@informer @Dr.Manhattan @schmitz @Stagg @Sidhe @helin @Valentini In Großbritannien wartet Julian Assange auf seine Auslieferung an Schweden, US-Justizminister Eric Holder will ihn am liebsten selbst vor Gericht bringen. Es gibt dabei nur ein Problem: Es existiert kein passendes Gesetz, gegen das der WikiLeaks-Gründer verstoßen hätte - noch nicht.
"Was nicht passt, wird passend gemacht" ist der Titel einer populären deutschen Komödie und Ausdruck einer ausgeprägten Machermentalität. In den Vereinigten Staaten läuft gerade eine lebhafte Debatte darüber, ob eine derartige Denke angebracht ist, wenn es um so sensible Themen wie den Schutz von Amerikas Geheimnissen und Sicherheitsinteressen geht, aber auch die Meinungs- und Publikationsfreiheit. Anstoß ist, wie könnte es anders sein, die Debatte um WikiLeaks und dessen Gründer Julian Assange.
Den haben Amerikas Konservative in den vergangenen Wochen als Staatsfeind Nummer eins ausgemacht. Anklagen sollte man ihn, forderten etliche, erschießen sollte man ihn, meinten andere sogar - vielleicht im Wissen darum, dass es bisher kaum eine Grundlage für eine Anklage gegen Julian Assange oder WikiLeaks gibt?
Denn genau so ist das: Amerikas Top-Juristen zerbrechen sich die Köpfe, wie man eine wasserdichte Anklage gegen Assange begründen könnte. Zwar begrüßte Verteidigungsminister Robert Gates Assanges Verhaftung als "gute Nachricht". Am Sonntag legte US-Präsident Barack Obama nach und nannte WikiLeaks-Aktivitäten ungewöhnlich deutlich "verabscheuungswürdig". Das alles aber sind noch immer persönliche Wertungen: Ansprüche an Großbritannien, Assange in die Vereinigten Staaten zu überstellen, haben die USA noch nicht angemeldet.
Auf welcher Basis auch? Der letzte Versuch, das 1917 verabschiedete US-Anti-Spionage-Gesetz gegen ein Publikationsorgan anzuwenden, das Geheimnisse veröffentlicht hatte, scheiterte 1971. Wie nun im Falle der über WikiLeaks öffentlichgemachten US-Botschaftsdepeschen war dieses indiskrete US-Medium die "New York Times". Der auch um schrille Töne mitunter nicht verlegene US-Senator Joe Lieberman regte deshalb in Rupert Murdochs erzkonservativem TV-Sender Fox an, die "New York Times" gleich mit zu verklagen - wegen Verstößen gegen den Espionage Act. Den will Lieberman ausgebaut sehen um Passagen, die es dem US-Justizministerium erleichtern würden, Assange anzuklagen. Er ist gerade beteiligt an gleich zwei Gesetzesvorlagen mit dieser Stoßrichtung.
Worum geht es hier? Um Schutz? Oder um Vergeltung?
Und er steht nicht allein damit. Peter King, der designierte neue konservative Vorsitzende des Kongress-Geheimdienstausschusses, legte Ende der Woche die "Securing Human Intelligence and Enforcing Lawful Dissemination Bill" vor - formell H.R.6506, kurz, knackig und sinnfällig aber einfach "Shield" getauft.
Shield ist ein typischer Fall von "Was nicht passt, wird passend gemacht". Die Gesetzesvorlage erweitert die Anti-Spionage-Gesetzgebung um Bestimmungen zum Schutz der Informanten von Militär und Geheimdiensten. Denn das ist einer der stichhaltigsten Vorwürfe gegen Assange und WikiLeaks: Mit der Veröffentlichung der Afghanistan- und Irak-Dokumente das Leben von Informanten in Gefahr gebracht zu haben. Was sollte man WikiLeaks hingegen in Bezug auf die Botschaftsdepeschen vorwerfen? Öffentlichgemacht zu haben, wie abfällig in US-Diplomatenkreisen kommuniziert wird?
So etwas bezeichnet auch Lieberman allenfalls als "schlechtes Bürgerverhalten", aber "ob die damit ein Verbrechen begangen haben", sagte er im Fox-Interview, bedürfe "einer intensiven Prüfung durch das Justizministerium".
Im aufgeheizten Klima der Debatte um die erfolgreichste und umstrittenste Enthüllungsplattform der Welt reichten schon diese Äußerungen, um den Zorn hackender Pro-WikiLeaks-Protestierer auf sich zu ziehen. Mitte der Woche gaben die Server von Joe Liebermans Web-Seite zeitweilig den Geist auf - der Senator war virtuell mundtot gemacht worden.
Mundtot gemacht zu werden, genau das sei hier die Gefahr, warnte am Samstag das Editorial der "Washington Post" - eine Zeitung, die durch die Veröffentlichung der Dokumentation des Watergate-Skandals selbst aufs engste mit dem "Whistleblower"-Thema verbunden ist. Selbst wenn einige der Aktivitäten von WikiLeaks unter dem Espionage Act anzuklagen wären, seien sie andererseits doch durch die Prinzipien der Presse- und Meinungsfreiheit gedeckt. An denen aber dürfe man nicht rühren: Wer Gesetze auf den Weg bringe, um WikiLeaks zum Schweigen zu bringen, treffe damit auch die Medien.
Die Pressefreiheit als Kollateralschaden?
Wörtlich argumentiert das namentlich nicht gezeichnete Editorial: "Das zu tun würde den Austausch von Informationen kriminalisieren und verantwortungsvoll agierende Medienunternehmen gefährden, die ihr Material prüfen und den Schutz ihrer Quellen ernst nehmen und ihre Methoden überprüfen, wenn Leben oder die nationale Sicherheit in Gefahr sind."
Vielmehr solle der so leicht zu verletzende Espionage Act sogar zusammengestrichen oder gleich abgeschafft werden. Der Staat habe zwar das Recht und die Pflicht, seine Informationen zu schützen, aber eben nicht auf diese Art. Es sei richtig gewesen, den Soldaten anzuklagen, der die US-Dokumente an WikiLeaks weitergegeben habe. Ansonsten aber solle man die Vorgänge zum Anlass nehmen, die eigenen Lecks abzudichten ( auch das versucht die Obama-Administration natürlich).
Eine nachvollziehbare Perspektive, wenn man die historischen Vergleiche zieht, die zu ihrer Zeit von Kritikern ebenfalls als Verrat gedeutet wurden: Die Veröffentlichung der sogenannten Pentagon-Papiere durch die "New York Times" wird als einer der entscheidenden Faktoren gesehen, die zur Beendigung des Vietnamkrieges führten; die Watergate-Veröffentlichungen der "Washington Post" führten zum Rücktritt des US-Präsidenten Richard Nixon, der sich bei diversen Missbräuchen seiner Macht inklusive des Abhörens politischer Gegner hatte erwischen lassen.
"Whistleblowing", der Verrat eigentlich geheimer Informationen, gehört also zu den Grundlagen investigativer Erkenntnisgewinnung. Die aber ist eine Grundbedingung dafür, dass Presse gegenüber der Macht überhaupt als Regulativ wirken kann: Wären Medien dazu verdonnert, nur noch offiziellen Verlautbarungen zu folgen, wäre die mediale Abbildung der Welt vielleicht schöner und harmonischer, aber auch langweilig und verlogen.
Was dabei herauskommt, wenn der Staat so eine Art von Einfluss auf Medien gewinnt, kann man sich in Ländern mit autoritär geprägten Regimen ansehen: Nordkoreas Presse beispielsweise jubelt noch über Friede, Freude, Eierkuchen, wenn die Bauern verhungernd auf den Feldern kollabieren. Die kritische Funktion der Presse, die darauf beruhen muss, Wahrheit und Intentionen hinter politischen Äußerungen und Aktionen zu hinterfragen, wird nicht von ungefähr als ein Grundpfeiler der Demokratie gesehen.
"Whistleblowing" ist mitunter unverantwortlich, oft aber wichtig und richtig
Das ist der Grund, warum viele Medien ein ambivalentes Verhältnis zum Thema WikiLeaks haben: Man erkennt an, dass sich WikiLeaks in vielerlei Hinsicht verantwortungslos gezeigt hat, aber auch, dass die Aktivitäten von WikiLeaks viele Medienschaffende an ihre Aufgaben erinnert haben - und nicht selten selbst Informationen von höchster Relevanz öffentlich machten. Denn die Website kann echte Verdienste für sich verbuchen:
* 2007 veröffentlichte sie die "Standard Operating Procedures for Camp Delta" zum Umgang mit Gefangenen im US-Lager Guantanamo - und machte bedenkliche Praktiken öffentlich, die teils deutlich dem Völkerrecht und der Genfer Konvention widersprachen;
* Scientology: 2008 veröffentlichte WikiLeaks die kruden internen Glaubensdokumente der Sci-Fi-Sekte und munitionierte damit deren Gegner;
* British National Party: 2008 dokumentierte WikiLeaks die Mitgliederliste der faschistischen britischen National Party und zeigte unter anderem die Durchdringung der Polizei mit BNP-Mitgliedern - illegal in Großbritannien;
* Palins E-Mails: Im US-Wahlkampf 2008 hackte die Anonymous-Gruppierung den privaten E-Mail-Account der republikanischen Vize-Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin - und zeigte, dass die ihren Privat-Account für Dienstgeschäfte nutzte, um die gesetzlich vorgeschriebenen Dokumentationspflichten für Amtsträger zu umgehen. Der Veröffentlichungskanal: WikiLeaks;
* Der Minton-Report: 2009 veröffentlichte WikiLeaks eine interne Studie des Rohstoffhandelsunternehmens Trafigura über die schädlichen Gesundheitsauswirkungen seiner Müllentsorgung in Afrika (17 Tote, ca. 100.000 Behandlungsbedürftige). Trafigura hatte die britische Zeitung "The Guardian" mit juristischen Mitteln erfolgreich an der Publizierung gehindert, WikiLeaks war dagegen nicht zu stoppen;
* Climate-Gate: WikiLeaks veröffentlichte die E-Mail-Korrespondenz führender Klimaforscher, der man entnehmen konnte, dass keine Seite in diesem Meinungsstreit über die globale Erwärmung mit ganz astreinen Methoden arbeitete.
Man könnte weitermachen. Man könnte WikiLeaks' Veröffentlichungen in Kategorien wie "gesellschaftlich wertvoll" oder "für den Frieden gefährlich" sortieren. Man würde schnell feststellen, dass all das oftmals eine Frage der Perspektive ist - und sicher auch eine der Zeit. Der Verrat von heute mag das Verdienst von morgen sein.
Dass die US-Regierung Julian Assange gern vor einem US-Gericht sehen würde, ist nachvollziehbar, aber mit geltendem amerikanischen Recht offenbar kaum zu begründen, so verlockend es auch sein mag, Assange zurzeit noch in britischem Gewahrsam zu wissen. Die beiden Staaten pflegen ein vereinfachtes Auslieferungsverfahren, das eine Überstellung wahrscheinlich unproblematischer machen würde als im Fall Schweden. Dort aber sieht sich Assange tatsächlich mit einem konkreten Vorwurf (der Vergewaltigung) konfrontiert, der justiziabel wäre, wenn er sich bestätigt (und der nichts mit WikiLeaks zu tun hat).
Vielleicht würde das WikiLeaks stoppen, aber andere, ähnliche Strukturen entstehen längst: OpenLeaks, die WikiLeaks-Alternative unter Beteilung des ehemaligen WikiLeaks-Sprechers Daniel Domschelt-Berg, wird am Montag Online gehen. Das Phänomen WikiLeaks ist eine Nebenwirkung der weltweiten Vernetzung, wenn man so will, und die will niemand stoppen. Ansonsten scheint es "im Rennen zwischen Geheimhaltung und Wahrheit unvermeidlich, dass die Wahrheit am Ende gewinnt".
Wer das gesagt hat? Rupert Murdoch, der Besitzer von Fox: dem Sender, der wie kein anderer gegen WikiLeaks agitiert.
Quelle: spiegel.de