Amerikanische Ernährungswissenschaftler entdecken grade das volle Korn. Im Land der Labberbrote ist immer öfter zu hören, das Volk möge bitte nicht irgend ein Brot und normale Cornflakes essen, sondern Produkte aus Vollkorn. Für den deutschen Esser ist das nichts Neues. Bei uns stehen Vollkornbrot und Körnermüsli schon lange hoch im Kurs – zumindest bei Ernährungsberatern und Vollwertköstlern. Die staunten aber nicht schlecht, als mitten in die neue Vollkorn-Euphorie Meldungen platzten, wonach Marmorkuchen gesünder sei als Vollkornbrot und Weizenflocken. Doch halt, das ist noch kein Grund, die Getreidemühle wegzuwerfen oder gar den Bäcker zu verklagen.
Was sind die Hintergründe für diese gegensätzlichen Auffassungen? Zunächst die Ausgangslage: Getreideprodukte wie Nudeln, Brot, Reis und Müsli sollten nach Ansicht vieler Ernährungsfachleute die Basis unserer Ernährung bilden, weil sie viele Kohlenhydrate und Ballaststoffe aber wenig Fett enthalten. Diese Kombination gilt als besonders gesund, weil dem Fett gerne die Schuld für Übergewicht und Herzinfarkt in die Schuhe geschoben wird.
Zweifel an alten Grundsätzen
Allerdings lassen neue wissenschaftliche Arbeiten Zweifel an diesem Grundsatz aufkommen: Es wird immer deutlicher, dass das Fett im Essen gar nicht so schlimm ist, sofern man zum richtigen Fettnapf greift. So gelten mittlerweile Oliven- und Rapsöl, Nüsse und fette Fische als herz- und gefäßschützend. Peinlich nur, dass die meisten Ernährungswissenschaftler bis heute empfehlen, vor allem beim Fett zu sparen und dafür mehr Kohlenhydrate zu essen. Derweil erwies sich in großen Ernährungsstudien gerade ein hoher Kohlenhydratkonsum als riskant.
Davon betroffen sind jedoch nicht alle Kohlenhydrat-liefernden Lebensmittel, sondern vor allem jene, die viele Kohlenhydrate enthalten und den Blutzucker stark erhöhen. Im Jargon der Ernährungsexperten heißt das: Lebensmittel mit einem hohen glycämischen Index (GI). Und wer besonders viel von besonders blutzuckersteigernden Lebensmitteln isst, bekommt entsprechend eine hohe glycämische Ladung (GL) ins Blut.
Je höher die glycämische Ladung der verzehrten Speisen, desto häufiger fanden amerikanische Wissenschaftler Krankheiten wie Diabetes mellitus und Herzinfarkt. Sogar Kurzsichtigkeit wurde unlängst mit einem hohen Konsum von stark blutzuckerwirksamen Mahlzeiten in Verbindung gebracht. Deswegen werden zunehmend Lebensmittel mit niedrigem glycämischem Index empfohlen, also Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Milchprodukte, vor allem aber Vollkornprodukte.
Das Korn des Anstoßes
Und nun die Meldungen über schädliches Vollkorn und „gutes“ Weißmehl – alles Lüge und Polemik? Mitnichten. Was Vollkorn-Liebhabern und Ernährungsberatern die Haare zu bergen stehen ließ, bezog sich auf das Vorhandensein von so genannten Lektinen im Keimling von Weizenkörnern. Lektine sind Eiweißstoffe, die rote Blutkörperchen verklumpen und die Darmwand durchlässig machen. Bei weißem Mehl werden sie mit dem Keimling weitgehend abgetrennt. Im vollen Korn und daraus hergestellten Backwaren bleiben die Lektine jedoch erhalten, denn sie sind hitzestabil.
Das Weizen-Lektin steht im Verdacht, eine Reihe von Erkrankungen zu fördern: Im Tierversuch führte es zu Wachstumsstörungen, zu Ablagerungen in den Blutgefässen, es schädigte die Darmschleimhaut und vergrößerte die Bauchspeicheldrüse. Da es die Darmwand durchlässig macht, gilt es als bedenklich bei entzündlichen Darmkrankheiten, bestimmten Rheumaformen und Allergien. Bei Mäusen war es sogar in der Lage, bis ins Gehirn vorzudringen und dabei auch noch AIDS-Viren mitzunehmen.
Man fragt sich, was derart problematische Substanzen im Getreide zu suchen haben. Sie sind nicht das Ergebnis von manipulierten Genen oder von Überdüngung, es sind ganz natürliche Inhaltsstoffe: Pflanzen werden nun mal nicht gerne gefressen und schützen sich daher mit einem ganzen Arsenal chemischer „Waffen“. Lektine sind nur eine Gruppe dieser Abwehrstoffe. Im Roggen finden sich beispielsweise Arabinoxylane und Alkylresorcine, in der Gerste Glucane, im Weizen Pentosane. Alle Getreide enthalten darüber hinaus Phytin und Enzym-Inhibitoren, die unsere Verdauung beeinträchtigen, so dass wir all die schönen Nährstoffe gar nicht (voll) ausnutzen können. Und weil die Samen für die Pflanzen so wertvoll sind, befinden sich die meisten Abwehrstoffe genau dort, wo die Ernährungswissenschaftler den größten Nährwert vermuten: in den Randschichten der Getreidekörner.
Unser Verdauungstrakt kann die pflanzlichen Abwehrstoffe nicht einfach so entgiften. Deswegen haben wir vor etwa 10.000 Jahren (seither essen wir erst Getreide) Verarbeitungsmethoden entwickeln müssen, um die Getreidekörner bekömmlich und ihre Inhaltsstoffe verwertbar zu machen: Gerste wird seit Jahrtausenden zu Bier fermentiert. Aus Roggen wird seit Generationen mit Hilfe einer langwierigen Sauerteigführung ein bekömmliches Vollkornbrot gebacken. Bei Reis und beim Weizen entfernt man die abwehrstoffreichen Randschichten und stellt helles Mehl, helle Pasta und weißen Reis daraus her.
Vor allem Vollkornprodukte aus Weizen sind erfahrungsgemäß schwer bekömmlich. Das gleiche gilt für eine Reihe von Roggenvollkornbroten, die mit Hilfe moderner Schnellverfahren gebacken werden. Die kurzen Teigführungszeiten dieser „Tütenbrote“ reichen nicht aus, um genügend Abwehrstoffe abzubauen. Was aber schwer bekömmlich ist, das kann gesundheitliche Probleme verursachen. Bei der gesundheitlichen Beurteilung von Getreideprodukten kommt es demnach weniger auf den glycämischen Index an, als auf eine angemessene Verarbeitung und auf die individuelle Verträglichkeit.
Ein (Voll-)Körnchen Wahrheit
Die Propagierung voller Körner und neuer Indices mag theoretisch richtig sein – ohne Rücksicht auf die Kapazitäten des menschlichen Verdauungstraktes und die richtige Verarbeitung der Nahrung bleiben auch diese Empfehlungen nur Stückwerk. Der schönste glycämische Index nützt nichts, wenn die Nahrung teilweise unverdaut in den Dickdarm gelangt, wo sie von Bakterien zu allerlei Giften zersetzt wird. Ordentlich verarbeitete Produkte wie traditionell hergestelltes Roggensauerteigbrot, helles Weizen(misch)brot, Pasta oder Haferflocken sind in der Regel besser bekömmlich als Weizenvollkornbrot, Roggen- und Weizenflocken im Müsli, Vollkornnudeln oder Vollkornreis.
Für eine Ernährung nach dem Prinzip „niedrige glycämische Ladung“ – das ja durchaus seine Berechtigung hat – bleibt dennoch genügend Spielraum: Wer auf die Bekömmlichkeit seiner Speisen achtet und lieber weniger als zu viel Körniges isst, wer bei Softdrinks und Gebäck Zurückhaltung übt, der kann sich durchaus so ernähren, dass es den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht und gesund hält.
Tipps für den Brot- und Getreideeinkauf
* Bei Roggenvollkorn möglichst Brote, die mit traditioneller Natursauerteigführung hergestellt wurden oder Pumpernickel aussuchen.
* Vollkornprodukte aus Weizen sind für viele Menschen schwer verdaulich und unbekömmlich. Bei Blähungen und Bauchzwicken lieber hellere Brot- und Brötchensorten wählen.
* Manche Bio-Bäcker stellen Weizenvollkornbrot mit einer Natursauerteigführung her, bei der ein Teil der Problemstoffe abgebaut wird.
* Für Beilagen oder Salate kann auf andere, meist besser bekömmliche Getreideprodukte wie Grünkern, Bulgur oder Couscous zurückgegriffen werden.
* Beim Bäcker nicht durch wohlklingende Namen und bunte Aufkleber becircen lassen. Sie sprechen eher für „Tütenbrote“ als fürs Selbstgemachtes.
* Roggen-, Gersten- und Weizenflocken in Fertigmüslis können ebenfalls unverträglich sein. Besser, weil bekömmlicher und seit Generationen bewährt, sind Haferflocken.
* Vollkornreis und Vollkornnudeln müssen wirklich nicht sein.
* Generell gilt: unvoreingenommen ausprobieren - was nicht bekommt, weglassen.
Quelle :
http://www.optipage.de/streitumskorn.html