Unser Wort "Engel" leitet sich vom griechischen "angelos" = Bote her, das wiederum eine griechische Übersetzung für das hebräische "mal'akh" = Bote ist. Das Wort mal'akh leitet sich von einem gemeinsemitischen Verb "la'akh" = senden ab.
Im Alten Testament werden Menschen mal'akh genannt, die Übersetzung gibt das dann in der Regel mit "Bote" wieder. Sie überbringen zumeist Botschaften, die oft mit "So spricht XY" eingeleitet werden (XY ist dann der Auftraggeber). Es muß nicht einmal eine feste, ausformulierte Botschaft sein, die der Bote übermitteln soll, es reicht ein Anliegen, das es durchzusetzen gilt. In diesem Falle ist der Bote geradezu ein Botschafter oder Vertreter des Entsenders (der eine Person oder auch eine Personengruppe, gar eine Stadt oder ein ganzes Volk sein kann). Gelegentlich ist die Aufgabe des Malakh auch, Informationen zu sammeln und dem Auftraggeber zu bringen. Selbstverständlich, wenn es Botschaften sind, die eine Antwort verlangen, aber auch allgemein. Daher kann der Bote auch Kundschafter sein, zuweilen geradezu Späher oder Spion.
Der Bote tritt dem Adressaten gegenüber auf wie der Auftraggeber selbst. Dem Boten des Königs ist Respekt wie dem König zu zollen, seine Worte und Weisungen sind wie die des Königs. Wer einen Boten schmäht udgl., der schmäht den Entsender und muß mit entsprechenden Sanktionen rechnen. Der Bote gilt als Verkörperung des Auftraggebers.
Die mythischen, also nichtmenschlichen Boten Gottes, die Engel, treten im Alten Testament fast ausnahmslos einzeln auf. Dabei fällt auf, daß bei ihrer ersten Erwähnung nicht von "ein Engel des HERRN" (und anschließend dann von "dem Engel") die Rede ist, sondern es heißt gleich zu Anfang "der Engel des HERRN", so als gebe es eh nur einen. Ebenso werden fast ausnahmslos Engel nur auf der Erde erwähnt, nicht in der Umgebung Gottes / im Himmel odgl. Engel sind an diesen Stellen also stets nur Engel bei der Arbeit. Gibt es keinen Auftrag für den Engel auszuführen, scheint er sich nirgends zu befinden. Womöglich steht dahinter die Vorstellung, daß der Engel des HERRN nur während seines Auftrags existiert, aber nicht zwischen zwei Aufträgen. Dazu paßt, daß der Engel des HERRN auch keinen Namen hat oder sonst irgendeine individuelle Eigenschaft, einen "Charakterzug" odgl. Der Engel scheint "ganz Auftrag" zu sein und sonst nichts.
Engel sehen aus wie Menschen. Der Engel, der zu Manoachs Ehefrau geht und ihr die Geburt des Richters Simson ankündigt, wird von der Frau für eine Prophetengestalt (ein "Mann Gottes") gehalten, also für einen Menschen, dessen Erscheinungsbild "wie das Aussehen des Engels Gottes, sehr furchtbar" war. Flügel fallen also schon mal weg.
Letztlich ist diese Art Engel kein eigenständiges Wesen, sondern gewissermaßen "die Präsenz Gottes auf Erden". Sie tun, was Gott will, und wer sie sieht, sieht Gott. So hat klagt Manoach, nachdem auch er den Engel seiner Frau gesehen und ihn als Engel erkannt hat, daß er sterben müsse, weil er Gott geschaut habe.
Neben dieser Vorstellung von Engeln gibt es dann auch solche, in der es mehrere Engel gibt. So träumt Jakob von der Himmelsleiter, an deren oberen Ende Gott steht, und über die Engel auf- und absteigen (wieder keine Flugwesen). Und als Gott den Abraham in Mamre besuchte, kamen drei Männer zu ihm ins Zelt. Später gingen zwei der Männer weiter nach Sodom, wo sie Engel genannt werden. Auch in den Psalmen kommt gelegentlich eine Engelmehrzahl vor.
Wie die menschlichen Boten haben auch die Engel in der Regel einen konkreten Auftrag, etwa eine Botschaft zu überbringen. Aber sie haben auch andere Aufgaben, etwa Israel zu beschützen (vor den Ägyptern beim Auszug) oder Feinde zu vernichten (der Engel, der die Erstgeburt Ägyptens tötet), oder auch das Volk zu strafen (der Pestengel, der durch Israel zieht, weil David gesündigt hat).
Auch hier gibt es wieder einige wenige Stellen, in denen Engel andere als kurzfristig beschränkte Aufgaben haben. So gibt es im Buch Daniel Engel, die eine Schutzfunktion für Völker haben, offensichtlich einen steten Schutz. Auch in den Psalmen kommen Engel vor, die quasi wie Schutzengel sich dauerhaft um das Wohl von Menschen kümmern sollen. Im Buch Daniel, einer sehr späten Schrift aus dem 2.Jh. v.Chr., tauchen dann die ersten Engelnamen auf: Michael und Gabriel (wobei letzterer noch "Mann" genannt wird, nicht Engel). Spätestens in der hellenistischen Zeit leben Engel schließlich in den himmlischen Sphären und bilden unterschiedliche Engelklassen (Erzengel, Engel, Gewalten, Throne, Cherubim, Seraphim, Ophanim...)
Engel sind nicht die einzigen Wesen der altisraelitischen Mythologie. Da gibt es Cherubim und Seraphim. Um sich vorzustellen, was das ist, helfen ihr ägyptisches Pendant: Sphinx und geflügelte Uräusschlange.
Dies sind Wächterwesen, aber auch Reit-bzw. Thronwesen. Der mesopotamische Sphinx hat statt eines Löwen- einen Stierkörper, wie auch die Cherubim bei Hesekiel. Auch sprachlich stehen sich der hebräische Cherub und der assyrische karabu nahe. Die Perser später nannten diesen Wächtersphinxstiercherub dann wieder ähnlich: Giriften. Schließlich bekam er noch Adlerklauen als Vorderfüße und von den Griechen den Namen Gryps (gebeugt gryphos), was schließlich zu unserem Greif führte. Aber das nur nebenbei.
Neben Engel, Sphinx und Uräe gab es noch die Söhne Gottes. Eigentlich sind das Götter, die Söhne (und Töchter) des Göttervaters El. Da El auch "Gott" heißt, sind es biblisch eben die Söhne / Kinder Gottes. Man kann sie auch den "himmlischen Hofstaat" nennen oder auch das "Himmelsheer", beides biblische Synonyme für diese Gruppe. Ursprünglich war auch JHWH, der Gott Israels, einer dieser Söhne Els des Höchsten. Aber in späteren Zeiten avancierte er zum Chefgott, zu JHWH zebaot, wie der Prophet Jesaja ihn nennt, also JHWH der (himmlischen) Heerschaaren. Und im Monotheismus nochmals später sanken die Heerscharen, das Himmelsheer, die Göttersöhne, zu Engeln nieder. Da wurden dann auch Cherub und Saraf zu Engelswesen, und die übrigen Engel "erbten" von diesen beiden dann die Flügel.
Im Buch Josua begegnet Josua kurz nach Einzug ins Land Kanaan einem Mann mit Schwer in der Hand. Josua fragt diesen, auf wessen Seite er denn stünde. Der "Mann" sagte, er sei der Heeroberste des HERRN. Hier scheint das Himmelsheer geradezu etwas Militärisches zu sein. An anderer Stelle werden die Sterne bzw. Sternzeichen in der Bibel Himmelsheer genannt, und zwar dort, wo vorgeworfen wird, daß die Israeliten Sonne, Mond und das ganze Himmelsheer anbeten würde. Da im Buch Josua wie im Buch der Richter die Vorstellung erwähnt wird, daß Sonne und Mond bzw. daß die Sterne gegen Israels Feinde kämpfen würden, scheinen die Gestirne also ebenfalls eine "himmlische Bevölkerung" zu sein, und zwar eben jenes militärische Heer, über welches jener Mann mit Schwert Heeroberst war. Es ist denkbar, daß Jesajas JHWH zebaot = HERR der Heerscharen nicht den "göttlichen Hofstaat" der Göttersöhne meint, sondern dieses militärische Sternenheer. Dann wäre JHWH der "Heeroberste" selbst. Zu deutsch, der Mann mit dem Schwert vor Josua war Gott höchstpersönlich. Dazu paßt, daß dieser Mann wie weiland Gott aus dem brennenden Dornbusch zu Mose sprach "Zieh deine Schuhe von deinen Füssen; denn der Ort, auf dem du stehst, ist heilig" (Josua5,15 und 2.Mose3,5). Jahrhunderte später gilt Erzengel Michael dann als der Heeroberste des Engelsheeres.
OK, der mythische "Götterhimmel" ist ziemlich bunt, und er hat sich im Laufe der Jahrhunderte sehr verändert. Engel waren nur eine Gruppe unter vielen, und in der hauptsächlich begegnenden Vorstellung gab es eigentlich immer nur einen aktuellen Engel, wenn es gerade einen Anlaß gab. Erst später setzte sich die Vorstellung von dauerhaft und zahlreich existierenden Engeln durch. Diese vermischten sich dann inhaltlich wie rein äußerlich mit den anderen Wesen des mythischen Götterhimmels, und heraus kamen Engel mit Flügeln in verschiedenen Kategorien, mit individuellen Namen. Aber mit den ursprünglichen Engeln hatte das nicht mehr viel zu tun. Noch weiter weg sind dann die späteren Vorstellungen von den herzenslieben, weichgespülten Engelchen, die geschlechtsneutral oder gar weiblich seien. Die "alten Engel" sind "furchtbar". Wenn Du einen Engel siehst - lauf um Dein Leben und sieh nicht zurück; wenn Du Glück hast, stirbst Du nicht!
Was es nun für Legenden um Michael geben mag, sie sind alle sehr viel jünger als die ältesten Engelsvorstellungen des AT. Hier kenn ich mich nicht so gut aus (ist mir "zu jung") und interessiert mich auch nicht sonderlich. Aber ne Betrachtung der Engelsvorstellung in ihrem Wandel hilft vielleicht auch ein wenig.
Pertti