Massengrab in der Türkei gefunden
25.04.2007 um 06:28
Die Schwierigkeiten des Erinnerns
Die Türkei und Frankreich streiten erbittertüber die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern. Gibt es eine transnationaleVergangenheitsbewältigung?
Das von der französischen Nationalversammlung imvergangenen Monat verabschiedete Gesetz über die Leugnung des Völkermords an denArmeniern hat einen fortdauernden - und offenbar immer weiter eskalierenden - Streitausgelöst. Die Türkei hat die militärischen Beziehungen zu Frankreich abgebrochen;weitere, mehr oder weniger symbolische Schritte von beiden Seiten sind zu erwarten. Dieswirft gleich zwei grundsätzliche Fragen auf: Inwieweit darf Meinungsfreiheit im Namen vonErinnerungspolitik eingeschränkt werden - und ist eine Einmischung in die innerenErinnerungsangelegenheiten anderer Nationalstaaten jemals gerechtfertigt? Im Moment machtman es sich bei der Beantwortung dieser Fragen oft viel zu leicht, indem manselbstgefällig liberal auf Meinungsfreiheit als allein entscheidenden Wert pocht.
DieKritik am französischen Gesetz war rasch, reflexartig und die politischen Lagerübergreifend, von Präsident Chirac bis zu linken Historikern, welche die Freiheit derForschung bedroht sehen. Vielen Europäern ist noch die Erfahrung mit den bilateralenSanktionen gegen Österreich vor sechs Jahren unangenehm in Erinnerung. Damals schien dieEU endlich den oft bemühten "Anderen" gefunden zu haben, gegen den die Gemeinschaft ihreWerte definieren konnte: Der "Andere" erschien in Gestalt Jörg Haiders, und es schmerztediejenigen, welche die Möglichkeit eines "negativen Gründungsmythos" für die EU in derErinnerung an den Holocaust aufscheinen sahen, umso mehr, dass man der Alpenrepublik amEnde einen gesamteuropäischen "Persilschein" ausstellen und die Sanktionen kleinlautaufheben musste. Die Idee einer transnationalen Erinnerungspolitik - auch damals mischteFrankreich kräftig mit - schien spektakulär widerlegt worden zu sein.
Bei den Gegnerndes jetzt vorliegenden Gesetzes sollte man zwei Argumentationsstränge unterscheiden. Zumeinen findet sich - vor allem in England - eine grundsätzliche Ablehnung allererinnerungspolitisch bedingten Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Diese Position lässtsich als "libertär" bezeichnen und findet ihr real existierendes Vorbild in den USA. Dorterlaubten Gerichte Neonazis gar, durch einen Vorort Chicagos zu marschieren, in dem vieleHolocaust-Überlebende lebten (der berühmt gewordene Fall "Nazis in Skokie") - und alldies im Namen einer Konzeption von Meinungsfreiheit, die nicht nur libertär, sondern auchegalitär ist: Keine Gemeinschaft ist besonders geschützt, und gebe es auch noch so guteGründe anzunehmen, dass bewusst bösartige Meinungen sie zutiefst verletzen würden. Es istauch folgerichtig, dass Vertreter dieses Ansatzes auch eine Abschaffung der Gesetze zur"Auschwitz-Lüge" fordern.
Die Alternative zum libertären Standpunkt ließe sich als"dignitär" bezeichnen: Sowohl Individuen als auch historisch konstituierte Gruppen habenihre Würde, die es zu schützen gilt. Die konkrete Umsetzung dieser Position besteht ineiner bewussten "Politik der Anerkennung" - vor allem der Anerkennung vergangenenUnrechts, und dies nicht zuletzt zur Vermeidung von Rassismus und Diskriminierung inGegenwart und Zukunft. Ist eine dieser Positionen eindeutig moralisch überlegen oder auchaus verantwortungsethischer Sicht klar vorzuziehen? Mir scheint, dass für beide guteGründe sprechen, solange eine Position jeweils konsistent vertreten wird. Problematischsind Zwischenpositionen, bei denen gegenüber manchen Gruppen auf das unantastbare Rechtauf Meinungsfreiheit gepocht wird, während gleichzeitig bereits eine ganze Reihe vonGesetzen zu Blasphemie der Mehrheitsreligion oder zur Holocaust-Leugnung bestehen. Diessoll nicht heißen, dass jeder Anspruch auf Anerkennung auch sofort akzeptiert werden muss- bekanntlich wird hier leicht eine Opferkonkurrenz ausgelöst und Menschen, die sichbisher ganz wohl gefühlt haben, werden plötzlich kränkungskompetitiv.
Es soll aberheißen, dass, wenn man sich einmal gegen das konsequent libertäre Modell entschieden hat,Anerkennungsansprüche mit Gründen - moralischer und auch historischer Art - beantwortetwerden müssen; man kann nicht selektiv zum lupenreinen Liberalen werden, ohneopportunistisch oder gar heuchlerisch zu erscheinen. Und da fast alle europäischenStaaten sich nun einmal eher in eine dignitäre Richtung orientiert haben, gibt es wohlkeine Alternative zu einer permanenten Aushandlung von Anerkennungsansprüchen - einUmschwenken auf eine konsistent libertäre Linie würde wahrscheinlich viel zu vielepolitische Verwerfungen nach sich ziehen.
Und eine transnationale Politik derAnerkennung und Beschämung? Hier ist man - zweiter Argumentationsstrang in derderzeitigen Diskussion - schnell mit dem Vorwurf bei der Hand, "Gutmenschen ohne Grenzen"seien am Werk, in einer unheiligen Allianz mit zynischen Politikern, welche ein paarhunderttausend armenische Stimmen in Frankreich für sich gewinnen und dem TürkeibeitrittHindernisse in den Weg stellen wollen. Sicher ist an dieser Sicht einiges dran -Erinnerungspolitik ist nie ganz frei von Instrumentalisierungen, kann es auch nichtsein.
Doch nicht alles muss gleich Gesetz werden - es gibt auch offizielle Erklärungenwie im Bundestag zu Armenien. Und Erklärungen von außen können unter Umständen helfen,einen Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Gang zu bringenbeziehungsweise einer liberalen gegenüber einer nationalistischen Fraktion in einem Landeden Rücken zu stärken. Zudem ist es nicht so, dass nur die vermeintlichen Gutmenschentransnationale Erinnerungspolitik betreiben: Im Oktober war auch Christoph Blocher in derTürkei, um sozusagen unisono mit türkischen Hardlinern die Schweizer Antirassismusgesetzezu kritisieren. Wer wirklich transnationale europäische Politik will, muss auch solcheKonflikte wollen, bei denen die Scheidelinien mitten durch die nationalen politischenKulturen gehen. Und eine nationalistische Gegenreaktion - wie jetzt in der Türkei - istnoch kein Gegenargument, was Beschämen ohne Grenzen angeht.
Die Hoffnung ist nichtgrundlos, dass transnationale Erinnerungspolitik einen postnationalen oder besser noch:postnationalistischen Prozess flankieren kann. Dabei geht es eben nicht darum, nationaleEigenheiten für ein Einheitseuropa aufzugeben, sondern kritische Distanz zu den eigenenVergangenheiten und damit auch gegenüber traditionellem Nationalismus zu gewinnen. Ob dasfranzösische Gesetz in seiner jetzigen Form zu diesem Prozess beiträgt, darüber kann mansich mit guten Gründen streiten, und es gibt kein Patentrezept, wie einpostnationalistischer Prozess am Laufen zu halten ist. Dass aber der postnationalistischeProzess Bedingung für den EU-Beitritt ist, ist unbestreitbar. JAN-WERNER MÜLLER
tazNr. 8130 vom 20.11.2006, Seite 11, 235 Kommentar JAN-WERNER MÜLLER, taz-Debatte