Tyrann 20. Jahrhunderts
11.09.2006 um 13:14
Mao und die Detektive
von Carlos Widmann
Mit Akribie und Abrissbirne: DieRotgardistin und Bestseller-autorin Jung Chang („Wilde Schwäne“) hat zwölf Jahregeforscht, um den Götzen zu zertrümmern. Trotz 70 Millionen Toten – das Regime brauchtihn noch.
Wie eine Gezeichnete wirkt sie nicht. In dem schönen Antlitz nachSpuren des Erlittenen zu suchen, wäre naiv. Auch ihr melancholisches Lächeln hat keinetraumatischen Ursachen – es ist, wie Familienbilder bezeugen, vom Vater ererbt. Und warumsollte eine Davongekommene ihren wohlverdienten Luxus nicht genießen dürfen? Am Brunelloim bauchigen Glas schnuppert die Chinesin kennerisch wie ein Sommelier. Die einmal durchdie Hölle ging und seither hartnäckig Höllenforschung treibt, bleibt charmant undsouverän, auch wenn das Gespräch immer wieder ihre Schmerzgrenzen berührt.
DerTeenager vom Tiananmen-Platz: Tatsächlich, das ist sie, die elegante Frau, diegelegentlich aus London mit ihrem Mann nach Umbrien kommt. Jung Chang trägt auf dem altenGruppenfoto eine graue Lenin-Jacke, ein rotes Halstuch, rote Armbinde und natürlich MaosRotes Büchlein. Wie Millionen war sie 1966 aus der tiefen Provinz nach Beijing gepilgert,um einen Blick auf den Vorsitzenden zu erhaschen. Der hatte Chinas Jugend aufgerufen zumKampf gegen den getarnten Klassenfeind, den kapitalistisch infizierten Volksschädling.Von ihren linientreuen Eltern war Jung zur Mao-Anbeterin erzogen worden: Mit 14 meldetesie sich in Chengdu zu den Roten Garden, trug begeistert die gebrauchten Armee-Klamotten,pinselte vage Hassparolen auf Plakate und Transparente. Wem sie galten, war ihr nochnicht klar. Bald wurde das Mädchen Jung Chang mitgenommen zu einem „Hausbesuch“. EineHorde Rotgardisten schnappte sich ein paar Lastwagen, raste zu einem Wohnblock, stürmteein Appartement. Nach und nach wurde die kleine Jung nach vorne geschoben, bis sie vollenEinblick hatte in die revolutionäre Aktion. Es stank nach Kot und Urin: Der Raum wardurchwühlt und rituell besudelt worden. Eine Vierzigjährige kniete halbnackt am Fußboden,ihr Haar blutverklebt, die Augen aus den Höhlen tretend, und schrie verzweifelt: „Meisterder Roten Garden! Ich schwöre es! Ich besitze kein Bild von Chiang Kai-shek!“ Sie schlugmit der Stirn rhythmisch gegen den Boden, ihr Rücken war von Messerstichen markiert, undwenn sich beim Kotau ihr Hinterteil hob, wurden Exkremente und Blut und dunkle Striemensichtbar. Der 17-jährige Anführer der Quälgeister schwang spielerisch seinen Uniformgurt.Jung hatte ihn auf der Schule bis dahin ganz nett gefunden. Als das Foltern weiterging,konnte sie davonlaufen; die Schreie verfolgten sie auf der Straße. 38 Jahre später wendetdie einstige Rotgardistin sich ihrem deutschen Tischnachbarn zu und plaudert – Orvietound Arezzo sind nicht fern – von den Fresken Signorellis oder Piero della Francescas. DieLasagna al tartufo nero ist den Gastgebern wunderbar knusprig geraten, wouldn’t you say?Unmöglich, sich diese schicke Person mit der schwingenden Haarpracht und derreizbewussten Körpersprache als eines jener schrillen, fuchtelnden, hysterischverkrampften, wild dreinschlagenden Wesen vorzustellen, die damals ein Viertel derMenschheit terrorisierten.
Der Veitstanz der Fanatiker hätte womöglich auchJung Chang in die Täterrolle hineingerissen. Erlaubter öffentlicher Sadismus wirkteansteckend. Doch bald nach der Beijinger Pilgerfahrt, auf der sie für einenSekundenbruchteil Maos Hinterkopf erblicken durfte, schlug die Gewalt bei ihr zu Hauseein: Jungs Eltern wurden zur Denunzierung geschleppt. Die Mutter musste öffentlich aufScherben niederknien und unflätige Beschimpfungen ertragen. Kreidebleich und blutend kamsie nach Hause. Tags darauf wurde sie mit einem Selbstbezichtigungs-Plakat durch dieStraßen getrieben, zu Boden geprügelt, zum Kotau vor den Garden gezwungen. Der Vater,durch Folter nicht zu brechen, verfiel zeitweilig dem Wahnsinn. Seinen einzigen Besitz,eine Sammlung chinesischer Klassiker, musste er eigenhändig verbrennen. Als er vor einemriesigen Mao-Bild niederknien sollte, blieb er aufrecht: „Das sind Riten der Feudalzeit,eines Kommunisten unwürdig!“ Danach wurde er jeden Tag abgeschleppt. Als Jung ihn abholendurfte, war sein Kopf schwarz angeschwollen von den Schlägen. Per Einschreibenappellierte der Vater nach Beijing: „Vorsitzender Mao, von Kommunist zu Kommunist fleheich Sie an, die Kulturrevolution zu beenden.“ Der Mutter gelang es, bis zu Zhou Enlaivorzudringen und von Chinas Regierungschef eine Art Persilschein zu erwirken. Das halfnur kurz: Jung sah ihren Vater bald wieder auf einem Lastwagen stehend durch die Straßenrollen, die Arme rückwärts in die unerträgliche „Düsenjäger-Stellung“ gezerrt, die Mao soamüsant fand und zu empfehlen pflegte. Beim Nachtisch wägt Jung Chang ihre Worte: „JedesOpfer hat Anspruch auf Vergeltung, aber mein Motiv ist das nicht.“ Auch ihr britischerEhemann Jon Halliday, der Jung bei ihrem Welterfolg „Wilde Schwäne“ (1992) geholfen hatteund nun als Koautor zeichnet, schließt Ressentiment als Triebfeder aus: „Wir wareneinfach gefesselt von der Figur Maos und der dämonischen Macht, die der Personenkult ihrverlieh.“ Aber kann das die ganze Wahrheit sein? Im Schrifttum über die Diktatoren des20. Jahrhunderts gehört „Mao“ von Jung Chang und Jon Halliday fortan zur Artillerieschwersten Kalibers. Das Ziel dieser „dicken Berta“ der geschichtlichen Revision ist eineakribische Götzen- und Mythen-Zertrümmerung: die moralische, politische und historischeErledigung des Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung. Jung und Jon waren ihm auf der Spur wieDetektive, sie wollten keinen Staatsmann porträtieren, sondern einen Verbrecher zurStrecke bringen. Nach der Lektüre ihrer Mao-Biografie gab der britische Historiker SimonSebag Montefiore dem Vorsitzenden den Vortritt: Mao sei „das größte Ungeheuer von allen“.Der Superlativ überrascht, weil Sebag Montefiore in seinem eigenen "Stalin – Der Hof desroten Zaren" (Cicero, Juni 2005) die Messlatte des Monströsen bereits unerreichbar hochgesetzt zu haben schien.
Zwölf Jahre Knochenarbeit. Kein Vorwort, keineSchlussbetrachtung. Die Deutungshoheit erheben die puren Fakten, die in dem Wälzer dasWort führen. Von China abgesehen, wo Jung Chang sich natürlich als Fisch im Wasserbewegt, wurden Archive in zehn Ländern abgegrast – wobei die russischen Akten erstmalsdie Schlüsselrolle der Bolschewiken bei der Unterwerfung Chinas enthüllten. (Der jungeMao fing als kleiner, mäßig besoldeter Agent des Stalinismus an.) Die Liste der 415Interview-Partner reicht von Henry Kissinger und George Bush dem Älteren bis Mobutu SeseSeko und Markus Wolf, von Maos Tochter Li Na und der Witwe Enver Hodschas bis zumLeibwächter Zhou Enlais. Auch die 93-jährige Li Xiu-shen taucht auf: Sie betrieb im Mai1935 einen Tofu-Laden bei der Brücke von Luding. Und es war Maos Mär von der Erstürmungdieser uralten Hängebrücke, die dem Mythos des Langen Marsches erst die zündendeBreitenwirkung verschaffte – in China und aller Welt.
Ein Westler half dabei.Der junge US-Journalist Edgar Snow, von Kommunisten in Schanghai als Sympathisantangeworben, wurde von Mao drei Monate lang in Yenan bewirtet. An seinem „Gespräch“ mitdem Vorsitzenden arbeitete das halbe Politbüro mit. Snows Standardwerk „Roter Stern überChina“ (1937) wurde von Mao redigiert und hat dessen symbolkräftige Bilder idealumgesetzt. Snow hat die Brücken-Überquerung („das entscheidende Ereignis des LangenMarsches“) lebensprall beschrieben: wie Maos Truppen im Kugelhagel der Nationalisten aufden brennenden Brettern über dem Abgrund vordringen und in heroischer Hingabe das andereUfer erobern. Jung Chang lächelt milde: alles Erfindung. Chiang Kai-shek hatte wegen derjapanischen Invasion seine Truppen nach Nordosten verlegt, die Brücke aufgegeben; es warnun in seinem Interesse, dass Mao aus dem Herzen Chinas an den Rand Tibets entfloh. Dieuralte Li Xiu-shen konnte sich gut an die damals bei ihr einquartierten Maoistenerinnern; von einer „Schlacht“ um die Brücke aber merkte sie nichts. Zhou Enlai wussteseinem Leibwächter von dem großen Drama nur zu berichten, dass ein Pferd spektakulär inden Fluss stürzte.
Aber Legenden leben länger als ihre Erfinder, wenn siefabuliert werden wie von Edgar Snow. Sein Stil erinnerte manchmal fast an den „rasendenReporter“ Egon Erwin Kisch, der ein paar Jahre vor Snow in China war und über jeneGebiete rhapsodierte, „die friedlich ihren Aufbau vollziehen, ohne Imperialismus oderKapitalismus, ohne Fremde, ohne Opium, ohne Privatbanken, ohne Kinderarbeit, ohneMissionare, ohne Gangster.“ Nachdem Mao auf Anweisung Moskaus 1931 sein Hauptquartier inRuijin errichtet und pünktlich zum 14. Jahrestag der Oktober-Revolution eineSowjetrepublik ausgerufen hatte, wusste Kisch von „acht Millionen Menschen“ zu berichten,„die nun lesen und schreiben gelernt haben“. Reif fürs literarische Kabarett war dasBeispiel, mit dem der große Kisch die Blitz-Alphabetisierung veranschaulichte: „Wo Lenins‚Staat und Revolution‘ wegen Papiermangels vergriffen war, kamen die Leute miteigenhändig geschöpftem Papier in die Druckerei und zogen das Buch vom Letternsatz ab.“Dass das heutige deutsche Reporter-Vorbild Egon Erwin Kisch solche Märchen geglaubt hat,ist unwahrscheinlich. „Egonek“ drang selber nie bis in die roten Gebiete vor –vermutlich, um dem Zwang zu monumentalen Realitätsfälschungen zu entgehen, die von ihmals Kommunisten erwartet worden wären. Zeitzeugen wie Snow und Kisch haben allerhand dazubeigetragen, dass Mao nach 1945 sogar vielen Leuten in Washington als chinesischerAbraham Lincoln erschien.
Wie es wirklich zuging in Ruijin, haben Jung Changund Jon Halliday krass dokumentiert. Eine Bauernrevolution? Maos wichtigste Waffe war vonAnbeginn der Terror. Seine Fußsoldaten wurden mit vorgehaltenem Gewehr rekrutiert,Verweigerer auf der Stelle erschossen. Die Dörfer wurden in Gefangenenlager verwandelt;wer unerlaubt Besucher empfing, wurde zusammen mit diesen hingerichtet. Ganz im GeisteJosef Stalins, der 1931 in der Ukraine gerade die physische Vernichtung der Bauernklassebetrieb, berichtete Mao der KP-Zentrale in Schanghai: „Die Partei ist hier nur zu retten,wenn sie von Kulaken gesäubert wird.“ Säubern hieß: töten. Um Rivalen auszuschalten, dieer als „AB“ (Antibolschewiken) denunzierte, hat Mao damals Zehntausende foltern undabschlachten lassen. Viele Mordbefehle sind schriftlich festgehalten, Folterungen bis insscheußlichste Detail überliefert. Der sexuelle Sadismus gegen Frauen erinnert an die„Vergewaltigung von Nanking“ durch japanische Soldaten.