Vergebung - Könntet ihr in diesem Fall auch so handeln?

Bin eher zufällig auf die "Blocklandmorde" gestossen:

Im November 1945 überfielen zehn ehemalige Zwangsarbeiter den einsamen Hof Kapelle an der Kleinen Wümme und brachten die dort versammelten Mitglieder zweier Familien um. Der einzige Überlebende des Massakers, Wilhelm Hamelmann, begriff auch die Vorgeschichte dieser Tat, das Leiden der ehemaligen Zwangsarbeiter. Als überzeugter Christ und Gegner des Nationalsozialismus zeigte er auch für die Täter Mitgefühl. Hamelmann plädierte 1967 mit Gnadengesuchen für die Freilassung inhaftierter Täter, holte sogar später Täter aus dem Gefängnis ab und versuchte Arbeitsstellen für sie zu finden.

Quelle und weitere Infos: Wikipedia: Blocklandmorde

Vergebung ist in meinen Augen auf jeden Fall menschlicher als Rache.

Wenn jemand meine Kinder ermorden würde, würde ich ihn auch aus dem Gefängnis abholen...

Ich könnte es nicht.

An diesem Menschen rächen würde niemandem etwas bringen außer die kurzzeitige Genugtuung - also wäre das auch der falsche Schritt. Aber vergeben? Niemals!

Den Mördern meiner Familie vergeben und auch noch unterstützen?
Nein könnte ich nicht.

Als Denkanstoss nach Jahren aus anderen Threads noch mal hervor gekramt:

Rache ist etwas für Menschen, die ihren Blick ständig nach hinten richten, und nicht nach vorne.
Das Dumme ist dann, nur, dass man nicht sieht wohin man geht und auf die Fresse fällt.

Wie das ist, wenn die Ehefrau ermordet wird, durfte ich 1982 erfahren. Dass ich da weder auf Hilfe der BRD noch des Libanon rechnen durfte, war mir klar. Auch die Solidarität der PFLP beschränkte sich auf grosse Worte.

Hätte ich mir daraufhin eine Atombombe kaufen sollen und den Libanon pulverisieren?
Jeden Christen erschlagen, der mir über den Weg läuft?

Ja, natürlich fühlt man sich dann elendig schlecht, das darf man mir gern glauben. Zugleich hat man aber auch trotz allen Schmerzes noch so etwas wie ein Hirn im Kopf, das einem sagt, dass alle Gedanken an Selbstjustiz ziemlich schwachsinnig sind. Na gut, möglicherweise haben nicht alle Menschen diese Bremse. Drum lernen sie auch andere in der Psychiatrie kennen.

Die Mörder meiner ersten Ehefrau laufen frei herum. Es hat sie keiner gesucht, keiner gefasst angeklagt, keiner gerichtet.

Aber selbst wenn sie jemand gefasst und zum Tode verurteilt hätte - wäre meine Frau wieder lebendig geworden? Hätte unsere Tochter wieder eine Mutter gehabt? Hätte es etwas verändert, etwas ungeschehen gemacht, etwas genützt, etwas geholfen?

Was meint Ihr wohl, was mir die Familie meiner Frau und ihre Genossen nach deren Ermordung für obskure Vorschläge machten, wie ich "Rache zu nehmen" hätte. Ich bin froh, dass ich darauf nicht eingegangen bin. Orientalisches Stammesfehden-Denken und politischer Amoklauf sind mir fern.

Hätte "Ein Mann sieht Rot in Beirut" sie wieder lebendig gemacht? Unserer damals vierjährigen Tochter die Mutter zurück gegeben? Mich persönlich glücklich gemacht? Wohl eher nicht. Dafür bin ich vielleicht ein zu verstandesgesteuerter Mensch, um den Neander aus dem Tal zu geben.
Ich habe gekämpft, unsere Tochter hier behalten zu können und ihr eine gute Ausbildung verschaffen zu können. Ich bin mir sicher, die wäre dort unter die Räder gekommen und im Interesse der Familienehre zu einem absurden Racheengel erzogen worden. Ebenso sicher übrigens, wie ich mir bin, dass sie in dem einen Jahr, das sie an einer Klinik in Gaza gearbeitet hat, politisch wie humanitär sinnvolleres getan hat, nämlich Menschenleben zu retten, als ein Sprengstoffgürtel es je bewirkt hätte.

Makaber: Die Tochter, die von der Familie nahezu verstossen wurde, weil sie einen Ungläubigen geheiratet hatte, hat heute einen Ehrenplatz in einer Märtyrer-Galerie in ihrer Sippe. Ich bin mir sicher, dass ihr das nicht gefallen hätte. Aber das ist eine ganz andere, sehr persönliche Geschichte.

Natürlich trinken die christlichen Mörder heute als Rentner an der Corniche ihren süssen Tee und schauen auf's Meer hinaus. In šā' Allah. Sie zu töten hätte nichts geändert.

Hat mich tief berührt @Doors und eine gute Sicht auf das Thema, wo so manch einer mal drüber nachdenken kann.

Doors schrieb:Makaber: Die Tochter, die von der Familie nahezu verstossen wurde, weil sie einen Ungläubigen geheiratet hatte, hat heute einen Ehrenplatz in einer Märtyrer-Galerie in ihrer Sippe. Ich bin mir sicher, dass ihr das nicht gefallen hätte. Aber das ist eine ganz andere, sehr persönliche Geschichte.

Vielleicht auch eine Form der "Vergebung"? Auch wenn sie erst nach dem Tod erfolgte? Vergebung bedeutet ja auch, sich mit seinen eigenen Ansichten und Werten auseinanderzusetzen und ggf. zu revidieren.

Ist zwar eine tolle Tat, aber ich würde das nicht machen.

Respekt.

@Interested

Mich haben die vielen Rachefantasien und Todesstrafen-Befürworter in zu vielen Threads ziemlich erschreckt.

@Doors

Ja, aber ist ja auch ne sehr hypothetische Frage - und da antworten die meisten aus dem Bauch heraus, ohne großartig zu überlegen. Denn was man dann unter Umständen wirklich fühlt, sollte kaum jemand erleben müssen. Weiterhin, hat nicht jeder Deine Weitsicht. Aber hey hey, das Leben ist dafür da, dass man lernen kann, sich und seine Ansichten hinterfragen kann, muss und sollte - vielleicht gelingt dann auch anderen diese Form der Vergebung.

@Doors
Es gab aber sicher Momente in denen du dir vorgestellt hast wie es wäre die Mörder zu töten oder?
War es leicht oder schwer dem zu widerstehen?

Ich hoffe niemand muss so etwas erleben wie du...

@deponianer

Es ist erstaunlich leicht, wenn Du damit beschäftigt bist, das eigene wirtschaftliche Überleben und das deiner vierjährigen Tochter zu organisieren. Was es beispielsweise für die deutsche Bürokratie, von Versicherung bis Erbangelegenheiten bedeutet, wenn jemand mit deutscher Staatsbürgerschaft aber staatenloser Herkunft in einem Bürgerkrieg einfach "verschwindet", man keine Leiche, keinen Totenschein, keine 100% verlässlichen Augenzeugen, die dann auch noch im fernen Libanon hocken, hat, können vermutlich nur die Angehörigen von heute im Dienste der IS verschollenen menschen ermessen.
Da bist Du auf Jahre hinaus mit anderen Dingen als mit Rachegelüsten beschäftigt. das war vielleicht auch ganz gut so. Als ich im Libanon Nachforschungen anstellte, wurde ich oft mit der Frage konfrontiert: Na, wie willst Du Genossin Salwa jetzt rächen?

@Doors

Doors schrieb:Vergebung ist in meinen Augen auf jeden Fall menschlicher als Rache.

Humaner ja
Menschlicher nein
Rache ist so alt wie das menschliche bewusstsein

Ich habe jetzt auch längere Zeit überlegen müssen, wie ich reagieren würde.
Würde man den Menschen umbringen, den ich am meisten liebe und dann will ich auch nicht wissen wie, war mein erster Gegenzug denjenigen umzulegen. Ich bin eben nur ein Mensch.
Einfach zu sagen, nein ich würde keine Rache wollen, kann ich mir nicht vorstellen. Es wäre wahrscheinlich nicht so, dass ich nicht darüber nachdenken würde. Wirklich, nicht nur dessen Leben wäre zerstört, sondern auch meines. Sie sind tot, aber ich muss damit weiterLEBEN. Aber... auf der anderen Seite was habe ich dann davon? Bin ich dann besser? Was rechtfertig meine Tat in diesem Zusammenhang. Wie du mir, so ich dir? Letztlich würde ich es nicht tun, wahrscheinlich wäre es auch so, dass ich permanent dagegen ankämpfen müsste. Ist es ein bisschen wie @Doors schrieb:

Doors schrieb:möglicherweise haben nicht alle Menschen diese Bremse.

es ginge nur darum, die im "Gange" zu halten und das würde ich auch wollen und mit aller Kraft versuchen, denn auf die Stufe desjenigen würde ich mich nicht stellen wollen. Und letztlich würde es all dies nicht ungeschehen machen. Das ist glaube die letzte Erkenntnis die einen trifft, kann ich mir vorstellen, sollte man seine Rache "ausgeführt" haben. Dass niemand zurückkommt.
Das ist was ich darüber denke. Aber es ist vermutlich etwas anderes, wenn es dann geschieht - es ist eine sehr schwierige Frage.

@blutfeder
Die schlechtesten Angewohnheiten des Menschen sind zu gleich meistens auch die ältesten.
Also auch die rohesten.... Auch wenn ich vermutlich mehr Willenskraft aufbringen müsste als @Doors um Rachegelüste zu unterdrücken stimme ich zu, dass nichts eine ermordete Person wieder lebendig machen kann.
Noch eher kann ich es verstehen wenn man ein eigenes Kind hat, das es zu versorgen gilt.

@Doors
Wie geht es deiner Tochter eigentlich heute? (auch wenns OT ist, bin aber neugierig)

Vergeben ist ja schön und gut...

Aber demjenigen, der so etwas tat (u. a. auch Kinder ermordete) dabei zu helfen, wieder frei zu kommen? Niemals!

Wäre ich Zwangsarbeiterin irgendwo... ich würde es nicht an unbeteiligten Kindern auslassen, indem ich sie eiskalt erschiesse. Das könnte ich persönlich niemals vergeben.

Der Herr aus dem EP scheint eher aus seinem eigenen schlechten Gewissen heraus zu "vergeben"...

@deponianer

Wenn Du mal in Jütland(Westküste) einen schweren Autounfall haben solltest, könnte es sein, dass sie Dich wieder zusammenflickt. Sie hat in Deutschland und England Medizin studiert, ist Chirurgin in einer Klinik, inzwischen Dänin, glücklich mit einer Frau verheiratet und plant Nachwuchs. Ein Jahr lang war sie in einer Klinik in Gaza (für Ärzte ohne Grenzen) und kam mit dem Fazit wieder: "Mit dem Kulturkreis meiner Mutter kann ich nichts anfangen!" Aber die Geschichten will ich hier nicht alle erzählen.

nein, vergeben könnte ich nicht, aber ebenso wenig mich der rache hingeben. wie @Doors schon sagte, im ersten augenblick würde man sich vielleicht besser fühlen, aber dann schlägt mit sicherheit das eigene gewissen zu.
man hat eine grenze überschritten von wo es kein zurück gibt und das würde einen zerbrechen und man hat sein eigenes leben zerstört, von dem juritischen nachspiel völlig abgesehen.

...Vergebung ist eine der größten menschlichen Gesten...und immer wieder siegt zum Glück eben diese...zB.Mutter vergibt Mörder des eigenen Sohnen...Vater vergibt Mörder seines Kindes und spendet dessen Organe noch einem Kind der "Gegenseite"...das sollte bewahrt werden...

..."Sohnes"..nicht "Sohnen"...