort, an dem Genuss, Zufall und Menschlichkeit wieder ihren rechtmäßigen Platz bekämen, vor Augen. Sie sahen ihre Revolte gegen die Technokratie und die erhoffte Revolution als ein Fest an. Eine ihrer Strategien war, den Kapitalismus mit seinen Glücksversprechen einfach beim Wort zu nehmen, dieses versprochene Glück also ganz real und sofort einzufordern, wodurch sich dann eine Diskrepanz zwischen Versprechen und Realität auftäte, die eine Überwindung des Kapitalismus befördern würde. Ihre politischen Vorstellungen für ein Danach sahen vage eine Rätedemokratie vor.
Die politischen Gruppen ihrer Zeit sahen sie als engstirnig, dogmatisch und ungebildet an, und teilten ihnen dies auch immer wieder mit. Ideelle Verbündete waren die Zengakuren-Bewegung in Japan, oder die Rocker, denen sie jedoch ein mangelndes Bewusstsein attestierten, durch das sie am Ende doch nur zu bloßen Konsumenten in einem rebellischen Outfit würden.
Titel eines späteren Films von Debord ist das lateinische Palindrom „In girum imus nocte et consumimur igni“ („Wir gehen des Nachts im Kreise und werden vom Feuer verzehrt“). Hier findet sich die Gruppe vielleicht in ihrer Grundstimmung auch zutreffend beschrieben, sie ahnten immer die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Sie betrachteten es (auch) als Spiel.