Reichspogromnacht 1938 - 70-jähriges Gedenken
09.11.2008 um 00:04„Vergeben ist wohl ziemlich einfach – aber vergessen, das ist um so viel schwerer!“ So jedenfalls meine bisherige Vorstellung an das Erinnerungsvermögen, wenn ich versuche, mich in Überlebende und Angehörige von Opfern der Shoa einzufühlen versuche.
Bis gestern, als ich in einem Chat mit besorgniserregender Verwunderung feststellen musste, dass der Begriff Reichspogromnacht den wenigsten Jugendlichen geläufig ist und auch unter dem Begriff der Reichskristallnacht können sich die meisten Jugendlichen selbst in abstrakter Form kaum mehr etwas vorstellen.
Und diese Besorgnis und Sorge um das kollektive Gedächtnis, sowie der weiteren besonderen Verantwortung und Herausforderung an uns und den Rest der Welt veranlasst mich, diesen Thread zum 70. Gedenktag an die Reichspogromnacht zu eröffnen.
„Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. [...] Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. [...] Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: 'Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.' Dies kann auch erweitert werden auf die Freimaurerei.“
„Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20-30.000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht.“
„Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können.“
Und heute, zum 70. Gedenken an den Beginn der schrecklichen Hatz, sollten wir alle wenigstens für eine Minute mal wieder in uns kehren, und die Gedanken der Erinnerung an das ertragene Leid in unser Bewusstsein fügen. Dies bewirkt sicherlich mehr als so mancher Text, denn in dem Moment der Erinnerung sind wir den Opfern ganz nah. So nah, dass wir in diesem Moment eine Gemeinsamkeit spüren: die Gemeinsamkeit der unendlichen Trauer.
Und nicht zuletzt dadurch, dass wir diese Trauer mit vielen anderen Völkern der Erde teilen, nehmen wir unsere historische Schuld auch mal bewusst auf uns anstatt sie immer nur als schnell dahingesagtes Lippenbekenntnis zu äußern.
Meine Bitte nach Erinnerung sollte nicht einfach nur „ passives Verhalten der Geschichte gegenüber“ sein, es sollt sich daraus vielmehr ein moralisches Prinzip ergeben, aus dem sich ein universeller Anspruch ableiten lassen könnte.
Durch die aufgearbeitete Geschichte und den Lehren, die wir daraus zogen, ergibt sich für uns natürlich auch eine ganz besondere Verantwortung dem Staate Israel gegenüber; die Verantwortung der Verteidigung seiner Existenzberechtigung, sowie auch die Verpflichtung, den immer wieder aufkeimenden Antisemitismus hier in Deutschland und auch weltweit zu ächten, verurteilen und stets zu bekämpfen. Und zwar von allen Seiten. Von Seiten der antisemitisch ausgerichteten Rechtsextremen, wie auch den ressentimentgeladenem Antisemitismus der Islamisten. Beides sollte hier stets auf schärfste Verurteilt werden, da es nicht nur das gesellschaftliche Klima vergiftet, sondern damit stets bemüht ist die Grundfeste unserer freiheitlichen Gesellschaft zu untergraben. Und dazu zählt für mich auch, dass sich gewisse Minoritäten gerne mit den Juden vergleichen. Dies ist nicht nur schändlich den wahren Opfern gegenüber, sondern hier wird ganz bewusst mit extremen Tiefschlägen auf unser Scham- und Schuldbewusstsein eingedroschen. Für mich ist dies ein der steten Relativierung der Geschehnisse ebenbürtiger Vergleich und gehört somit ebenso moralisch, wie auch strafrechtlich verfolgt.
Und nun stehen wir vor einer -wie ich in dem Chat merkte- „Holocaust-Ermüdung“, die anscheinend auch noch dadurch beschleunigt wird, dass die überlebenden Zeitzeugen uns verlassen. Und meine Befürchtung ist dahin gehend, dass man bald sagen wird (wie bei vielen anderen Dingen, die hier im Forum so behandelt werden) dass die Berichte wohl Fälschungen sind denn angeblich ist ja „nichts so geduldig, wie Papier“. Also wird die Autorität der gesprochenen Stimme verblassen, und wir werden uns nur noch schriftlich erinnern können. Und eben dieser Aufgabe müssen wir uns stellen, damit diese Erinnerungen nicht nur abstrakte Gebilde sind und hinter einem immer schemenhafter werdenden Schleier verschwinden.
Und heute, heute bin ich, wenn ich so über unsere Geschichte diesbezüglich nachdenke, froh und glücklich dass man uns nach jüdisch-christlicher Tradition verziehen und nicht vernichtet hat. Und selbstverständlich hat man von uns die Verpflichtung der Erinnerung abverlangt, aber auch die absolute Aufarbeitung der damaligen Geschichte. Und ich bin froh darüber; ich bin froh darüber, in einem Land leben zu können, dass in noch nie stattgefundener Art und Weise seine kriegerische Geschichte aufgearbeitet hat und mittlerweile in der Lage, anderen in die Augen zu blicken.
In der Lage zu sein, zu dürfen und zu müssen!
Da wir dies geschafft haben und offenen Herzens sind, erstarkt auch wieder das jüdische Leben in der Mitte unserer Gesellschaft und dies erfreut mich mit Demut und Stolz zugleich. Demütig den Juden gegenüber, welche es schaffen, uns, angesichts der Aufarbeitung und Toleranz, wieder Vertrauen zu schenken obwohl direkt vorstehende Verwandte betroffen waren und tiefe Demut weil sie damit zeigen, welche Hoffnung und welches Vertrauen sie mit dem Leben in diesem Land verbindet.
Das von mir gerade geschilderte Wiedererleben der jüdischen Gesellschaft innerhalb unserer Kultur, ist wohl das mit Abstand größtmögliche Bekenntnis zu erneutem Vertrauen, welches man uns schenkt; Hier, durch die Juden, und auch fast überall auf der Welt haben wir mittlerweile wieder großes Vertrauen errungen und sind in Sachen des diplomatischen Geschicks, gern gesehene Vermittler.
Und geschehen ist die in der unglaublich schnellen Zeit durch das selbstkritische, aktiv in Bezug nehmen auf die eigene Geschichte und den daraus resultierenden unabschließbaren Prozess, den wir auch weiterhin fördern, sowie unterstützen sollten.
Beeindruckend sind für mich in diesem Falle Worte, wie sie z.B. Yoram Ben-Zeev (israelischer Botschafter) gesprochen hat
„Die Deutschen machen es sich nicht einfach und schauen nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit. Das ist sehr beeindruckend. Die Menschen, die ich treffe, schauen sich das nicht von außen an als etwas, das vor langer Zeit passiert ist, sondern von innen und fragen sich: Was lernen wir daraus? Es ist ein emotionales und intellektuelles Erlebnis, das mitzuerleben.“Unsere Prägung besteht aus Humanität und Freiheitlichkeit, wie auch aus dem Angebot der Solidarität und des Teilen können. Somit steht es auch allen Ländern der Welt offen, mit uns in einen Dialog einzutreten. Einzutreten in den Raum der Erinnerungen, und dieser Raum wird für alle offen stehen.
Der Zugang zu diesen Raum hat nur die Bedingung der geteilten und tätigen Erinnerung: Historische Fakten können befragt, aber dürfen niemals geleugnet werden!
Was sind eure Gedanken dazu? Welche Erlebnisse habt ihr in eurem Kreise mit jüngeren Menschen?