Das türkische Parlament hat Ministerpräsident Erdogan zu grenzüberschreitenden Militärangriffen im Irak ermächtigt. Würde er davon Gebrauch machen, wäre der EU-Beitritt seines Landes gefährdet. Außerdem würde eine Invasion den Interessen der türkischen Separatisten nützen.
Nachdem sich in der Türkei gerade der Staub der innenpolitischen Konflikte des letzten Jahres zu legen beginnt, droht nun die türkische Regierung, nach einem weiteren tödlichen Angriff kurdischer Separatisten auf türkische Soldaten, mit einem militärischen Angriff im Nordirak. Diese Aussichten erhöhen auch das Risiko für die Türkei, den Irak und die Vereinigten Staaten. Allerdings darf bezweifelt werden, dass die Situation wirklich so gefährlich ist, wie in den jüngsten Schlagzeilen dargestellt.
Die Türkei beschuldigt die irakischen Kurden, zwischen 3.000 und 3.500 der aktivsten türkischen Kurdenrebellen Unterschlupf zu gewähren – Mitgliedern der separatistischen PKK-Guerilla, die man für den Tod von achtzig türkischen Soldaten in diesem Jahr verantwortlich macht. Als am 7. Oktober kurdische Kämpfer in der Nähe der türkisch-irakischen Grenze 13 türkische Soldaten töteten, erreichten die Kalamitäten ihren Höhepunkt.
Luftschläge auf ausgewählte Ziele
Die türkische Öffentlichkeit forderte Maßnahmen, und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogans Regierung kam dieser Forderung auch nach. Trotz aller Appelle aus dem Irak und den USA um Geduld und Zurückhaltung stimmte das türkische Parlament mit 507 zu 19 Stimmen für die Ermächtigung Erdogans, innerhalb des nächsten Jahres jederzeit grenzüberschreitende Militärangriffe im Irak anordnen zu können.
Erdogan hat den irakischen Kurden damit eine unmissverständliche Botschaft übermittelt. Aus mehreren Gründen allerdings wird das türkische Militär seine Operationen wahrscheinlich auf kleinere grenzüberschreitende Maßnahmen und Luftschläge auf ausgewählte Ziele beschränken und keinen allumfassenden Krieg ausrufen.
Verstrickung in den irakischen Religionskampf vermeiden
Erstens, weil das türkische Militär kein Interesse daran hat, die Risiken auf sich zu nehmen, die eine Verstrickung in den irakischen Religionskampf mit sich brächte. Eine umfassende Invasion könnte nämlich die kurdischen Guerillas im Irak zu einem anhaltenden und blutigen Kampf gegen die türkischen Truppen motivieren. Dies würde nur die Unterstützung für die Regierung Erdogan in der Türkei und im Ausland schwächen.
Zweitens hofft die türkische Regierung, die Beitrittsambitionen in Richtung Europäische Union weiter vorantreiben zu können. Eine Invasion des Irak würde diesen Prozess zum Erliegen bringen. Der EU-Außenbeauftragte Javier Solana hat klargestellt, dass Europa eine groß angelegte türkische Militäroperation im Irak strikt ablehnt.
Ultimatum an die kurdische Regionalregierung
Drittens ist sich die Türkei sehr wohl bewusst, dass ein Großangriff im Irak genau das ist, worauf die kurdischen Separatisten in der Türkei abzielen. Gibt es denn aus ihrer Sicht eine bessere Möglichkeit, der Türkei zu schaden, als sie in einen militärischen Konflikt mit dem Irak, den USA und der EU hineinzuziehen? Erdogan hat nicht die Absicht, in diese Falle zu tappen.
Angesichts all dessen sollte der jüngste Schritt des türkischen Parlaments wohl eher als Ultimatum an die kurdische Regionalregierung im Irak gesehen werden, die türkischen Kurden des Landes zu verweisen und als Versuch, die USA zu überzeugen, ihren beträchtlichen Einfluss in der Region geltend zu machen. Es handelt sich also um eine drastische Art der Politik, aber nicht um eine Kriegserklärung.
Maximale Zurückhaltung
Die Bevollmächtigung Erdogans durch das Parlament ist durchaus vorsichtig formuliert, um die eingeschränkten Ziele der Türkei zu unterstreichen. Betont wird, dass das türkische Militär keinerlei Absichten habe, irakisches Territorium zu besetzen oder irakische Kurden und deren Ölinfrastruktur zu bedrohen. Ein Angriff würde die kurdischen Provinzen des Irak für ausländische Investoren sicher weniger attraktiv machen, aber die Türkei hat keinen Grund, die Anlagen ausländischer Ölgesellschaften anzugreifen.
Auch die irakische Zentralregierung ist sich der Gefahren bewusst und wird sich daher wahrscheinlich in maximaler Zurückhaltung üben. Ein begrenzter türkischer Militärschlag im Nordirak würde nur wenig Reaktionen auslösen, die über eine öffentliche Verurteilung und rein rhetorische Erklärungen der irakischen Souveränität nicht hinausgehen.
Den wichtigsten Grenzübergang schließen
Die Bedrohung der irakischen Ölinfrastruktur rund um die nordirakische Stadt Kirkuk und anderer Gebiete unter der Verwaltung der kurdischen Regionalregierung ist minimal. Die türkische Regierung weiß, dass jede Maßnahme in Richtung Schließung der knapp 1.000 km langen Pipeline von Kirkuk in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan kurzfristig keine Auswirkungen hätte, denn der Großteil der irakischen Ölexporte verlässt das Land über den Süden, weit entfernt von der türkischen Grenze.
Außerdem kann das türkische Militär den Druck auf die irakischen Kurden mit viel weniger drastischen Methoden erhöhen. Man kann beispielsweise den wichtigsten Grenzübergang zwischen den beiden Ländern schließen und damit eine wesentliche Route für die Versorgung der irakischen Kurden mit Nahrung, Treibstoff und anderen Waren abschneiden. Überdies könnte man Stromexporte in den Irak drosseln.
Stillschweigende Anerkennung des Autonomieanspruchs
Dennoch sind auch kleinere Militäroperation mit einem gewissen Risiko verbunden. Wenn es der PKK gelingt, in der Türkei einen großen Anschlag auf Truppen oder die Zivilbevölkerung zu verüben, bliebe Erdogan aufgrund des öffentlichen Aufschreis in der Türkei wenig anderes übrig, als den Einsatz zu erhöhen.
Noch komplizierter wird die Angelegenheit durch die Weigerung der Türkei direkt mit der kurdischen Regionalregierung im Nordirak zu verhandeln. Die Türkei befürchtet, derartige Gespräche wären eine stillschweigende Anerkennung der Tatsache, dass die irakischen Kurden eine gewisse Autonomie von Bagdad erlangt haben. Das geht den türkischen Nationalisten und dem Militär doch zu weit.
Risiken auch für die USA
Aber auch für den irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki bestehen gewisse Risiken, denn türkische Militärschläge gegen die nördlichen Provinzen des Irak könnten die kurdische Unterstützung für seine Regierung untergraben, von der sie zunehmend abhängt. Sowohl sunnitische Araber als auch Kurden hegen schon Ressentiments gegen die milde Reaktion Malikis auf den jüngsten Beschuss irakischen Territoriums durch den Iran – im Zuge dessen versucht wurde, iranische Kurdenrebellen an der Flucht in den Irak zu hindern.
Risiken sind aber auch für die USA auszumachen. Der Großteil des Nachschubs für die amerikanischen Truppen im Irak und Afghanistan wird über den Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der Türkei abgewickelt. Angesichts einer drohenden Resolution des US-Repräsentantenhauses, in der die Türken des Genozids an Armeniern vor etwa neunzig Jahren beschuldigt werden, ist das ein besonders ungünstiger Augenblick für die beiden Länder, wegen des Iraks in Streit zu geraten.
Abgesehen von diversen Katastrophenszenarien kann eine türkische Invasion des Nordirak nur den Interessen der kurdischen Separatisten in der Türkei nützen. Darum wird man aller Voraussicht nach einen kühlen Kopf bewahren. Begrenzte grenzüberschreitende Operationen werden immer wahrscheinlicher, ein Krieg zwischen der Türkei und den irakischen Kurden aber nicht.