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Bolivien und die Macht alter Zeiten: Indio als Präsident
23.01.2006 um 18:46Link: www.nzz.ch (extern) (Archiv-Version vom 09.02.2006)
die nachrichten gestern haben mich fasziniert!
eine neue ära bricht an:
Huldvoller Amtsantritt von Evo Morales in Bolivien
Anklänge an ein altes und mächtiges Vor-Inka-Reich in den Anden
Seit dem Sonntag ist Evo Morales Präsident Boliviens. Sein Amtsantritt markiert eine Zäsur, da Morales der erste Abkömmling eines vorkolonialen Volkes ist, der Bolivien regiert. Im Tempel von Tiahuanacu hatte er am Tag zuvor die Weihen eines Herrschers der indigenen Völker empfangen.
B. A. La Paz / Tiahuanacu, 22. Januar
Im Beisein mehrerer Staatsoberhäupter und des spanischen Kronprinzen Felipe hat Evo Morales am Sonntag in La Paz sein Amt als Präsident Boliviens angetreten. Nach Jahren der Instabilität hatte Morales bei der Wahl im Dezember eine für das Land einmalige absolute Mehrheit erreicht. Daran lässt sich ablesen, wie sehr die Wählerschaft politischer Lähmung, Strassenblockaden und steten Wechsels im Regierungspalast überdrüssig war. Das Wahlresultat war verblüffend, da Morales zu einem guten Teil für den Sturz seiner Vorgänger verantwortlich war, indem er die Opposition nicht nur im Parlament anführte, sondern auf die Strasse trug. Die Erwartungen an Morales sind enorm: Als Angehörigem der indigenen Mehrheit Boliviens, deren Anteil an der Bevölkerung mit jenem der Armen übereinstimmt (65 Prozent), wird von ihm Wiedergutmachung historischen Ausmasses verlangt.
Eine neue Ära
Am Tag zuvor hatte Morales in den mächtigen Ruinen von Tiahuanacu (Tiwanaku), unweit der Südspitze des Titicacasees, die Huldigung des Volkes der Aymara entgegengenommen. Eine solche Zeremonie fand, so hiess es in der Rede zur Begrüssung von «Bruder Evo», zum letzten Mal vor 513 Jahren statt. Im Vorfeld des Tempels Kalasasaya hatten sich etwa zwanzigtausend Personen versammelt, zum grössten Teil Aymara, aber auch viele Delegationen anderer Völker von nah und fern. Hoch über ihnen, auf der nach Jahrhunderten von Erosion und Raubbau kaum noch als solche erkennbaren Stufenpyramide Akapana, erschien - begleitet von Priestern in Weiss - Evo Morales. Er streckte dem Volk zwei Herrscherstäbe entgegen, als Symbol seiner Macht und Beschwörung von Glück und Fortüne.
Morales trug ein hellrotes Gewand, das die Ärmel des immer gleichen Pullovers - inzwischen sein Markenzeichen - nicht ganz verdeckte. Sein Haarschopf schien sich unter einer viereckigen zeremoniellen Mütze kaum bändigen zu lassen. Während stundenlangen Wartens ertrug das Publikum Wind und Regen in der 3870 Meter hoch gelegenen Ebene. Rechtzeitig zum Erscheinen des neuen Idols vorkolonialer Völker verzog sich ein Gewitter, und bald stach die Hochgebirgssonne herab. Europäische und nordamerikanische Gäste wickelten sich erst ein, rissen sich dann die Schichten vom Leib. Die Einheimischen hingegen standen reglos da, geschützt unter Kappen und Hüten, Ponchos und Tüchern, bunt, praktisch, schön, und wo zerschlissen, so stets mit Würde. Es flatterten die Wiphala, Flaggen aus 49 diagonal gereihten Quadraten in den Farben des Regenbogens, alte Symbole andiner Völker.
Che Guevara und «das Imperium»
Zwar lag ein von fern getrommelter Rhythmus in der Luft, zwar brandeten Rufe auf, doch es war Stille, die diese Zeremonie prägte, nicht Applaus und nicht Begeisterung. In seiner Rede von den Stufen des Tempels herab stellte Morales fest, dies seien Zeiten des Triumphs, des Wandels, doch sei Einheit notwendig, um das Kommende zu bewältigen. Geeint sei man stark genug, um «das Imperium» - die Vereinigten Staaten - zu besiegen. Er verhiess die Beseitigung des «kolonialen Staates» und des «neoliberalen Modells», worunter er Privatisierungen sowie die Konzentration von Reichtum in den Händen weniger versteht. Sein Amtsantritt bedeute die Vollendung des Kampfes, den Che Guevara begonnen habe. Der Revolutionär war 1967 im Osten Boliviens damit gescheitert, eine Rebellion unter Bauern zu entfachen. Der Aufruf zur Einheit schloss Intellektuelle, Unternehmer und den Mittelstand Boliviens ein; er legte diesen nahe, auf die indigenen Völker stolz zu sein. Man wolle Gleichheit, nicht Rache, so Morales, der seinen Wahlsieg als demokratische und kulturelle Revolution bezeichnete.
Das Land neu begründen
Der neue Präsident wählte im Allerheiligsten des Tempels grosse Worte: Es beginne ein neues Jahrtausend, ein neues Leben der vorkolonialen Völker («pueblos originarios») nicht nur Boliviens und Lateinamerikas, sondern der ganzen Welt. Allerdings blieb Morales vage, was dies bedeute; er sagte, die Völker suchten Gleichheit und Gerechtigkeit. Er forderte seine Gefolgschaft dazu auf, ihn zu überwachen und notfalls zu korrigieren; er könne sich irren, aber er werde den Kampf für die Befreiung der Völker nicht verraten. Im Kampf für die Unabhängigkeit Boliviens seien Millionen Indigener ums Leben gekommen, doch danach habe man diese verachtet, gedemütigt, gehasst. Daher begehrten sie das Land neu zu begründen. Morales kündigte die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung an. Die eingesessenen Völker nannte er «absolute Herren des Bodens» in Bolivien.
Tiahuanacu war etwa tausend Jahre lang das Zentrum eines Reichs im Herzen der Anden, dessen Macht ins Gebiet der heutigen Nachbarländer Chile, Peru und Argentinien ausgriff. Dank phänomenaler Technik und Organisation vermochte sich eine viel grössere Bevölkerung als die heutige im unwirtlichen Hochland zu ernähren und einen Überschuss zu erzeugen, der Handel und Eroberung ermöglichte. Die im 12. Jahrhundert aus ungeklärten Ursachen verschwundene Kultur beeinflusste die Inka. Viele Aymara, die sich als Nachfahren der Herren von Tiahuanacu verstehen, empfinden die Machtübernahme eines der Ihren als Chance, alte Grösse zu beleben und das Stigma, jahrhundertelang unterworfen und diskriminiert gewesen zu sein, loszuwerden.
Die Staaten blühen nur, wenn entweder Philosophen herrschen oder die Herrscher philosophieren.
Die schlimmste Art der Ungerechtigkeit ist die vorgespielte Gerechtigkeit.
- Platon -
die nachrichten gestern haben mich fasziniert!
eine neue ära bricht an:
Huldvoller Amtsantritt von Evo Morales in Bolivien
Anklänge an ein altes und mächtiges Vor-Inka-Reich in den Anden
Seit dem Sonntag ist Evo Morales Präsident Boliviens. Sein Amtsantritt markiert eine Zäsur, da Morales der erste Abkömmling eines vorkolonialen Volkes ist, der Bolivien regiert. Im Tempel von Tiahuanacu hatte er am Tag zuvor die Weihen eines Herrschers der indigenen Völker empfangen.
B. A. La Paz / Tiahuanacu, 22. Januar
Im Beisein mehrerer Staatsoberhäupter und des spanischen Kronprinzen Felipe hat Evo Morales am Sonntag in La Paz sein Amt als Präsident Boliviens angetreten. Nach Jahren der Instabilität hatte Morales bei der Wahl im Dezember eine für das Land einmalige absolute Mehrheit erreicht. Daran lässt sich ablesen, wie sehr die Wählerschaft politischer Lähmung, Strassenblockaden und steten Wechsels im Regierungspalast überdrüssig war. Das Wahlresultat war verblüffend, da Morales zu einem guten Teil für den Sturz seiner Vorgänger verantwortlich war, indem er die Opposition nicht nur im Parlament anführte, sondern auf die Strasse trug. Die Erwartungen an Morales sind enorm: Als Angehörigem der indigenen Mehrheit Boliviens, deren Anteil an der Bevölkerung mit jenem der Armen übereinstimmt (65 Prozent), wird von ihm Wiedergutmachung historischen Ausmasses verlangt.
Eine neue Ära
Am Tag zuvor hatte Morales in den mächtigen Ruinen von Tiahuanacu (Tiwanaku), unweit der Südspitze des Titicacasees, die Huldigung des Volkes der Aymara entgegengenommen. Eine solche Zeremonie fand, so hiess es in der Rede zur Begrüssung von «Bruder Evo», zum letzten Mal vor 513 Jahren statt. Im Vorfeld des Tempels Kalasasaya hatten sich etwa zwanzigtausend Personen versammelt, zum grössten Teil Aymara, aber auch viele Delegationen anderer Völker von nah und fern. Hoch über ihnen, auf der nach Jahrhunderten von Erosion und Raubbau kaum noch als solche erkennbaren Stufenpyramide Akapana, erschien - begleitet von Priestern in Weiss - Evo Morales. Er streckte dem Volk zwei Herrscherstäbe entgegen, als Symbol seiner Macht und Beschwörung von Glück und Fortüne.
Morales trug ein hellrotes Gewand, das die Ärmel des immer gleichen Pullovers - inzwischen sein Markenzeichen - nicht ganz verdeckte. Sein Haarschopf schien sich unter einer viereckigen zeremoniellen Mütze kaum bändigen zu lassen. Während stundenlangen Wartens ertrug das Publikum Wind und Regen in der 3870 Meter hoch gelegenen Ebene. Rechtzeitig zum Erscheinen des neuen Idols vorkolonialer Völker verzog sich ein Gewitter, und bald stach die Hochgebirgssonne herab. Europäische und nordamerikanische Gäste wickelten sich erst ein, rissen sich dann die Schichten vom Leib. Die Einheimischen hingegen standen reglos da, geschützt unter Kappen und Hüten, Ponchos und Tüchern, bunt, praktisch, schön, und wo zerschlissen, so stets mit Würde. Es flatterten die Wiphala, Flaggen aus 49 diagonal gereihten Quadraten in den Farben des Regenbogens, alte Symbole andiner Völker.
Che Guevara und «das Imperium»
Zwar lag ein von fern getrommelter Rhythmus in der Luft, zwar brandeten Rufe auf, doch es war Stille, die diese Zeremonie prägte, nicht Applaus und nicht Begeisterung. In seiner Rede von den Stufen des Tempels herab stellte Morales fest, dies seien Zeiten des Triumphs, des Wandels, doch sei Einheit notwendig, um das Kommende zu bewältigen. Geeint sei man stark genug, um «das Imperium» - die Vereinigten Staaten - zu besiegen. Er verhiess die Beseitigung des «kolonialen Staates» und des «neoliberalen Modells», worunter er Privatisierungen sowie die Konzentration von Reichtum in den Händen weniger versteht. Sein Amtsantritt bedeute die Vollendung des Kampfes, den Che Guevara begonnen habe. Der Revolutionär war 1967 im Osten Boliviens damit gescheitert, eine Rebellion unter Bauern zu entfachen. Der Aufruf zur Einheit schloss Intellektuelle, Unternehmer und den Mittelstand Boliviens ein; er legte diesen nahe, auf die indigenen Völker stolz zu sein. Man wolle Gleichheit, nicht Rache, so Morales, der seinen Wahlsieg als demokratische und kulturelle Revolution bezeichnete.
Das Land neu begründen
Der neue Präsident wählte im Allerheiligsten des Tempels grosse Worte: Es beginne ein neues Jahrtausend, ein neues Leben der vorkolonialen Völker («pueblos originarios») nicht nur Boliviens und Lateinamerikas, sondern der ganzen Welt. Allerdings blieb Morales vage, was dies bedeute; er sagte, die Völker suchten Gleichheit und Gerechtigkeit. Er forderte seine Gefolgschaft dazu auf, ihn zu überwachen und notfalls zu korrigieren; er könne sich irren, aber er werde den Kampf für die Befreiung der Völker nicht verraten. Im Kampf für die Unabhängigkeit Boliviens seien Millionen Indigener ums Leben gekommen, doch danach habe man diese verachtet, gedemütigt, gehasst. Daher begehrten sie das Land neu zu begründen. Morales kündigte die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung an. Die eingesessenen Völker nannte er «absolute Herren des Bodens» in Bolivien.
Tiahuanacu war etwa tausend Jahre lang das Zentrum eines Reichs im Herzen der Anden, dessen Macht ins Gebiet der heutigen Nachbarländer Chile, Peru und Argentinien ausgriff. Dank phänomenaler Technik und Organisation vermochte sich eine viel grössere Bevölkerung als die heutige im unwirtlichen Hochland zu ernähren und einen Überschuss zu erzeugen, der Handel und Eroberung ermöglichte. Die im 12. Jahrhundert aus ungeklärten Ursachen verschwundene Kultur beeinflusste die Inka. Viele Aymara, die sich als Nachfahren der Herren von Tiahuanacu verstehen, empfinden die Machtübernahme eines der Ihren als Chance, alte Grösse zu beleben und das Stigma, jahrhundertelang unterworfen und diskriminiert gewesen zu sein, loszuwerden.
Die Staaten blühen nur, wenn entweder Philosophen herrschen oder die Herrscher philosophieren.
Die schlimmste Art der Ungerechtigkeit ist die vorgespielte Gerechtigkeit.
- Platon -