Das Grauen aus den Wäldern
Gerade als der Gendarmerielieutenant ihn mit seinem Namen ansprechen wollte, ging sein Funkgerät an. Noch ein letzter Blick, dann gab er dem Fremden seinen Pass zurück und ging etwas abseits.
Doch die Funkverbindung war schlecht. Er ging zum Kneipier und kurz darauf hatte er das Telefon des Wirtshauses auf dem Tresen und sprach. Beim Telefonat war er ernst und konzentriert. Er redete noch kurz mit Jaques, dann verließ er die Wirtsstube. Als er zum Tresen ging um zu bezahlen begegnete der Fremde den verächtlichen Blicken von Andre Voltaire, der auch gerade ging. Dieser miese kleine Gauner war sicher nicht erfreut, dass der Arm des Gesetzes in Chateau Noir nun ein neues Gesicht hatte. Er würde sich sicher neu arrangieren müssen, da der alte Kommandant Rochefort nun in Pension ging. Ob es ihm gelingen würde, stand auf einem ganz anderen Blatt. Aber das war nicht sein Problem. Als sie alleine waren, sprach er Jaques an. Der erzählte ihm hastig, was er von dem Gendarmen, Nicolas Devereaux, erfahren hatte. Der Fremde ließ sich nichts weiter anmerken, vor allem nicht als der alte Mann ihm über den Toten erzählte. Und seine Verletzungen. Er wie auch Devereaux gingen von einem Tierangriff aus. Zwar sehr selten, in dieser Gegend noch mehr, aber die einzig logische Erklärung. Er hörte nebenbei mit, wie Jaques meinte, er wolle doch sein altes Jagdgewehr lieber hervorholen und vorbereiten, man könne ja nie wissen. Und je schneller so ein wildes Tier erlegt werde, umso besser für das Dorf. Schlechte Werbung konnte es nicht gebrauchen und auch nicht ausbleibende Touristen. Der Fremde musste dabei an die anderen Toten denken, rief sich die Berichte wieder ins Gedächtnis. Die Verletzungsbilder die der alte Mann beschrieben hatte, waren identisch. Das dies jetzt auch hier geschah, konnte kein Zufall sein! Wenn er dem nachgehen konnte, schloss sich hier möglicherweise eines der letzten Teile des großen Puzzles zusammen. Und der alte Mann konnte endlich alle Fragen beantwortet kommen und seinen Frieden machen. So wie viele andere dann auch, dachte er sich, wovon Jaques jedoch nichts ahnte. Zum Glück auch, sonst hätte er womöglich schon längst einen sinnlosen Ein Mann Rachefeldzug gestartet, der in nur vollends ins Verderben gebracht hätte. So verabschiedete er sich von dem Wirt, ihm versprechend ihn auf dem Laufenden zu halten, sollte es etwas Neues geben. Er dachte noch kurz daran Andre Voltaire in seinem „Geschäftssitz“ aufzusuchen, verwarf dann aber den Gedanken. Wenn er sich dort jetzt etwas „besorgte“ brachte dies möglicherweise mehr Probleme als Nutzen. Außerdem vertraute er diesem Möchtegern Schwarzhändler in keinster Weise. Und sein Status hier musste unauffällig sein und sauber bleiben. Er beschloss zur Angelhütte im Wald zu gehen und dort sein weiteres Vorgehen abzustimmen.
Als der Fremde das Gasthaus verließ, fuhr der Gendarm an ihm vorbei, Richtung Bahnhof. Ob er etwas wusste? Immerhin kam er von außerhalb und hatte möglicherweise eine Verbindung zu den anderen Opfern erkannt? Zumindest zu den französischen. Er überlegte sich, demnächst eine Situation zu arrangieren, um mit Nicolas Devereaux ganz unverfänglich ein Gespräch zu beginnen. Schon mal ein Anfang für den Plan gratulierte er sich selbst. Den Rest würde er auch noch austüfteln, bis alles passen würde. Er war sich sicher, dass die Lösung nicht mehr weit weg war. Wie nah sie war ahnte er nicht im Geringsten. Diesmal ließ ihn sein siebenter Sinn im Stich…
Es waren einige Minuten vergangen und der Fremde ging weiter zu seiner Angelhütte im Wald, in Richtung des Waldsees. Er horchte auf. Waren da nicht etwa weit entfernt Schreie? Er lauschte angestrengt. Nichts. Dann war es ihm plötzlich als ob in der Ferne ein Motor gequält aufheulen würde, gefolgt von splitterndem Holz. Erneut lauschte er konzentriert, wieder nichts. Womöglich spielten ihm seine Sinne einen Streich und irgendwo im Wald fällte nur jemand Holz, arbeitete mit einer Kettensäge, die solche Geräusche durchaus produzieren konnte. Zufrieden mit seiner logischen Erklärung bemerkte er plötzlich den Mann auf der Lichtung.
Blutüberströmt näherte der sich ihm langsam. Seine Nackenhaare sträubten sich und mit einem Male hatte er ein ungutes Gefühl. Ein sehr ungutes sogar. Er versuchte das gerade erlebte mit dem von ihm logisch begründeten Waldarbeiter in Verbindung zu bringen. Ein wo möglicher Unfall? Nein, das passte einfach nicht. Und wieder war es da, diese Gefühl. Es machte ihn achtsam und vorsichtig. Der Wald in der warmen Nachmittagssonne hatte plötzlich seine Vertrautheit und Geborgenheit verloren und sich in einem kalten, grausamen Ort verwandelt. Wo er alleine war. Der Mann kam langsam näher. Der Fremde sprach ihn an, mit lauter, klarer Stimme, doch er bekam keine Antwort. Als er näher kam und die Verletzungen sehen konnte, durchzuckte ihn ein Adrenalinstoß! Dieselben Verletzungen wie bei den anderen Toten! Entweder wurden sie so gefunden oder sie waren schon in diesem Zustand bei ihren Gräueltaten gewesen. Jetzt begann es also auch hier! Verdammt, wäre er doch lieber zu dem vermaledeiten Schwarzhändler gegangen vorhin.. Hatte er womöglich etwa einen großen Fehler begangen damit? Einen Fehler, der sich nicht mehr korrigieren ließ? Schon war der Mann nah heran, der Fremde konnte jetzt alle Details sehen, Selbstverstümmelungen, wie er aus den Berichten wusste. Der Mann wurde schneller, begann zu brüllen wie ein wundes, wildes Tier und ging auf ihn los! Der Fremde schleuderte dem Irren seine Angeltasche ins Gesicht, trat ihm gegen das Bein und sprang zur Seite. Die Hände des Verrückten griffen ins Leere, hatten wohl auf seinen Hals gezielt. Er versuchte die verhedderte Tasche von Armen und Gesicht loszuwerden und war kurz beschäftigt, bevor ihm das gelang und er sich mit einem bösartigen Knurren wieder dem Fremden zuwandte. Dieser hatte sich nun in Position gebracht und hielt die Angelrute mit der rechten Hand wie einen Degen, die linke war wie ein Schild vor Gesicht und Körper um ihm Deckung zu geben. Der Fremde wusste scheinbar was er tat. Mit einem schnellen Ausfallschritt kam er nach vorne, noch bevor der Verrückte reagieren konnte und hatten ihm ein paar schnelle Hiebe verpasst. Geführt gegen Arme und Beine des Angreifers, sollte die elastische Rute eigentlich wie eine Peitsche wirken. Oder wie ein Schlagstock. Doch der Verstümmelte schien die Schläge nicht sonderlich zu bemerken. Lautes Klatschen, das Geräusch platzender Haut und spritzendes Blutes schien in eher noch anzustacheln. Als er so mit offener Deckung den Fremden angriff, nutzte dieser sein As!
Mit der Rute wehrte er die klammernden Hände ab und trat mit voller Wucht zwischen die Beine! Voila! Doch außer dumpfen Grunzen und kurzzeitigem zurückweichen geschah nichts weiter! Das kann nicht sein Schoss es dem Fremden durch den Kopf. Der Kerl müsste k.O. sein! Schnell trat er ihm gegen die Brust um Distanz zu gewinnen. Wahrscheinlich sind seine Schmerzrezeptoren total blockiert und außer Funktion, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen! Die anschließende Konsequenz des ganzen ernüchterte ihn jedoch sofort. Es würde nur eine Möglichkeit geben den Wahnsinnigen zu stoppen.. Es blieb ihm keine andere Wahl. Erneut deckte er ihn mit Hieben ein, die ihn zwar etwas ablenkten, massiv verletzten, allerdings nicht im Geringsten stoppen konnten. Das war aber auch nicht der Sinn des Ganzen. Als der kreischende Irre seitlich von ihm ins Leere stieß nutzte der Fremde seine einzige Chance. Ein harter Tritt vor die Kniescheibe ließ diese krachend platzen. Unfähig für rasche Bewegungen nun, konnte er dem Fremden nun nicht mehr so schnell folgen. Dieser brachte sich flink auf die andere Seite, wo er einen weiteren Tritt gegen das andere Bein des Angreifers los ließ, was mit einem knackenden Splittern belohnt wurde. Der offene Bruch des Schienbeins brachte den Irren auf Kniehöhe und bevor er noch etwas anderes tun konnte, war der Fremde erneut um ihn herum und auf seiner Seite. Der Verstümmelte drehte den Kopf zu ihm und dieser sah den mörderischen Wahnsinn in seinen Augen, wissend dass er nicht aufhören würde. Die Rute lag nun wie ein Schwert in beiden Händen, er holte aus und ließ sie gegen den Kehlkopf schmettern. Der Schlag war mit solcher Wucht geführt, das die Rute zerbrach, zerplatzte und damit Luftröhre und Kehle des Mannes zerschlug und zerfetzte..
Dieser fiel hintenüber versuchte aber immer noch hoch zu kommen und den Fremden anzugreifen. Doch der wusste dass er gewonnen hatte. Wie er am Boden lag und keine Luft mehr bekommen konnte, hatte er höchstens noch zwei Minuten. Das Gurgeln, Röcheln und Pfeifen steigerte sich zu einem Crescendo des Grauens. Der Kerl denkt weder an sich noch an seine Verletzungen, alles was ihn antreibt ist mich zu killen! Diese Erkenntnis traf den Fremden blitzartig. Aber ich bin kein Mörder, ich habe mich nur verteidigt! Er hätte nie aufgehört in seinem Irrsinn. Ich habe ihn nicht getötet. Ich habe ihn nur von seinem kranken Wahnsinn und der Mordlust befreit, ihn erlöst! Während er dem Sterbenden auf dem Waldboden zusah, fügten sich weitere Puzzleteile für ihn zusammen. Oh ja, er musste dringend mir diesem Devereaux sprechen, Zeit die Sache publik zu machen! Und dann brauchte er Urlaub, richtigen Urlaub. Er fühlte sich leer, alt und müde wie lange nicht mehr.
Von diesem Gedanken und dem Anblick des besiegten und sterbenden abgelenkt, bemerkte er nicht die Zweite Gestalt hinter sich. Als er den Schatten wahrnahm und aus den Augenwinkeln den großen Stein erblickte, den der andere hoch erhoben über seinem Kopf schlagen wollte ging ihm nur noch eines durch den Sinn. „Zu spät.. Diesmal hab Ichs richtig vermasselt…“
In der Ferne konnte man ein Käuzchen hören, wie es unheilvoll in den weiten Wald rief. Das Krachen eines Schädels war da schon längst verklungen, ungehört.