Potenzial schrieb:Hi, ich bin 24 Jahre und möchte eure Meinung wissen. Ich hab das Gefühl dass ich meine Jugend verschwendet habe, ich hatte nie wirklich eine freundin, habe nach der schule dauernd zuhause gehockt und habe auch nichts in der tasche , keine ausbildung und auch sonst nix, außer mittleren schulabschluss. hab mein abi verbockt, hab rumgeeiert bis heute. nun frage ich mich, ob ich mit 24 noch alles nachholen kann, was ich mit 14 bis 19 jahre hätte erleben sollen?
@PotenzialVielleicht hilft dir meine Geschichte, deine zu überdenken:
Ich war noch sehr klein, als ein erwachsener Mensch, dem mein ganzes kindliches Vertrauen gehörte, begann, mich sexuell zu missbrauchen. Nicht wissend, was falsch oder richtig war, ließ ich das ab ca 7 Jahren über mich ergehen. Es war ekelhaft, es fühlte sich falsch an, aber es war mein Vater, und wenn er sich mir im Vertrauen näherte, dann musste das ok sein.
Wenn man ihm widersprach, setzte es Prügel mit dem Rohrstock. Es gab also berechtigte Gründe, in der Situation lieber still zu halten.
Irgendetwas zerbrach damals in mir.
Ich begab mich in meine eigene kleine Seifenblase, eine Traumwelt, die mir half, zu überleben. Das tat ich sehr konsequent. Nie wieder später habe ich so intensiv und schnell gelernt und so knallhart und konsequent umgesetzt, wie als Kind.
Niemand sagte mir, dass ich auf dem falschen Weg war, also blieb ich dabei. Ich konnte mich so intensiv in meine Seifenblase begeben, dass ich meine reale Umwelt nicht mehr wahrnahm. So manche Schulstunde weckte mich mit dem Klingeln zur Pause, und ich hatte nicht ein Wort mitbekommen. Aus heutiger Sicht eigentlich ein Wunder, dass ich so durch die Schulzeit kam.
Die logische Folge dieses Irrweges war, dass mir reale Kontakte zu anderen Menschen völlig fehlten. In meiner Seifenblase war es sehr behaglich. Keiner tat mir weh, es war dort lebenswert. Ich behielt das bei, nicht nur die ca 7 Jahre, die der sexuelle Missbrauch andauerte, sondern weit darüber hinaus. So durchlief ich Grundschule, Gymnasium, Abitur, Lehre, Meisterschule. Alles ohne jede Menschenkenntnis, ohne Erfahrungen, wie die Welt wirklich tickt.
Sicher gab es Lebenserfahrungen auf allen möglichen anderen Gebieten, Wissen, Rätsel, Natur, Zahlen, alles, aber nicht Menschen. Ich kapselte mich total ab. Ich ekelte mich vor Menschen und ich lehnte sie ab. Alle, nicht nur den, der mein Urvertrauen zertört hatte. Ich konnte es als Kind nicht trennen, und als ich merkte, dass etwas gewaltig schiefgelaufen war, wurde mir bewusst, dass ich in Sachen Menschenkenntnis nicht über den Stand eines Kindes hinausgekommen war. Mit 50 Jahren.
Da fragte ich mich das Gleiche, wie du jetzt: Kann ich DAS je aufholen? Was ich der Jugend und den letzten 40 Jahren hätte lernen müssen? Nein, kann ich nicht. Selbst wenn ich ewig leben würde: Das geht nicht. Ich bemühe mich, im Hier und Jetzt schnell zu lernen und bewusst zu leben, aber ganz aufholen: Keine Chance. Nicht diesen Zeitraum.
Glaube mir, ich war ziemlich fertig und verzweifelt, als mir das bewusst wurde.
(Bewusst wurde es mir, weil jemand meine Seifenblase kaputt gemacht hat. Es war der gleiche Mensch, der sie damals verursachte.)
Ich habe heute in zwischenmenschlichen Angelegenheiten massive Probleme. Ich würde viele Situationen am liebsten vermeiden, aber das geht als Erwachsener nicht. Ich muss da jetzt durch. Mein Buch über diese Scheiße wird den Titel tragen: "Fettnäpchen pflastern seinen Weg."
:DAbgesehen von diesem einen Defizit bin ich ein Durchschnittsmensch, der manches kann und manches nicht, wie jeder andere auch, und der versucht, Unabänderliches mit Humor zu nehmen.
Ich könnte nun zurück schauen und mit dem Finger auf den bösen Menschen zeigen, der an meiner Fehlentwicklung seinen Anteil hatte, aber was würde das bringen? DAS wäre Zeitverschwendung.
Ich schaue nach vorne, ich versuche, das Beste aus der Gegenwart zu machen. Ich lebe in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft, sondern genau jetzt. Und nur die Gegenwart kann ich bewusst beeinflussen. Alles andere ist Zeitverschwendung.
Ich musste schmunzeln, als ich deine Zeilen las, die mir so sehr aus der Seele sprechen.
Du bist 24 Jahre alt, du hast noch so vieles vor dir, du kannst noch so vieles ändern, wenn es dir jetzt nicht gefällt, wie es ist. Schau nach vorne, dein Vorne ist viel größer als meins. 24 ist ein tolles Alter.
Ich hatte übrigens auch noch nie eine Freundin. Na und? Das Leben hat ganz viele Facetten. Versteife dich nicht.
Ich bin heute Mitte 50 und ich beneide dich um die vielen Chancen, die du aufgrund deines Alters noch hast, aber ich bin nicht unglücklich.
In meinem Alter muss man auch mal loslassen. Ohne Groll.
Genieße dein Leben, und denke dran, es hätte schlimmer kommen können.
:Y: