Wie feiert ihr noch Weihnachten?
13.01.2005 um 12:03
Von Marius Gabor
Die Jahresfeste sind Tore zum Himmel. Besonders an Weichnachten kann schon mit einer relativ geringen Anstrengung die Nähe der geistigen Welt erlebt werden. Unsere Seele spürt dann eine besondere Innigkeit, Erwärmung, Reinheit und Durchlichtung. "Das Geisteskind im Seelenschoß", wie es Rudolf Steiner beschreibt, möchte in jedem von uns jedes Jahr an Weihnachten neu geboren werden. Wir können dabei auch die Empfindung haben, dass diese Geburt von Engeln begleitet wird, die uns in dieser Zeit näher sind als sonst.
Aber es fällt heute immer schwerer, die Weihnachtsstimmung in der Seele entstehen zu lassen, sie entsteht, wie wir immer wieder in den Tagen vor Weihnachten bemerken, weniger und weniger "von selbst". Nur den Weihnachtsbaum zu betrachten, die Lieder zu hören, schöne Kindheitserinnerungen aufsteigen zu spüren oder die entsprechenden Stellen in den Evangelien zu lesen reicht meist nicht mehr; es mag zwar sein, dass unser Gemüt sich davon noch angeregt fühlt, der Kopf aber stellt sich schnell in den Weg und im Nu ist alles verschwunden. Wir alle leben mehr oder weniger in einer Trennung zwischen Kopf und Gemüt, sind innerlich geteilt in der Einsamkeit, Klarheit, Trockenheit und Sicherheit des Kopfes und in den nebelartigen, unklaren und nach Einheit und Harmonie strebenden Anregungen des Gemüts. Es gibt kaum eine Jahreszeit die besser geeignet ist als Weihnachten, um dieses Drama aufsteigen zu lassen, wenn wir alle empfinden, dass etwas da sein soll, was nicht ganz da ist: die unbewusste Erwartung des "Geisteskindes im Seelenschoß", das uns innerlich wieder eins und heil machen kann. Das ist auch der Grund für die typischen vorweihnachtlichen Depressionen bis hin zu Suizid-Absichten bei vielen Menschen.
Was also, wenn wir mit dieser Situation nicht zurecht kommen? Stürzen wir uns ins Einkaufsvergnügen und machen anschließend Urlaub im Süden, auf einer sonnigen Insel? Oder suchen wir doch lieber nach Wegen, innerlich wieder eins und heil zu werden? Von einem solchen Weg möchte ich hier erzählen, der zum modernen Bewusstsein unserer Zeit passt, das sich von den alten Traditionen befreit hat und sich mehr und mehr auf sich selbst gestellt erlebt: einsam, innerlich arm, aber frei und individualisiert. Für genau diese Art von Zeitgenossen kann eine berechtigte Frage an Weihnachten lauten: Wie können wir den Engeln näher kommen? Wie können wir die Weihnachtsstimmung wieder entstehen lassen?
Ende der Bildhaftigkeit
Es gibt zahlreiche bildliche Darstellungen von Engeln, die sie meist als beflügelte, lieblich aussehende Wesen zeigen. Diese Interpretationen treffen zwar die Sache, denn die Flügel zeigen ihre Fähigkeit, zu höheren Daseinsebenen aufzusteigen und das schöne Aussehen drückt ihre überirdische Güte aus (man spricht ja z.B. von einer "Engelsgeduld"). Aber eine wirkliche Hilfe bedeuten solche Darstellungen nicht mehr. Auch mit konkreten Engelbeschreibungen von Menschen, die diese Wesen wahrgenommen haben, können wir heute nicht mehr allzuviel anfangen, selbst wenn diese aus Texten wie der Bibel entstammen. Der Grund dafür liegt in der seelische Konstitution des gegenwärtigen Menschen, die durch Bilder nicht mehr unmittelbar zu einem Erlebnis des Geistigen gebracht wird. Daran erleben wir die Folgen der Herrschaft der Intellektualität; wir suchen das Geistige nicht mehr als göttliche Imagination, sondern als Wahrnehmung und Gedanke. Wir alle sagen uns mehr oder weniger bewusst: was ich nicht verstehen kann, hat keine Existenz für mich.
Das war nicht immer so, in früheren Zeiten haben Bilder und bildhafte Worte die Menschen tief angesprochen. Bis in das Mittelalter hinein haben christliche Missionare allein durch richtig gesprochene Worte Bekehrungen bewirkt. Diese Sprache ging von Herz zu Herz, der gedankliche Inhalt war dabei nicht so wichtig und wurde viel weniger bewusst erlebt. Auf diese Weise konnte sich das Christentum mit einer heute undenkbaren Kraft verbreiten. Ähnlich kann man die frühere Wirkung der Bilder im Ikonenkult Osteuropas verstehen. Die Gläubigen erlebten beispielsweise beim Anschauen des Bildes der jungfräulichen Mutter mit dem Kind unmittelbar das Geistige mit. Nachklänge dieser Glaubensart kann man noch heute im Osten finden, aber immer im Rahmen einer Seelenverfassung, die mit der zeitgenössischeen Weltkultur nicht zusammenpasst.
Auch heutzutage tauchen immer wieder noch Reste dieser alten Art, von Herz zu Herz zu sprechen und den Kopf auszuschalten, in verzerrter Form auf. Was aber nicht mehr zeitgemäß ist, das wird vom Bösen ergriffen und instrumentalisiert. Gute Beispiele dafür sind die nationalistischen Reden, die die Menschen unmittelbar in ihrem Gemüt ansprechen und den klaren Kopf verdunkeln. Das nazional-sozialistische Deutschland Hitlers oder die "ethnischen Säuberungen" im ehemaligen Jugoslawien wären ohne diesen Missbrauch nicht möglich gewesen. Jene dämonischen Kräfte nützen eine Fähigkeit des Menschen, die bis ins Mittelalter und im Osten Europas noch Jahrhunderte später angemessen war, um heute ihre dunklen Ziele zu erfüllen. Deswegen müssen wir den Folgen einer solchen Haltung klar ins Gesicht sehen: Wer die Erwartung hat, dass der heutige Mensch dem Geistigen in bildhafter Form begegnen kann, ohne seine Denkkräfte dabei zu bemühen, der bereitet den Weg für das Böse vor. Das Nicht-Durchschauen dieses Zusammenhangs ist ein wichtiger Grund dafür, dass der Nationalismus im Osten so stark verbreitet ist. Hier pflegen die orthodoxen Kirchen die alte Seelenart mächtig weiter und man kann dabei monströse Erscheinungen beobachten wie die, dass sich in den Kirchen nicht selten religiöse Inbrunst mit nationalistischem Extremismus paart. Was erst so harmlos aussieht, das seelisch-bildhafte Ansprechen des Geistigen, kann verheerende Folgen haben, falls wir nicht wach genug sind.
Das Geheimnis des Denkens
Mich vor dieser überholten Wirkensart zu schützen ist das eine. Aber was hilft es mir eigentlich, die Engel zu verstehen, abgesehen davon, dass dies mein inneres Bedürfnis ist? Es ist ganz offensichtlich, dass ich im Alltag nur dasjenige erkennen kann, wofür ich mir die entsprechenden Begriffe angeeignet habe. Einmal wurde ein Ureinwohner eines gerade entdeckten amazonischen Stammes mit dem Hubschrauber in eine Großstadt geflogen. Er wurde dann zum ersten Mal und auf einen Schlag mit der modernen Zivilisation konfrontiert. Auf die Frage, was ihn am meisten beeindruckt hatte, gab er zur Antwort: an zwei Pflanzen könne er sich erinnern - das war seine Welt, dafür hatte er Begriffe. Das Gegenteil dazu wäre der Stadtmensch, der im Dschungel nur kleinere oder größere Pflanzen "sehen" würde. Mit den Begriffen über die geistige Welt verhält es sich nicht anders: ohne sie kann ich alles sehen, aber nicht verstehen. Vielleicht gilt das nicht für jemanden, der die Engel nicht wahrnehmen kann; nach dem Tode aber werden wir alle die Engel sehen. Einer häufigen Beobachtung zufolge sind die meisten Menschen nach dem Tod zuerst bewusstlos, wie schlafwandelnd, und es dauert kürzer oder länger, bis ihre Seelen vom Sinnlichen so weit gereinigt werden, dass sie für das Geistige aufwachen können. Bei den Tibetern, die noch eine volkstümliche Ahnung davon hatten, gab es den Brauch, Verstorbenen, die sich während ihres Lebens nicht viel mit dem Spirituellen befasst hatten, von fortgeschrittenen Mönchen in gebetsmeditativer Form sagen zu lassen, dass sie nicht mehr im Leibe, sondern über die Schwelle gegangen sind, um ihnen beim Aufwachen zu helfen. Es mag komisch klingen und ist eigentlich nur tragisch, dass viele Verstorbene nach ihrem Tod versuchen, genau das gleiche zu tun, was sie zuvor im physischen Leibe gemacht haben, z.B. zur Arbeit zu fahren oder einkaufen zu gehen. Aber auch dann, wenn man nachtodlich "aufgewacht" ist, hat man nicht sofort die ganze Realität der geistigen Welten offen und verständlich vor sich. In den höheren Welten kann der Mensch nur dasjenige denken (und es dadurch gleichzeitig auch wahrnehmen), worüber er sich hier unten auf der Erde Gedanken gemacht hat, die der geistigen Realität entsprechen; für den Rest bleibt er wie blind. Möchte ich nach dem Tod meine geistige Umgebung wahrnehmen und verstehen, muss ich mir schon während meines Lebens auf der Erde Gedanken darüber machen.
Es gibt einen weiteren guten Grund, warum wir uns über das Geistige Vorstellungen bilden sollen. Es mag sein, dass vergleichsweise wenige Menschen in ihrer heutigen Inkarnation spirituelle Wahrnehmungen haben (in diesem Sinne "Hellseher" sind). In zukünftigen Leben wird das anders sein. Unsere Konstitution wird sich in der Zukunft ändern, wir werden alle in verschiedenem Umfang "Hellseher" sein und ganz selbstverständlich übersinnlich wahrnehmen. Falls wir aber diese zukünftige, quasi-natürliche Hellsichtigkeit nicht schon jetzt durch entsprechende Vorstellungen über das Geistige vorbereiten, werden wir Schwierigkeiten damit bekommen, indem wir entweder das Wahrgenommene als "Illusion" betrachten oder auch indem dieses zu stark von der eigenen subjektiven seelischen Färbung beeinflusst werden wird.
Wir kommen also immer wieder zu der Bedeutung des Denkens für den heutigen Menschen zurück. Von den drei seelischen Kräften des Menschen, dem Denken, dem Fühlen und dem Wollen, steht uns das Denken am nächsten. Es mag sein, dass für den einen oder den anderen das Fühlen oder das Wollen eine größere persönliche Wichtigkeit haben, jeder aber kann sich selbst leicht klar machen, dass er nur durch das Denken eine Bewusstwerdung auch der anderen Seelenkräfte erlangen kann. Kein anderer seelischer Prozess ist uns so nah, so durchsichtig und so verständlich wie das Denken. Hier sei allerdings bitte unter "Denken" nicht nur die trockene, intellektuelle Erscheinungsform des Gedanken-Habens verstanden; in seiner Tiefe trägt das Denken alle Nuancen und Aspekte, die auch gefühls- und willensmäßig durchdrungen sein können.
Was tut der Mensch, indem er denkt? Er verbindet entweder eine Wahrnehmung mit einer Vorstellung oder einen Begriff bzw. zwei oder mehrere Begriffe miteinander gemäß ihrer Natur. Es liegt in der Wesensart von uns Menschen, dass die Welt sich uns getrennt in Wahrnehmungen und Gedanken offenbart. In diesem Sinne ist die Welt in sich eigentlich einheitlich, nur haben die guten Götter es so eingerichtet, dass diese uns getrennt vorkommt und nur durch die eigene Tätigkeit wieder die ursprüngliche Einheit gewinnt. Oder wir beginnen mit einem Gedanken und verbinden diesen mit einem anderen und wieder mit dem nächsten und so weiter, weil wir die Beziehungen zwischen verschiedenen Vorstellungen, Begriffen und Ideen nicht von vorne herein überschauen können. Wir alle denken diskursiv, Schritt für Schritt, und bemühen uns und strengen uns dabei an.
Kein anderes Wesen denkt wie der Mensch. Eine einzelne Pflanze oder ein einzelnes Tier denkt nicht, nur die übergeordneten "Gruppenseelen", die Pflanze und Tier lenken, können denken. Dann wären noch die Elementarwesen zu nennen, denen zwar eine bestimmte Art von Denken eigen ist, aber mehr in instinktiver Weise. Ein Elementarwesen verrichtet immer eine ihm gegebene Aufgabe, es ist eigentlich das im Lebenskräftebereich wesenhaft gewordene geistige Gesetz bestimmter Tätigkeits-Prozesse in den Naturreichen. Ein Elementarwesen "weiß" deswegen in seinem Aufgabengebiet von vorne herein, wie es geht und was zu tun ist, ohne jegliche Anstrengung. Auch ein Engel denkt anders als der Mensch, bei ihm treten die Gedanken in einer Art geistigen Überschau auf, es ist alles unmittelbar gegeben, rund zum Ganzen.
Der Grund weshalb der Mensch so anders denkt, liegt darin, dass er dabei seinen physischen Leib, sein Gehirn benutzt. Dies ermöglicht nur eine Wahrnehmung der Gedanken in der Zeit. Die anderen oben genannten Wesen denken mit ihrem ätherischen Leib, der ihnen den ganzen einer Sache zugehörigen Gedankenbau blitzartig, zeitlos vermittelt. Ein Beispiel: um mich kennen zu lernen, muss der Engel nichts anders tun als mich anzuschauen, und schon wird in ihm alles Wesentliche über mich gegenwärtig, meine Vergangenheit und die schicksalmäßigen Erwartungen der Zukunft.
Weshalb haben die Götter ausgerechnet den Menschen so unvollkommen geschaffen? Gerade weil diese Unvollkomenheit den größten Gewinn bringen kann. Wenn ich mir Gedanken über etwas mache, dann muss ich wie kein anderes Wesen tätig werden - und ich verbinde mich auf diese Weise mit der Ewigkeit. Falls mir die Gedanken wie dem Engeln einfach geschenkt würden, würde ich mich damit nicht wirklich verbinden. Meine Seele erobert sich die Welt stückweise, indem sie sich Gedanken darüber macht; so werde ich immer mehr zum Schöpfer einer neuen Welt, die in meiner Seele durch meine eigene, freie Tätigkeit entsteht und die ohne mich nicht entstehen würde. Der Mensch wurde von den Göttern zum "Denken im Fleische" bestimmt, damit er die Welt in sich selbst neu entstehen lassen kann, auf dass er zum Weltschöpfer wird. Der scholastische Philosoph Johannes Scotus Eriugena hat das so ausgedrückt: Der Mensch wird in dem, was er denkt - eine ganz neue Welt nähmlich.
Die Suche nach den Engeln
Wo aber finden wir nun die Engel, um sie zu verstehen? Zwar ist ein unmittelbares Kennenlernen der Engelhierarchien aus eigener Erfahrung nur durch eine esoterische Schulung möglich. Aber man hat eine andere Möglichkeit, etwas vertrauter mit ihrer Wesensart zu werden, indem man in sich selbst Prozesse beobachtet und vertieft, die den Bewusstseinsstufen der Engel verwandt sind. Johannes Scotus Eriugena hat den Menschen als "Werkstätte aller Kreaturen" bezeichnet, weil in ihm alle Wesen in der einen oder anderen Art enthalten sind. Ich möchte im Folgenden zeigen, wie auch die Bewusstseinsformen der verschiedenen Engelhierarchien im Menschen keimhaft zu finden sind, wenn man sie in seinen Denkprozessen und in den verschiedenen Phasen menschlicher Begegnungen sucht.
Die Engel sind nicht alle gleich, sondern gehören den so genannten göttlichen Hierarchien an. Es gibt neun solche höheren hierarchischen Stufen, und die Wesen auf einer jeweiligen Stufe sind ganz anders als die Wesen der jeweils niedrigeren oder höherstehenden Stufen, ähnlich wie in den irdischen Reichen auch Pflanzen, Tiere und Menschen unterschiedliche Stufen ausmachen. Trotz dieser Verschiedenheit zeigen je drei von diesen Hierarchien ähnliche Bewusstseinsformen, deswegen können wir sagen, dass ein Weg zum Verstehen der hierarchischen Wesenheiten diese drei Bewusstseinsformen in uns zu finden ist.
Die nächst höhere Stufe über dem Menschen sind die Engel. Sie haben die erste Bewusstseinform, von der weiter oben gesprochen wurde. Man kann diese Engel finden, wenn man beispielsweise seine Aufmerksamkeit auf die Entstehung der Gedanken in sich selbst richtet. Ein Teil ihrer Arbeit besteht darin, den Faden der Gedanken in uns selbst zu spinnen, so dass wir überhaupt Gedanken zusammenhängend wahrnehmen können. Diese Tätigkeit ist besonders leicht bei Kindern zu bemerken. Das ist möglich, weil, wie oben bereits gesagt, die Engel im Ätherischen denken. Da erscheinen die Gedankengebilde unmittelbar als Ganzes, ohne von Lust oder Unlust, Wünschen oder sinnlichen Vorstellungen gefärbt zu sein. Die Aufgabe der Engel besteht darin, uns diese Gebilde zu vermitteln. Um einen Vergleich zu benutzen: wenn diese höhere Wesenheiten mit dieser ersten Bewusstseinsform ein Haus bauen wollten, würden sie von vorne herein alles darüber unmittelbar wissen, ohne einen Plan oder andere Überlegungen dazu anstellen zu müssen. Wir als Menschen können aber unsere denkerischen Fähigkeiten schulen und solche Gedankengebilde selbst mehr oder weniger zum Ganzen hin denken, dann beginnen wir selbst engelhaft zu denken und emanzipieren uns in diesem Bereich gleichzeitig von der Arbeit der Engel. Umso mehr es einem Mensch gelingt, engelhaft zu denken, wird er seinen Engel von dieser Aufgabe befreien und ihm die Möglichkeit geben, sich anderen Aufgaben zu widmen.
In der menschlichen Begegnung erreichen wir ein engelänliches Bewusstsein jedesmal dann, wenn wir es schaffen, die Gedanken eines anderen angemessen wiederzugeben, wenn es also gelingt, den anderen richtig zu verstehen, was keineswegs bedeutet, dass wir mit seinen Urteilen und Meinungen unbedingt einverstanden sind. Dazu müssen wir aber seine Gedanken ohne einen Einfluss unserer Vorstellungen, eigener Bedürfnisse oder Affekte erst einmal annehmen. Wir alle wissen, dass wir so etwas tun können. Trotzdem fällt es uns nicht immer leicht, im Gegenteil, während des Alltags bildet eine solche Einstellung eher eine Ausnahme und bedarf einer besonderen Anstrengung. Unsere Kultur ist viel mehr eine Kultur des Nicht-Verstehen-Wollens, und es genügt ein Blick in die Massenmedien um zu bemerken, wie oft gezielt Teilaussagen als ein Ganzes dargestellt oder auch ganz eindeutige Missverständnisse als Behauptungen verbreitet werden. In der Politik ist dies eine übliche Technik. Ein Wissen über die Wichtigkeit des Verstehens des anderen gab es noch im Mittelalter, als bei öffentlichen Auseinandersetzungen der Gelehrten verlangt wurde, dass jeder bei seiner Antwort an die These des anderen zuerst dessen These treu wiedergeben musste und erst danach seine eigene Meinung äußern durfte. Man muss nur einmal wahrnehmen, wie wohltuend für beide, Sprecher und Zuhörer, es ist, zunächst richtig zuzuhören, dann wird es einem schon leichter fallen, dieses engelhafte Bewusstsein öfter zu erstreben.
Vier Stufen über dem Reich des Menschen stehend gibt es die von Rudolf Steiner so genannten Geister der Form, die viel erhabenere Wesen als die Engel sind und eine zweite Bewusstseinsform aufweisen. Diese Geister der Form kann man entdecken, indem man den Ursprung seines Ichs erforscht. Es ist eigentlich eine merkwürdige Entdeckung, eben das, was wir als das Höchste in uns erleben, unser Ich, unsere Individualität, als von diesen Wesen "von außen" gegeben zu erleben. Die Eigentümlichkeit dieser Wesenheiten liegt darin, dass das, was sie im Inneren erleben, außen lebende Form wird. So wurde auch der Kern der Menschen geschaffen, der dann ein selbständiges Leben und eine selbständige Entwicklung durchgemacht hat und heutzutage von uns als unsere Individualiät erlebt wird. Um eine Ahnung der Erhabenheit der Geister der Form zu erlangen kann man sich vorstellen, dass für sie die Entstehung eines menschlichen Ichs eine ähnliche Tätigkeit wie für den Menschen die Schaffung eines physischen Gegenstandes ist. Falls die Wesenheiten, denen diese zweite Bewusstseinsform zu eigen ist, ein Haus bauen wollten, würden sie nicht nur unmittelbar alles darüber wissen, sondern auch die Bautätigkeit, alle dazugehörigen Gestaltungen und Prozesse als reales Leben aus sich selbst schaffen.
Trotz der gewaltigen Entwicklungshöhe dieser Wesen gibt es auch in uns keimhaft eine änliche Bewusstseinsstufe. Diese erreichen wir im Denken, indem uns der Denkprozess selbst bewusst wird. Normalerweise sind uns nur fertiggedachte Gedanken bewusst und der Prozess, durch den diese Gedanken zum Leben kommen, bleibt uns unbekannt. Manche meditativen Übungen geben uns aber die Möglichkeit, diesen Prozess gegenwärtig mitzuerleben. Abgesehen vom meditativen Leben erreichen wir im Alltag diese Stufe immer wieder auch im Gespräch, und zwar dann, wenn wir nicht nur die Gedanken des anderen aufnehmen, sondern wenn wir auch seine Denkprozesse miterleben. Wir alle erinnern uns wohl an Gespräche, in denen unser Gesprächspartner die Worte um seinen Satz zu vollenden nicht gefunden hat, wir ihm bei der Ergänzung des Satzes geholfen haben und sich diese Ergänzung in seinem Sinne als genau passend erwiesen hat; in solchen Fällen waren wir gegenwärtig und bewusst anwesend in der Entfaltung der Gedanken eines anderen.
Noch einmal viel höher, sieben hierarchische Stufen über dem Menschen stehend, gibt es die Throne, von Rudolf Steiner auch Geister des Willens genannt, die die dritte und höchste Bewusstseinsform der Engel haben. Um sie zu erfahren kann sich der Blick des spirituellen Geisteswissenschaftlers auf die Entstehung der Welt richten. Diese Wesenheiten haben in ihrer Hingabe an die für sie höheren Geister und besonders an die Heilige Dreieinigkeit, die Weltsubstanz aus sich selbst geopfert. Deswegen ist die Bezeichnung "Throne" so passend, denn die Gottheit der Welt ruht auf ihnen. Sie sind in diesem Sinne weiter entwickelt als die Geister der Form, da sie nicht nur lebende Formen erzeugen, sondern das, was sie wesenhaft im Inneren erleben nach außen als ganze Welten schaffen. Wir verdanken ihnen den Ursprung von allem, was wir um uns und in uns haben. Um den oben gebrauchten Vergleich weiterzuentwickeln: falls diese Hierarchie ein Haus bauen wollte, würde sie nicht nur alle dazugehörigen Gedanken unmittelbar und vollständig präsent haben und nicht nur alle Bauprozesse weisheitsvoll aus sich selbst erschaffen, sondern auch alle Bausubstanzen und Materialien aus einem inneren Erlebnis des Wesens des Hauses aus sich selbst entstehen lassen.
Eine vergleichbare Tätigkeit erreichen wir in unserem Denken immer wieder dann, wenn wir einen Gedanken in seiner Entstehung wahrnehmen, wenn wir diesen wesenhaft im Inneren fassen und er sich dadurch in uns entfaltet. Dann sind wir eins mit diesem Gedanken, unsere Seele ist einzig und allein von ihm erfüllt. Unzählige Male tun wir dies täglich, eigentlich können wir ohne diese Tätigkeit gar nicht denken, sondern im besten Fall Gedanken als Sätze auswendig wiedergeben, nur dass diese Tätigkeit blitzschnell stattfindet und uns dadurch unbewusst bleibt. Wieder können meditative Übungen uns hier weiterhelfen, die eine Ausdehnung, Vertiefung und Bewusstmachung dieser Prozesse bewirken. Und auch in den menschlichen Begegnungen können wir eine solche Bewusstseinsform erreichen, nämlich dann, wenn wir im Zuhören eins mit dem Sprechenden werden, wenn wir uns selbst vergessen, im Inneren den anderen statt uns selbst erleben und seine Gedankenwelt mit all ihren individuellen Formen, Gestaltungen, und Regungen in uns auftreten lassen. Die Begegnung wird dann ganz intim, innig und tief. Das kennen und können wir alle, wir wissen es, nur dass uns die Ja-Aber Haltung dabei im Wege steht, wenn wir uns selbst vor dem anderen behaupten wollen, statt das Eigene beiseite zu lassen und ihn zu erleben, denn dazu braucht es Mut und Entschlossenheit. Dies zu tun bedeutet: Liebe auszuüben. Es gibt ein einfaches Werkzeug, das uns dabei helfen kann: es ist die seelische Haltung, die uns sagt, dass es unwirksam und unsinnig ist, ständig den anderen innerlich zu korrigieren und während seines Sprechens dem Richtigen und Unrichtigen aufzulauern, sondern dass es darum geht zu verstehen und mitzuerleben, wie die individuell gefärbten Gedanken des anderen entstehen, zu beobachten, wie er eigentlich denkt, jenseits von ihm fremden Maßstäben, und zu fragen: wie offenbart sich der Weltgedanke in diesem Menschen?
Weihnachten in uns
Auf diese Weise können wir die Engel finden und lernen, selbst etwas engelhafter zu werden, indem wir aus dem Gespräch ein Fest machen. Ist das nicht wunderbar, diese Möglichkeit, den Wesenskern eines anderen zu erleben? Deswegen war Rudolf Steiner überzeugt, dass die Religion der Zukunft das Wahrnehmen des Geistigen im anderen Menschen sein wird. Dieser Eindruck kann tatsächlich nach einer gelungenen Begegnung zurückbleiben.
Aber gibt es in der Begegnung neben dem Erreichen der engelsänlichen Bewusstseinsformen auch eine Geburt des "Geisteskindes" in uns, was das Eigentliche von Weihnachten ausmacht ? Ja, das gibt es, nur müssen wir lernen es zu entdecken, weil der gesamte Kreis der Jahresfeste darin mit enthalten ist. Falls ich es schaffe, in einem Gespräch die oben beschriebene dritte Bewusstseinsform zu erreichen, werde ich entdecken, dass ich von dem anderen Menschen ganz erfüllt bin. Das ist dann das Neue in mir, der andere, der vorher nicht darin war, es ist geistiger Natur und wird als "kindhaft" erlebt. So hat in mir etwas ganz Ähnliches stattgefunden wie die Geburt des Geisteskindes im Seelenschoß, über die Rudolf Steiner in seiner Weihnachtsstimmung im "Anthroposophischen Seelenkalender" geschrieben hat.
Wir können noch weiter gehen und im Gespräch auch die anderen Jahresfeste finden: Die Michaeli-Stimmung von Mut und Entschlossenheit ist eine Vorbedingung, um dem anderen überhaupt begegnen zu können, denn sonst bleiben wir nur in uns selbst verhaftet und gehen an den anderen vorbei, hören praktisch nicht zu. Ich brauche Mut, um mich selbst, meine Vorurteile, Gewohnheiten, Bequemlichkeit und alles andere loszulassen, was ich unverwandelt in mir trage und worin ich gefangen bin. Es ist der Drache in mir, mein Schatten, wie Sebastian Gronbach diesen in seinem lesenwerten Artikel Mein Schatten und ich (info3 Nr. 01/2004) genannt hat, den ich zuerst beiseite schieben muss um den anderen zu erreichen. Dazu brauche ich auch das Vertrauen, dass ich mich selbst nicht verlieren werde, nachdem der andere mich erfüllen wird, was eigentlich das Vertrauen in Gott ist, der auf mich Acht gibt. Beobachten Sie nur jemanden, der nicht zuhören kann, er wird sich oft als furchtsam und unsicher erweisen.
Die Weihnachtsstimmung der Geburt des anderen in mir kann ich nur eine Weile aufrecht erhalten, danach komme ich wieder zu mir selbst zurück, erlange erneut mein Selbstbewusstsein und der andere wird dadurch in mir sozusagen sterben. Ich töte ihn eigentlich, weil in mir kein Platz für beide ist. So bin ich bei der Karfreitagsstimmung angelangt. Die geistige Magie der Begegnung ist jetzt vorbei, ich bin im Alltag, es ist wieder alles irdisch, trocken und leer. Nur kann es sein, dass aus der Begegnung nach diesem Zu-Mir-Selbst-Kommen, nach diesem Sterben, etwas in mir aufsteigt, wie eine Spur, eine Berührung oder ein Impuls, der mit dem anderen zu tun hat und aus der Magie der Begegnung gründet: das ist die Auferstehung des anderen in mir und dies bildet die Osterstimmung in mir aus. Der andere ist in mir gestorben und wieder zum Leben gekommen, verwandelt, anders als in der Weihnachtstimung der Begegnung, weil ich dieses Mal das Erlebnis haben kann, das, was jetzt in mir lebt, wird dieses Mal nicht mehr so einfach verschwinden, sondern ist von Dauer. Jetzt weiß ich, jetzt empfinde ich etwas von dem anderen, was in mir bleiben wird, auch wenn der Höhepunkt der Begegnung vorbei ist.
Darüber hinaus kann ich das, was in mir aus der Begegnung auferstanden ist, nicht nur in mir tragen, sondern auch nach außen in die Welt bringen, als meine Antwort zu seinen Worten oder als meine Handlung, vielleicht auch als ein aktives Schweigen. Ich tue eigentlich etwas aus dem Impuls heraus, der in mir von ihm weiterlebt, und dies macht die Himmelfahrt unserer Begegnung aus.
Vielleicht wird dann der andere von meiner Äußerung ergriffen, bewegt oder ihm fällt etwas dazu ein. Wir alle kennen solche Glücksmomente, wenn der andere wie verwandelt nach unserer Antwort oder Handlung war und gesagt hat: Ja, das ist es, worauf ich gewartet habe, aber ohne deine Hilfe hätte ich es nicht gefunden oder gewusst! Falls uns das gelingt, sind wir beim Pfingstfest unserer Begegnung angelangt, wenn das Neue diesmal in dem Sprechenden entstehen kann.
Anschließend kann ich in mir die Stimmung des Beurteilens und Gewichtens des Geschehenen erzeugen, indem ich mich etwa frage: was hat unsere Begegnung für die Welt bedeutet, was für einen Nachklang hat sie? Hat sie die Welt ein wenig weitergebracht oder etwas darin zerstört? Und so bin ich in der Johanni-Stimmung angekommen.
Alle geschilderten Phasen des Gesprächs können sehr schnell ablaufen, deswegen fällt es uns so schwer, sie getrennt wahrzunehmen. Oft können wir nur Teile davon durchmachen, und wenn wir beispielsweise nach dem Wieder-zu-uns-selbst-kommen nicht mehr die Offenheit für das Aufsteigen des Neuen aus unserer Seele haben, werden wir einen Karfreitag ohne Ostersonntag erleben. Es ist eine Sache der Technik, des Übens, des Wollens, immer mehr davon zu erreichen. Keimhaft ist uns aber alles schon gegeben, die guten Götter haben dafür gesorgt, es liegt jetzt nur an uns, etwas daraus zu machen oder nicht. Jetzt an Weihnachten, in der Zeit der Einkerkerung in unser Inneres, fällt es uns leichter, den Höhepunkt in den Begegnungen zu erreichen - deswegen wird gewöhnlich Weihnachten gern in der Familie oder mit Freunden verbracht. Wir alle suchen die Nähe, weil wir sie jetzt brauchen und am einfachsten empfinden können.
Und weil jetzt auch die Zeit der Geschenke ist, möchte ich Ihnen am Ende die Zeilen der Weihnachtsstimmung aus Rudolf Steiners Seelenkalender schenken, von deren Schönheit ich immer wieder ergriffen bin:
Ich fühle wie entzaubert
Das Geisteskind im Seelenschoß
Es hat in Herzenshelligkeit
Gezeugt das heil'ge Seelenwort
Der Hoffnung Himmelsfrucht,
Die jubelnd wächst in Weltenferne
Aus meines Wesens Gottesgrund
Ich wünsche Ihnen allen frohe Weihnachten und gelungene Begegnungen im neuen Jahr!
"Es ist das Schicksal des Genies unverstanden zu bleibern, aber nicht jeder Unverstandene ist ein Genie"
"Islam und der Westen gehören auf Verderb oder auf Gedeih zusammen: in Bezug auf die Rückbesinnung wahrer Werte der westlichen Kultur"