Link: www.jochen-hippler.de (extern)"[...] Die Einschätzung der verschiedenen Gewaltdimensionen ist nicht immer einfach. Man muß sich insbesondere meist davor hüten, entweder bestimmte Mittel der Gewalt automatisch für terroristisch oder nicht-terroristisch halten zu wollen, etwa Attentate oder Autobomben immer für Akte des Terrorismus, Raketenangriffe und Bombardierungen durch staatliche Streitkräfte aber für „militärisch“ (im Gegensatz zu terroristisch) halten zu wollen. [...] Zweitens ist es ebenfalls nur mäßig hilfreich, zwischen terroristischen und nicht-terroristischen Organisationen formal unterscheiden zu wollen: meist ist es so, daß Organisationen nur punktuell zur terroristischen Aktionsformen greifen, aber wesentlich mehr und komplexer sind als bloße „Terrororganisationen“: die palästinenesiche Hamas und die israelische Armee sind beide für Terrorakte (etwa politische Morde) verantwortlich, es wäre aber in beiden Fällen falsch, sie schlicht als Terrorbanden zu bezeichnen.
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Gewalt und Terrorismus sind auch im Nahen und Mittlerer Osten nicht neu, sind auch nicht erst mit dem aufkommenden Islamismus entstanden. So wie es auch in Europa immer wieder religiös begründete, aber auch säkulare Gewalt gibt und gegeben hat, so auch in muslimisch geprägten Gesellschaften. In den siebziger Jahren wurde etwa der aus dem Palästinakonflikt resultierende Terrorismus (z.B. Flugzeugentführungen) nicht religiös, sondern „national“ gerechtfertigt, im Zusammenhang mit „nationaler Befreiung“ und dem Kampf einer Befreiungsbewegung. Die Täter waren meist Muslime, aber ihre Religion und Religiosität spielte für die Tatbegründungen praktisch keine Rolle. Heute würden die gleichen Taten mit gewisser Sicherheit auch oder völlig mit religiösen Argumenten untermauert - nicht, weil sie nunmehr aus der Religion entsprängen, sondern weil sich der politische Diskurs verschoben hat. So wie früher viele politische Probleme in der Sprache des Arabischen Nationalismus oder des Marxismus-Leninismus ausgedrückt wurden, so werden heute die gleichen Grundprobleme anders formuliert, in einen anderen Begründungskontext eingebettet - ohne daß sie deswegen notwendigerweise andere wären. Politische Bewegungen drücken ihre Forderungen, Erwartungen und Programme fast immer in einem sinnstiftenden Legitimationszusammenhang aus, der ihnen höhere Weihen etwa der „Geschichte“, der „Nation“, des „Klassenkampfes“ oder eben „Gottes“ gewährt. Zum Teil nehmen sie damit Stimmungen in der Gesellschaft auf, zum Teil prägen sie sie, aber auf jeden Fall dient das der Stärkung der eigenen Position durch Inanspruchnahme höherer Werte, die durchaus reale Aspekte und vernünftige Begründungen enthalten können.
Der aktuelle islamisch geprägte Terrorismus speist sich weiterhin aus säkularen Quellen: aus sozialen Problemen und Konflikten, Unterdrückung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Ohne diese Quellen würde der islamistische Terrorismus über kleine Grüppchen von Spinnern nicht hinausgelangen, er würde nicht bedeutsamer sein, als es die deutsche RAF in den siebziger Jahren war: geräuschvoll, großmäulig, aber politisch isoliert. Die Gefahr der Überreaktion wäre noch gefährlicher als der Terrorismus selbst. Der islamistische Terrorismus ist heute nicht bedeutsam, weil er islamistisch ist, sondern weil er über eine Basis in einigen Ländern verfügt, die nicht aus dem Koran, sondern den sozialen Realitäten entspringt. Auf dieser Basis allerdings kann jede Form von Religion zu einer zusätzlichen, mächtigen ideologischen Waffe werden, auch der Islam. Sein praktischer Nutzen besteht darin, daß er nicht-westlich ist (im Gegensatz etwa zum Nationalismus, der in gewissem Maße ein westliches Importprodukt war), daß er sich auf eine ausgesprochen hohe moralische Instanz beruft (Gott), die zusätzlich prinzipiell nicht widerlegt werden kann (Gott kann sich gegen seine politische Instrumentalisierung offensichtlich nicht wehren) und daß Religion eine besonders starke emotionale Komponente enthält, die manche säkulare Ideologien nicht - oder nicht mehr - besitzen. [...]"
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