7. Buch Moses
10.06.2019 um 17:54
Ich würde mich als rational denkenden Menschen einschätzen, der nicht davon überzeugt ist bzw. war, dass ein Buch an sich "böse" sein könne. Auch nicht, wenn mir sämtliche Leute in dem Ort, in dem meine Verwandtschaft lebte, von Kindesbeinen an erzählte, dass ich dieses Buch weder in die Hand nehmen geschweige denn es ansprechen sollte. Im Ort gab es eine Familie, die im Besitz dieses Buches gewesen sein sollte. Von Kindesbeinen an wurde mir eingeschärft, nicht dorthin zu gehen. Die erste Frau des dort lebenden Mannes brachte sich um, die zweite verunfallte tödlich im Haus, die Kinder waren verhaltensauffällig - nicht unbedingt seltsam, wenn man weiß, dass ihr Vater gewalttätig war. Ich ging davon aus, dass sie allesamt nicht "verrückt" waren, weil es dort dieses Buch gäbe, sondern weil sie eben eine zerrüttete Familie wären. Bis zum heutigen Tag übrigens streuen einige Anwohner des Ortes noch Salz vor ihre Haustüren, um sich vor exakt diesen Familienangehörigen zu "schützen". Soweit so gut, dachte ich mir, Ausgrenzung mal anders.
Im Nachbarort, zwei Kilometer entfernt, wohnte ein langjähriger Freund von mir. Mit ihm war ich so gut wie täglich in meiner Kindheit und Jugend unterwegs. Während er bei uns ein- und ausging, konnte ich nie mit zu ihm gehen. Ich habe das auch nicht großartig hinterfragt, denn ich wusste, dass es seiner Mutter gesundheitlich nicht gut ging und seine Großmutter, die mit im Haus lebte, sehr streng sei. Ich dachte, er bekäme andernfalls Ärger. Zumal er mir nie sagte, woran genau seine Mutter erkrankt sei, sondern lediglich Andeutungen machte, dass geringster Stress sie sofort aus dem Konzept bringe. In der Kindheit haben wir das Thema mit diesem Buch auch mal bequatscht, da ziemlich viele Leute in den Ortschaften solchen Aberglauben hatten. Während ich mich drüber lustig machte und eher neugierig war, was es damit auf sich habe, hat er dazu immer nur gesagt, dass seine Oma eines habe, es von achtzehnhundert irgendwas wäre und dass sie es in ihrer Kammer aufbewahre, die sie immer abschließe, sowohl, wenn sie nicht in der Kammer ist, als auch, wenn sie drin ist. Sie habe ihm verboten, jemals hineinzugehen und das Buch zu nehmen. Nicht, weil es "böse" sei, sondern weil es ihr gehöre. Wann immer es um dieses Buch ging, habe sie feindselig reagiert. Er habe irgendwann mitbekommen, wo sie den Schlüssel versteckte und nutzte die Gelegenheit, als sie nicht da war. Er sagte, dass dann "komische Sachen" passiert seien, weigerte sich aber partout, mir zu sagen, was genau. Wann immer ich in all den Jahren danach fragte, mauerte er.
Stellt sich die Frage, warum ich nachfragte. Ganz einfach. Ich sah seine Großmutter auf einem Ortsfest, da war ich vielleicht 13. Bis dahin war ich ihr nie begegnet. Und ich als rational denkender Mensch muss sagen, dass mir noch nie ein Mensch begegnet ist, der in mir ein Gefühl auslöste, wie diese Frau. Es fällt mir schwer, solche Bezeichnungen in den Mund zu nehmen (da wie gesagt rationaler Mensch), aber in mir sträubte sich alles, mit dieser Frau konfrontiert zu sein. Sie strahlte Boshaftigkeit aus. Reine Boshaftigkeit. Ich hatte eine "strenge", vielleicht auch verbitterte Frau erwartet, wie er sie mir auch beschrieb, aber bis zu dem Zeitpunkt und auch nicht danach hätte ich für möglich gehalten, dass ein Mensch tatsächlich "abgrundtief böse" wirken könnte - ohne irgendwas zu sagen oder zu tun, was dieses Gefühl hätte bewirken können. Denn er zeigte sie mir lediglich und ich sah sie an. Ich fragte wegen der "komischen Sachen" also nicht in Bezug auf das Buch nach, sondern weil mich interessierte, weswegen diese Frau so wirkt wie sie wirkt.
Ich war Mitte 20 (!), als er mich erstmals mit ins Haus nahm, um mir zu "zeigen", was so "komisch" war, damals, als er die Kammer öffnete. Mutter und Großmutter waren an diesem Wochenende auswärts unterwegs, er also allein in diesem Haus. Er öffnete die Kammer (war Mini, vielleicht 12 qm), nichts außergewöhnliches zu sehen. Was dann aber passierte, erklärt sich für mich bis heute nicht, habe ich weder zuvor noch danach jemals woanders erlebt und lässt sich nicht anders beschreiben, als mit platten Schilderungen, wie man sie aus irgendwelchen Poltergeistfilmen kennt. Da rumpelte nix, sondern das komplette Haus bebte - und das für Stunden. Und wenn ich sage "beben" dann meine ich damit ein Klirren, Scheppern, Reißen und Rütteln sämtlicher Wände, Möbel, Decken und Böden, als würde dieses Haus gerade dabei sein, einzustürzen. Die Lautstärke war extrem und was mir als erstes auffiel, war, dass lediglich diese Kammer völlig unbehelligt davon zu bleiben schien, während der Rest des Hauses "tobte". Ich bin mir bewusst, wie sich diese Beschreibung anhören mag, wenn das jemand liest, komme ich ja selbst eher aus der Skeptiker-Fraktion. Daher ist es unnötig zu lachen oder es ins Lächerliche zu ziehen, wenn ich zudem erwähne, dass sich an den Decken der restlichen Zimmer schwarze Lachen bildeten, von denen es heruntertropfte. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das war oder gewesen sein könnte. Während ich völlig geschockt war und keinen Plan hatte, was da grad passiert, stand mein Freund nur da und sagte: "deswegen muss ich so oft wischen" (wann immer ich ihn mal anrief, und fragte, was er grad tue, sagte er oft, er mache sauber, worüber ich mich damals lustig gemacht hatte, "Putzzwang und so"). Es flog ein zwei Kilo schwerer Bergkristall durchs Zimmer, es rauschte Luft durchs gesamte Haus, obwohl weder Türen noch Fenster noch Dachfenster geöffnet waren, wie bei einem Sturm und obwohl wir nur zu zweit im Haus waren, fühlte es sich an, als sei es mit Menschen überfüllt (ein Gefühl, wie wenn man sich in einem überfüllten Club aufhält). Gedrängt irgendwie.
Dieser Freund bezog diese Geschehnisse hauptsächlich auf das Buch. Er sagte, dass genau das, was an diesem Abend passierte, immer dann stattfindet, wenn seine Großmutter nicht zu Hause ist, jemand anderer als sie die Kammer öffnet und wenn fremde Personen im Haus sind.
Ich denke noch immer nicht, dass ein Buch "böse" sein kann, aber seit diesem Tag dort in diesem Haus denke ich, dass man einen gewissen Respekt vor Dingen haben darf, die man nicht versteht, die man als Aberglaube abgetan hat und die als "verboten" verschrien sind.