„Finale Provokationen“ für die Leserinnen / den Leser in Form von Thesen und Antithesen:
These:
Warum identifizieren wir uns während 90 Minuten nahezu bedingungslos mit der deutschen Mannschaft, während wir den auf fünf Jahre
gewählten Politikern von Anfang an misstrauen und nichts zutrauen? Warum gibt es den „winning spirit“ auf dem Spielfeld, nicht aber in
der deutschen Politik?
Antithese:
Politische Probleme lassen sich nicht in 90 Minuten, manche auch nicht im Rahmen einer 5-jährigen Legislaturperiode lösen. Politik ist weitaus
komplexer als ein simples Spiel von 22 Personen um einen Ball. Mit einem gemeinsamen Schulterschluss und Mannschaftskreis sind die
Verteilungskonflikte einer Gesellschaft nicht zu lösen.
These:
Fußball ist Ersatzkrieg und das Überstreifen des Fantrikots und Bemalen der Wangen ist nichts anderes als früher die Uniformierung in Zeiten
militärischer Auseinandersetzungen und die bedingungslose Identifikation mit der Nation.
Antithese:
Fußball ist lediglich ein Spiel, das 90 Minuten dauert und mit der entsprechenden Inszenierung macht das Ganze noch mehr Spaß. Die Zuschauer
wissen, dass es ein Schauspiel, ein unterhaltsames Erlebnis ist, das mit der politischen Realität nichts gemein hat.
These:
„Rettet den Fußball vor den Intellektuellen“ (Der Spiegel Nr. 27/2005, S.150): Akademiker können uns Fußballbegeisterten sogar dieses Spiel
verderben. Historiker und Politologen veranstalten darum ein „intellektuelles Buhei“ und „akademisches Blabla“. Mit ihrem multiperspektivischen
Denken vermiesen sie uns die glücklichen fußballerischen Momente. Das traurige Los des Intellektuellen ist, dass er sich über den
Gewinn einer Weltmeisterschaft nicht einfach nur freuen kann, sondern immer schon reflektiert, was das für einen politisch denkenden
deutschen Kosmopoliten für Auswirkungen haben könnte: „Der Kern des Problems liegt darin, dass die deutschen Intellektuellen mit dem
Gedanken der Nation nicht fertig werden können“ (Dahrendorf 1990).
Antithese:
Bewahrt uns vor dem gemeinen Fußballfan: Der politikverdrossene Fußballfan realisiert nicht, dass Brot und Spiele zusammengehören und
Fußball immer mehr ist als nur live dabei sein im Hier und Jetzt. Emotionen pur ohne kognitive Bezüge laufen ins Leere und sind bloßer
Zeitvertreib. Fußball ist mehr als nur ein Spiel. Vermittelt dem gemeinen Fußballfan endlich politisches Bewusstsein!
These:
Es hat viel für sich, dass wir unsere Nationalhymne nicht einfach reflexartig mitsingen und die deutsche Flagge nicht gleich als das Schrebergarten-
Schmuckstück betrachten.
Antithese:
Die notwendige Identifikation mit unserem Gemeinwesen wird vor allem Jugendlichen erschwert, wenn sie bei Anlässen wie der Fußballweltmeisterschaft
nicht unbefangen unsere nationalen Symbole verwenden können, da vor allem von Pädagogen dann sofort die Moralkeule
der Geschichte geschwungen wird.
These:
Die gebrochene nationale Identität schützt uns vor enttäuschungsanfälligen, diffusen deutschen Stimmungen und garantiert eine Auseinandersetzung
mit der Nation auf der rationalen Ebene.
Antithese:
Die Ausblendung der seelenhaften, affektiven Identifikation mit der Nation missachtet Identifikationsbedürfnisse des Individuums und für
solidarisches Verhalten notwendige Zusammengehörigkeitsgefühle einer „Schicksalsgemeinschaft“. Dies gilt insbesondere auch für eine europäische
Identität: Mit Informationskampagnen wird der Euroskeptizismus nicht besiegt werden können.
These:
Wer die Aufstellung der deutschen Weltmeistermannschaft 1974 auswendig aufsagen kann, hat noch überhaupt nichts von deutscher Geschichte
gelernt. Die Metaebene der Zusammenhänge von nationaler Mythenbildung und Fußballgeschichte wird sich dem Fußballbegeisterten
niemals erschließen.
Antithese:
Paninibildchen von Fußballern sind nachhaltiger in ihrer Wirkung auf das nationale Bewusstsein als ein Kriegerdenkmal, Ballack ist sinnstiftender
für die deutsche Nation (und ihren Ruf)? als Bismarck. Laut Eisenberg (2004, S. 7) hat sich immerhin jeder der 6,2 Milliarden Erdenbewohner,
statistisch gesehen, mehr als vier Mal in die Endrunde des Turniers eingeschaltet.
These:
Eine Diskussion über Nationalstolz und Patriotismus führt zu nichts. Die politischen Probleme Deutschlands werden dabei nicht gelöst. Leitkulturdebatte
und Fragebögen für Migranten helfen bei der Integration und Identitätsbildung der in Deutschland lebenden Menschen nicht
weiter.
Antithese:
Auf der nationalen Ebene tun sich die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte zu Recht schwer mit ihrer Identität. Dennoch: Die Diskussion
um europäische Werte, Leitkulturen und Parallelgesellschaften muss in Deutschland geführt werden. Bislang erfolgte die Definition unserer
nationalen Identität meist über das Negative: Deutschland ist nicht Kopftuch, nicht Parallel- und Patchworkgesellschaft, vor allem aber
auch nicht Grande Nation. Besonders eine positive Annäherung an unsere nationale Identität fällt schwer. Wir sollten darauf vertrauen, dass
sich auch bei diesem Diskurs der Pluralismus bewähren und zeigen wird, wer im Streit um Meinungen und die besseren Konzepte die politische
Gestaltungsmöglichkeit erhält und die Verantwortung für die Umsetzung dann auch zu tragen hat.
These:
Trotz Geschichte, Genozid und Verbrechen der Nationalsozialisten sollte es uns möglich sein, ein normales Verhältnis zu unserem Vaterland
zu entwickeln. Eine Definition von Patriotismus, die in den USA konsensfähig ist, kann auch für einen deutschen Patriotismus Gültigkeit beanspruchen:
Patriotism is “pride and love for country” (Li and Brewer 2004) or “ Patriotism is an attachment to nation, its institutions, and
its founding principles” (Figueiredo and Elkins 2003)?
(sofern es eine solche gibt) in eine europäische
transformiert werden kann, gerade weil der
Nationalstaat als Orientierungsrahmen nicht
ohne weiteres zu überwinden sein wird. „Das
Verhältnis von Union und Nationalstaaten
wird eine der wichtigen Fragen sein, die in den
kommenden Jahren zu regeln sind. Denn auch
in Zukunft wird der Nationalstaat mit seinen
kulturellen und demokratischen Traditionen
für die Menschen in Europa der primäre Träger
ihrer Identität sein. Er ist der wichtigste Rahmen
für Sprache, Kultur und Tradition und
wird auch in einer großen Union unersetzbar
bleiben, um europäische Entscheidungen
überzeugend demokratisch zu legitimieren.
Andererseits werden die Mitgliedstaaten im
21. Jahrhundert auf eine handlungsfähige, demokratisch
legitimierte Europäische Union essentiell
angewiesen sein“ (Fischer 2001, S. 3).
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Fußball und nationale Identität
Antithese:
Wir sind nicht eine Nation wie jede andere. Deutschland ist ein schwieriges Vaterland. Wir müssen uns unserer Vergangenheit stellen und
dem im Umgang mit nationalen Fragen gerecht werden. Eine Normalisierung des „Deutsch-Seins“ bedeutet die Singularität des Holocausts
bereits in Frage zu stellen.
These:
Der politischen Bildung und der Politik ist es nicht gelungen, das Grundgesetz im öffentlichen Bewusstsein als gemeinsames identitätsstiftendes
Symbol zu verankern. Ein Jersey der deutschen Nationalmannschaft in den Farben schwarz-rot-gold weckt deutlich mehr positive
Emotionen als unsere Verfassung. Demokratieerziehung sollte mehr den Sinn von Institutionen und unserer Verfassung verdeutlichen und
die positiven Errungenschaften unserer Demokratie auch mit einem gewissen Stolz vermitteln.
Antithese:
Der Stellenwert des Grundgesetzes und unserer politischen Institutionen ist den Bürgerinnen und Bürgern deutlich. Sie werden sich in Krisenzeiten
ohne weiteres auf die demokratischen Grundsätze der Verfassung berufen können. Deswegen muss man den Staat nicht gleich
lieben und stolz auf Deutschland sein: „Ich kann vielleicht zur Not noch eine Landschaft lieben, aber ich liebe keine Institutionen, den Staat
so wenig wie beispielsweise die Allgemeine Ortskrankenkasse“ (Roman Herzog).
These:
Die für die politische Bildung viel wichtigere Aufgabe lautet: Beiträge zur Ausbildung einer politischen-zivilgesellschaftlichen Identität zu
leisten und die Mechanismen aufzuzeigen, wie Identitäten mit welchen Intentionen benutzt werden und nicht nationale Gefühlsduseleien
zu betreiben.
Antithese:
„Die Frage, wie unsere Demokratie überleben soll, hat etwas mit Patriotismus und Gemeinsinn zu tun“ (Hans Apel). Es gehört deshalb zur
Kernaufgabe politischer Bildung, sich mit Fragen der nationalen Identität auseinanderzusetzen. Für unsere Zeit bleiben „Vaterlandsliebe und
Patriotismus notwendig – mit oder ohne Stolz“ (Wolfgang Schäuble2001)
NSER AUTOR
Dr. Michael Wehner
studierte in
Freiburg an der
Pädagogischen
Hochschule Politikwissenschaft
und Geschichte
und war zwei Jahre
lang im Schuldienst
des Landes
Baden-Württemberg.
Seit 1991 ist
er Leiter der Außenstelle Freiburg der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-
Württemberg. Michael Wehner ist Autor
mehrerer Veröffentlichungen zu politikwissenschaftlichen
und pädagogischen Themen
sowie Autor mehrerer Schulbücher in den
Fächern Geschichte und Gemeinschaftskunde.
Darüber hinaus ist er Lehrbeauftragter
am Seminar für wissenschaftliche Politik der
Universität Freiburg, an der Pädagogischen
Hochschule Freiburg sowie an der Berufsakademie
des Landes Baden-Württemberg
in Villingen-Schwenningen.
UNSERE AUTORIN
Verena Scheuble
absolvierte ihr
Magisterstudium
der Neueren und
Neuesten Geschichte
und der
Ethnologie an den
Universitäten Freiburg
und Zürich.
Ihre fachlichen
Schwerpunkte
sind Nationsbildungsprozesse
im 19. und 20. Jahrhundert
und die Geschichte des europäischen Kolonialismus.
Seit 2003 ist sie freie Mitarbeiterin
der Landeszentrale für politische Bildung
Baden-Württemberg.