Nefilim ist ein hebräisches Wort. Und zwar ein Plural. Der Singular dazu wäre Nafil. Dies geht zurück auf das Verb nafal, was "fallen", "sinken" bedeutet. Wörter der Form "X-
a-X-
i-X" (X steht für die Konsonanten des zugrundeliegenden Verbes) haben eine Bedeutung, die dem Passiv-Partizip des Verbes gleichkommen, aber adjektivische bzw. atributive Verwendung finden. Daher ist ein Nafil ein "Gefallener", ein "Dahingesunkener".
Und genau das sind Nefilim. In allen Texten, in denen die Nefilim erwähnt werden, gelten sie als "Vorbevölkerung". Als Menschengruppe, die zur Zeit des Erzählers nicht mehr existierte. Dies gilt für die "Helden der Vorzeit", als die Göttersöhne noch mit den Menschentöchtern rummachten, und dies gilt für die ab 4. Mose erwähnten Enakiter des West- und Ostjordanlandes. Beide Gruppen werden Enakiter genannt, sonst taucht das Wort nicht auf. Zwar leben die Enakiter noch in den Erzählungen von den Kundschaftern, die Mose nach Kanaan sandte, oder in den Daviderzählungen, wo der ENakiter Goliat auftaucht. Aber auf der Ebene des Erzählers sind sie bereits verschwunden, weswegen er ihnen eben diese Bezeichnung "die Dahingesunkenen", "die Nefilim" gibt. Vorbevölkerung eben.
DIe Enakiter der Levante gelten als übermenschlich große Riesen. So wird der Enakiter Goliat als Drei-Meter-Hüne geschildert. Eine nöch ältere Figur, König Og von Basan, wird als über vier Meter groß dargestellt. Er gilt als der letzte der Refaiter. Die Refaim, Singular Rafa', leiten sich womöglich vom Verb rafa' ab, was heilen bedeutet.. Wahrscheinlicher aber kommt das Wort vom Verb rafah, das soviel wie "schwach sein/werden" meint. Refaiter gelten ebenfalls als Vorbevölkerung, an anderer Stelle ist jeder "Bewohner des Scheols" - also jeder Tote, der Scheol ist wörtlich die "Grube", übertragen die Unterwelt, die Totenwelt - ein Refaiter. Die Bildung Refaim vom Verb "schwach sein/werden" zur Bezeichnung einer "versunkenen Vorbevölkerung" wäre damit parallel und synonym zu Nefillim.
In der Levante, also dem Landstrich entlang des östlichen Mittelmeerufers, gibt es steinerne Monumente, die zur Megalithik gehören. Wie in vielen Gegenden mit megalithischen Monumenten gibt es auch in der Levante Sagen und Legenden von einer mythischen Vorbevölkerung von Riesen, welche diese Monumente errichtet habe. Im Baschan gabes ein solches von über 4m Länge und rund 2m Breite, welches als das "Bett des Königs Og von Baschan" gedeutet wurde - daher Ogs Größe.
Nicht jede "Vorbevölkerung" aber muß riesenwüchsig gedacht werden. Die eigenen Vorfahren galten gemeinhin als normalgroß, und die, als die noch woanders lebten, waren dort ja ebenfalls "Vorbevölkerung". Dort, wo die Vorbevölkerung ausdrücklich als riesenhaft bezeichnet wurde - die Enakiter, Söhne Anaks, und die Refaiter Baschans - sind es Riesen. Aber die Refaiter des Scheol sind schlicht tote und im allgemeinen normal menschengroß. Und die Nefilim, die in 1.Mose6 erwähnt werden, die "Helden der Vorzeit", die aus der Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern hervorgegangen waren, werden ebenfalls schlicht menschengroß gedacht sein. Sie gelten als "namhafte Männer", als "Helden der Vorzeit", in diesem Sinne "herausragend". Aber ihre Bezeichnung als "Nefilim" meint weder einen Riesenwuchs noch ein übertragenes "Herausragen". Es meint nur, daß es "solche wie die" heute nicht mehr gibt.
Als die hebräischen und aramäischen Schriften desJudentums insGriechische übersetzt wurden, in der Zeit des Hellenismus ab vielleicht dem 3.Jh., da übersetzte man den Plural nefilim mit gigantes, also als "Riesen". Irgendwann in dieser Zeit oder in der vorausgegangenen persischen Epoche des Judentums muß die Riesengestalt der kanaanäischen Nefilim als Enakiter ausgestrahlt sein auf sämtliche Nefilim-Erwähnungen. Ab dieser Zeit hielt man Nefilim generell für riesenhaft. Aber das ist sekundär hinzugekommen, nicht die ursprüngliche Vorstellung. Bei den Refaitern Kanaans setzt diese Uminterpretation von "Vorbevölkerung" zu "Riesen" schon früh ein. Man interpretierte "Refaim" in Parallele zu "Enakim" als Bezeichnung für die Nachkommen eines mythischen Ahnherrn namens Rafa. Auch die Enakiter sollen von Rafa abstammen. Doch spricht die Wortbildung in Parallele zu den Nefilim (dort von nafal, fallen/hinsinken, hier von rafah, schwach sein/werden) dagegen. Historisch gab es ohnehin keine 3...4,5m große Menschen(gruppen) dort.
Nefilim waren sowas wie die halbgöttlichen Heroen der griechischen Mythologie. Auch die lebten nach altgriechischer Vorstellung vor allem in der "Vorzeit", wenige Generationen nach den "Autochthonen" (die ersten Menschen, die von der Erde selbst hervorgebracht wurden - aber Autochthon bezeichnet auch die Vorbevölkerung, die Erstbevölkerung eines Landes). Hätte ein Grieche diese Vorzeit, die zugleich auch Heldenzeit gewesen war (Herakles, Perseus & co.), summarisch zusammengefaßt, er hätte wohl ähnlich formuliert wie der Verfasser von 1.Mose6,1-2.4:
Und es geschah, als die Menschen begannen, sich zu vermehren auf der Fläche des Erdbodens, und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Söhne Gottes Olympier die Töchter der Menschen, wie schön sie waren, und sie nahmen sich von ihnen allen zu Frauen, welche sie wollten.
[...]
In jenen Tagen waren die Nefilim "Autochthonen"* auf der Erde, und auch danach, als die Söhne Gottes Olympier zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen [Kinder] gebaren. Das sind die Helden, die in der Vorzeit waren, die namhaften Männer.
Genau solch eine Zusammenfassung über eine mythische Vorzeit voller Halbgötter wird in der Bibel gegeben.
[* Hier ist die zweite Bedeutung gemeint,die "Vorbevölkerung"]