Der Preis der Wüste
Die Träume kehrten jede Nacht zurück. Immer dasselbe. Anfangs war das schlimm gewesen. Sehr schlimm. Mittlerweile konnte er damit umgehen. Ein normales Leben war es trotzdem nicht. Aber er machte das Beste daraus. Wie man es ihm beigebracht hatte. Jeder Situation immer das Optimum entlocken. Und wenn das nicht ging, dann wurden die Bedingungen geändert, bis sie sich dem gewünschten Ergebnis anpassten. Immer. Ohne Rücksicht.
Sergeant Edward „Tommy“ Thompson lehnte an der Mauer, ein paar Meter neben dem Hubschrauber. Der in Desert-Camo gehaltene Westland Lynx Mk.7 des SAS hatte eine dreiköpfige Crew aus Offizier, Sanitäter und Scharfschützen, das war er, abgesetzt, nun stand er einfach da, mit abgestelltem Motor und wartete.
Der Copilot, Lieutenant Franklin „Franky“ Gibbs, lauschte nur auf das Kommando zum Start und behielt die Instrumente im Blick. Der Einsatz war als Extraktion ausgelegt, allerdings ging es „nur“ um das Abholen einer Geisel. Dienstalltag in Afghanistan. Irgendein Geschäftsmann und inoffizieller Diplomat. Das geschah öfters, war aber nicht allzu tragisch. Es wurde einfach ein Lösegeld bezahlt, die Leute hier waren genügsam, dann konnten die gut behandelten „Gäste“ wieder zurück. Ein kleines Geben und Nehmen. Solange sich alle an die unausgesprochenen Regeln hielten. Diesmal ging es um einen Deutschen Geschäftsmann, es gab viele Niederlassungen weltweiter Firmen hier und seinen Assistenten und die Sekretärin. Wobei die Worte Assistent und Sekretärin eher Synonyme waren für eventuellen Begleitschutz. Da sie nur zu dritt waren und auch der Einsatztrupp nur drei Mitglieder zählte, mit Pilot und Kopilot waren es gerademal Fünf, reichte der einzelne Helikopter aus. Außerdem war es nur ein simpler Austausch, eine Transaktion, wie sie hier ständig vorkam. Nichts Ungewöhnliches oder Gefährliches. Der Leitende Offizier der Truppe, Commander Hachez, war mit dem Sanitäter und einem Aktenkoffer zu den Behausungen gegangen. Dort würden sie den Tausch durchführen und dann schnellstens wieder zur Basis zurückkehren. Hachez, von allen „der Eiserne“ genannt, war ein ziemlich harter Brocken, immer aus auf Action. Dem Sergeant war unklar, wie er überhaupt hatte so weit kommen können. Wer beim SAS war, durfte nicht zimperlich sein und wenn es hart auf hart ging, wurde die Mission gnadenlos durchgezogen. Aber Mr. Iron war jemand, der den Trouble nicht nur anzuziehen schien, nein, er beschwor ihn geradezu herauf. Trotzdem brachte er seine Aufträge immer zur Zufriedenheit zu Ende, wenn auch oft genug etwas zu blutig, wie mancher fand. „Tommy“ beobachtete die Szenerie durch das Zielfernrohr seines L 96 A1.
Alles ok, soweit. Sie kamen raus. Er teilte es „Franky“, dem auch die Kommunikation oblag, mit. „Eye für Ear, das Paket wurde zugestellt. Sie kommen jetzt raus.“ Prompt kam die Bestätigung. „Ear hat empfangen, Startvorbereitung“ Fast synchron startete der Pilot, Flight Captain Archibald „Arc“ Harris den Antrieb des Lynx, erst hörte man ein dumpfes Dröhnen, das sich zu einem immer höher werdenden Jaulen steigerte. Schnell rein und raus war ihre Devise. Doch irgendetwas schien nicht zu stimmen. Drei Personen, zwei davon in Militärkleidung, liefen auf den wartenden Hubschrauber zu. Fünf hätten es aber sein müssen! Wo waren die andern beiden? „Eye für Ear, es kommt nur ein Drittel der Fracht!“ informierte Thompson die Crew des Helis. „Ear für Eye, Lagecheck!“ kam sofort die Rückmeldung. „Keine Auffälligkeiten“ Sonst schien alles in Ordnung. Andere, in traditionelle Kleidúng und mit alten AK-47 Sturmgewehren bewaffnete verließen nun ebenfalls die Hütte, er konnte einen den Aktenkoffer tragen sehen, Sie begaben sich zu einigen alten Geländewagen russischen Typs und fuhren gleich fort. Soweit schien alles ok. „Eye für Ear, die Postboten samt Paket sind auf dem Heimweg.“ Die drei Passagiere waren auf Fünfzig Meter herangekommen, als plötzlich die Fahrzeuge mit kreischenden Motoren zurück kamen und sofort das Feuer eröffneten! Ein auf einer Lafette montiertes MG gab knatternde Salven ab, die um den Westland einschlugen und drei Löcher in die Cockpitkanzel rissen. Thompson visierte den Schützen an und schoss, während er Franklins Stimme über Funk rufen hörte „Notfallevakuierung! Brauchen medizinische Unterstützung und Feuerschutz!“. Durch die Optik sah er den Kanonier vom Jeep fallen, dann blickte er schnell zum Heli und sah die gesplitterte Scheibe, hinter der blutüberströmt Harris in den Gurten hing. „Verdammt, was lief hier schief?“ Der Sergeant blickte wieder, neue Ziele suchend, durch die Optik des Scharfschützengewehrs und feuerte weiter. Die Wagenkolonne kam mit quietschenden Reifen zum Stehen, bei zweien zischte weißer Dampf aus den Kühlern. Sie näherten sich nicht weiter und blieben auf Abstand. Als Edward zur Seite blickte, wusste er auch warum. Der Commander war fast heran, bewegte sich rückwärts, während er eine Geisel als Schild vor sich hielt und wie wild mit seiner Dienstpistole, einer Sig Sauer P228, Standardausrüstung des SAS, herumfuchtelte. Der Sanitäter, Corporal Hendrik „Dobby“ Dobson lag weiter vorne auf der Straße, das Gesicht im Dreck, es musste ihn erwischt haben. „Verdammt!“ fluchte Thompson. Die Schutzperson war unterdessen angekommen und verkroch sich sofort im Hubschrauber. Warum kam Hachez nicht nach? Schien er die Situation etwa absichtlich in die Länge ziehen zu wollen? Es sah fast so aus als genoss er das Ganze, aber das konnte doch nicht sein! Tommy konnte jetzt Einzelheiten erkennen, die Gestalt, die Hachez vor sich hielt, war klein und schmächtig, ein junges Mädchen. „Was soll der Scheiß?“ Prompt bekam er Antwort „Keine Ahnung Eye, der Eiserne soll sich einfach beeilen, wir wollen abhauen!“ In dem Moment kam eine weitere kleine Gestalt auf Hachez zu, die sich wohl von der weinenden und bettelnden Menge, die wohl aus Frauen und Kindern zu bestehen schien, losgerissen hatte. Er schätzte den Jungen auf zwölf, höchstens dreizehn. Er war unbewaffnet. Wahrscheinlich wollte er um Gnade für das Mädchen bitten. Sie muss seine Schwester sein, durchfuhr es Edward. Er war vielleicht auf Zehn Meter heran, da hob Hachez die Pistole und schoss auf ihn. Einfach so. Der Junge brach tot zusammen, die Menge schrie noch lauter und bevor sie entrüstet näher kommen konnte, feuerte der noch ein paarmal auf die versammelten Menschen. Auch wieder einfach so. Die kreischenden Alten und Kindern versteckten sich so gut es ging, auch die Kerle von den LKW’s und Jeeps duckten sich und kamen nicht näher, scheinbar wollten sie kein weiteres Blutvergießen provozieren. Edward rannte zum Helikopter, verstaute das Gewehr, dann schaute er zu Hachez, der jetzt auch angekommen war. „Sir, der Junge hatte keine Waffe!“ rief er. Der Commander schaute kurz nach hinten, immer noch das weinende Mädchen schützend vor sich haltend. „Er wollte gerade eine ziehen Sergeant!“ brüllte dieser zurück. Davon hatte Thompson aber nichts gesehen. „Sir …“setzte er wieder an. „Es ist doch scheißegal um die Drecksblagen, einer weniger ist immer besser!“ beantwortete er Edwards ungestellte Frage. Der war mehr als verdutzt „Was soll der Scheiß!“ rief er unverblümt und diesmal bewusst ohne ein Sir. „Wir müssen weg!“ hörten sie Franklins Stimme über den Rotorenlärm. Das Mädchen war nun völlig hysterisch und wollte sich befreien, einfach nur weglaufen. Hachez hielt es noch am ausgestreckten Arm fest, es drehte sich flehentlich da ließ er einfach ihre Hand los und schoss ihr ins Gesicht! Sie brach zusammen wie ein weggeworfener Putzlumpen, wie wenn man etwas wertloses einfach so wegwirft. Edward sprang vorwärts, wollte der kleinen helfen, als Hachez die Waffe auf ihn richtete. „Sofort in den Heli Soldat, das ist ein Befehl, ich hab gerade ihr beschissenes Leben gerettet!“ schnauzte der ihn an. Edward stand stocksteif da, das konnte doch nicht sein? „Was…?“ begann er, völlig verstört von dem eben erlebten. „In die Maschine, aber dalli, sonst erschieße ich sie wegen Befehlsverweigerung und Kollaboration mit dem Feind!“ brüllte Hachez jetzt wie ein durchgedrehter Irrer. Durch die Pistole des Commanders bedroht, stieg Thompson wortlos und verwirrt, aber wütend ein. Der Eiserne folgte, blieb in der Tür und zielte weiterhin mit der Pistole nach draußen, während der Hubschrauber abhob und schnell an Höhe gewann. Von oben konnte man sehen, wie die Menge sich jetzt klagend um die beiden, kleinen Körper versammelte. Hachez verschloss die Tür, holsterte die Sig Sauer wieder und erklärte Triumphierend, wie als wäre er der große Held, „Da haben wir ja noch mal Schwein gehabt Jungs!“ Als er sich umdrehte um sich zu setzten, traf ihn die geballte Faust Thompsons…
Langsam beruhigte sich Edwards Atem wieder, er schob die Decke zur Seite und richtete sich in einem Schneidersitz auf, dann positionierte er die Arme vor der Brust und begann zu meditieren. So wie der alte Mönch es ihm beigebrachte hatte. Während er immer wieder dasselbe Mantra vor sich hin murmelte, bemerkte er wie seine Gedanken und sein Körper langsam leichter und stiller wurden. Nach einigen Minuten erreichte er einen Zustand geistiger Leere und dennoch Erfülltheit. Für kurze Zeit konnte er nun vergessen und Ruhe und Frieden finden…