Thomas Evangelium
10.01.2005 um 20:50
Eigenart: Das ThomasEv ist eine unverbundene Sammlung von Jesusworten (Logien), kurzen Szenen, die in einem Jesuswort gipfeln (Chrien), und Dialogen. Eine fortlaufende Erzählung gibt es ebensowenig wie eine Passionsgeschichte.
Das ThomasEv wurde in vollständiger Fassung in koptischer Sprache erst 1945 gegenüber von Nag Hammadi in Chenoboskion gefunden. Der Text ist aus dem Griechischen übersetzt. Nach dem Fund von 1945 konnte man nun auch die griechischen Fragmente näher identifizieren, die man 1897 und 1903 in Oxyrhynchos in Mittelägypten gefunden hatte, denn dem Papyrus Oxyrhynchos I enstspricht nun ThomasEv 26-33.77b, dem Papyrus Oxyrhynchos 654 entspricht ThomasEv Prolog plus 1-17, dem Papyrus Oxyrhynchos 655 entspricht ThomasEv 36-39. - Auch einige altkirchliche Zitate konnte man jetzt verifizieren.
Verfasser: Die Sammlung ist laut Prolog von Didymos Judas Thomas verfasst. Einen Thomas Didymos kennt das JohEv in 11,2, die syrische Version (Cureton) von Joh 14,2.2. kennt auch einen Judas Thomas. Ausserhalb des Neuen Testaments findet sich ein solcher Judas Thomas in den apokryphen Thomasakten. - Vielleicht sind in dieser Gestalt der Bruder Jesu namens Judas (Mk 6,3) und eben der Thomas Didymus aus Joh 21,2. zusammengelegt worden - Da die Acta Thomae im 3. Jahrhundert in Syrien entstanden sind, vermuteten viele Syrien als Entstehungsort auch schon dieser Sammlung.
Bezeugung: Nach Pistis Sophia cap. 42 und 43 hat Jesus nach seiner Auferstehung ausser Philippus und Matthäus auch den Thomas damit beauftragt, seine Reden schriftlich niederzulegen. Man kann daraus schliessen, dass Thomas als Bürge oder Verfasser eines Evangeliums angesehen werden sollte. In der Tat ist ein Werk mit dem Titel „Evangelium des Thomas“ in der Überlieferung seit dem 3.Jh. bekannt.
Datierung: Die ältere Forschung neigte dazu, das ThomasEv in das 2. Jh. n. Chr. zu verlegen. Inzwischen zeigen jedoch neuere Untersuchungen (K. Berger: Theologiegeschichte des Urchristentums, -. A. 1995, s. v. ThomasEv; J. Schröter: Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, 1997), dass die Version, die das ThomasEv von Jesusworten bietet, häufig ebenbürtig neben die Logienquelle tritt oder sogar noch älter sein könnte. Der Begriff »Gnosis« ist überdies fraglich geworden, da man fast alles, was man früher auf ein gnostisches System meinte zurückführen zu müssen, nun anders oder allgemein im Rahmen eines Dualismus verstehen kann. Daher spätestens: 70-80 n. Chr.
Adressaten: Besonders auffällig ist, dass in Logion 12 Jakobus, der Herrenbruder, als Leiter der Christen in Jerusalem angesehen wird. Damit zeigt das ThomasEv eine unvergleichlich starke Orientierung an Jerusalem. Diese dürfte durchaus den historischen Gegebenheiten bis zum Jahre 70 n. Chr. entsprechen.
Theologie: Die inhaltlichen Positionen sind häufig archaisch, und es bestehen Beziehungen nicht nur zu den Synoptikern, sondern auch zum JohEv und zu Paulus. Beim näheren Hinsehen kann man feststellen, dass das ThomasEv nicht zufällig bunt gewürfelt ist, sondern daß die einzelnen Logien durch Stichwortverbindung, Opposita, Teile bekannter »Wortfelder« und Synonyma sowie durch gemeinsame Architektonik (»Strukturen«) zusammenhängen.
Theologische Motive:
Jesus erscheint als der Lebendige, d.h. als der Auferstandene, der Sohn des lebendigen Vaters, der alle irdische Form abgelegt hat. Jesus ist der Offenbarer, der den Jüngern das Geheimnis seiner — und ihrer - Herkunft mitteilt. Er ist derjenige, der den Jüngern dieses Geheimnis erklärt. Nur den Auserwählten ist seine himmlische Gestalt erkennbar. Jesus ist eins mit dem Vater, eins mit dem Lichtreich, aus ihm ist alles hervorgegangen, er ist in allem enthalten. Apokalyptische Schilderungen fehlen im Thomasevangelium ebenso wie Menschensohnworte. Jesus ist auch nicht der von den Propheten erwartete Messias (Log. 52).
Die Welt wird negativ beurteilt (Log. 55, 56 und 80). Der menschliche Körper ist ein Leichnam. Der Gegensatz von Welt/Leib/Tod einerseits und Reich des Vaters/Erkenntnis/Leben andererseits bestimmt die Sprache des Thomasevangeliums (vgl. auch Log. 3, 35 und 103). Der Mensch ist, wenn auch „trunken", d.h. unwissend, doch göttlichen Ursprungs (Log. 3, 85 und 87), er ist nach göttlichem Bild geschaffen (Log. 50; vgl. auch Log. 83 und 84). Diejenigen, die „Ohren haben, zu hören" (Log. 24 u. ö.35), und die die Botschaft Jesu verstehen und Jesu wahre Gestalt erkennen, die lernen auch, daß sie selber der Lichtwelt, dem Einen, zugehören.
Das 'Königreich' (das 'Reich des Vaters' oder das 'Reich des Himmels') ist ein Zentralbegriff des Thomasevangeliums. Dabei wird der Unterschied zu der Reichspredigt Jesu in den synoptischen Evangelien besonders deutlich: die eschatologische Ausrichtung auf die Zukunft fehlt fast völlig. Gewiss ist von „eingehen" oder „finden" die Rede und zwar durchaus in zukünftigem Sinn. Aber diese Aussagen hängen engstens mit der Aussage zusammen, dass der Jünger aus dem Reich stammt (Log. 49). Wichtig scheint nur die Gegenwärtigkeit des Reiches zu sein, die allerdings stark spiritualisiert ist (Log. 113"). „Manchmal scheint es so, dass die Rückkehr in das 'Reich' nicht nur die gnostische Vorstellung von der Prä-Existenz der Seelen voraussetzt, sondern dass das 'Reich' Wechselbegriff mit dem göttlichen Selbst des Jüngers (= des Gnostikers) ist.
Damit hängt nun eine weitere Eigentümlichkeit des Thomasevangeliums zusammen: es lassen sich kaum Spuren einer Gemeinschaftsbildung erkennen, und ekklesiologische Gedanken fehlen völlig. Der Zugang zum 'Reich' wird den einzelnen, von dem Ruf Jesu Erreichten zugesagt. Es sind die 'Kleinen', die 'Einzelnen', die 'Einsamen', die das 'Reich' und damit die 'Ruhe' erreichen. „Theologiegeschichtlich laufen viele Linien im ThEv zusammen und von ihm zu anderen Schriften, ohne dass es sich einer bestimmten Gruppe zuordnen lässt. Die Wurzeln reichen weit zurück in die Verkündigung Jesu, in judenchristliche-gnostische Kreise (vielleicht Transjordaniens); es gehört in die stark gnostisierende Thomasverehrung Ostsyriens hinein, in der wohl auch die asketischen (enkratitischen) Tendenzen des ThEv beheimatet sind. Irgendwelche Verbindungen bestehen auch zu valentinianischen Vorstellungen (z.B. die des „Brautgemachs"; Spr. 75). Aber in der Bibliothek von Nag Hammadi scheint das ThEv ein Fremdling zu sein; einstweilen kennen wir seine 'wahren Verwandten' noch nicht.
Dieses Werk „ist losgelöst von der Geschichte Jesu und repräsentiert in autarker Weise das ‚Evangelium’, indem es die ‚verborgenen Worte’ des ‚Lebendigen’, immer gegenwärtigen Jesus überliefert“. Es fehlt jede Bezugnahme auf das Wirken Jesu oder auf seinen Tod und seine Auferstehung. Die hier zusammengestellten einzelnen Worte sind das ‚Evangelium’…
Ausschnitte aus:
Das koptische Evangelium von Beate Blatz
und
Klaus Berger / Christiane Nord
Ich weiss, dass ich nichts weiss (sokrates)