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23.06.2014 um 14:44
Die andere Seite
Langsam öffnete ich die Augen. Was ich sah, erstaunte mich sehr. Rings um mich warmes, freundliches oranges Licht. Vor meinen Augen waren Gleise, überall Gleise. Wo war ich? Ich hob den Kopf. Bahnschienen, Schwellen, oranges Licht. Und ich kniete mitten darin. Meine Hände fühlten das kalte Metall. Noch war ich nicht fähig mich aufzurichten. Ein Zug raste vorbei. Weit genug entfernt, um mir keine Angst einzujagen. Ein grüner Zug, die Fenster hell erleuchtet und voll besetzt mit Menschen. Sie unterhielten sich und lachten. Kurz danach donnerte ein Zug auf dem Nebengleis an mir vorbei. Und immer noch keine Angst. Der nächste Zug hielt an, gar nicht weit von mir. Die Lichter gingen aus und die Türen öffneten sich. Niemand stieg aus, kein Mensch war zu sehen. Dann schlossen sich die Türen und der Zug verschwand irgendwo in dem orangen Nebel.
Langsam kroch ich auf allen Vieren vorwärts. Stundenlang, tagelang. Die Zeit war stehen geblieben. Züge rasten vorbei, Züge hielten, wurden dunkel, aber kein Mensch stieg aus. Ich war allein. Und weiter kroch ich, angetrieben von nichts. Fuhr ein Zug vorbei, hob ich einen Arm und winkte. Niemand sah mich. Ich existierte nicht.War ich im Jenseits? War ich verdammt bis in alle Ewigkeit hier herumzukriechen? War ich tot? Träumte ich das alles?
Nur das Licht, dieses erfreuliche Orange, in das man eintauchen und vergessen konnte, gab mir Hoffnung. Wo kam es eigentlich her? Ich konnte keine Lichtquelle ausmachen, es war einfach da.
Manchmal dachte ich, du musst essen, doch ich verspürte keinen Hunger. Meine Knien waren aufgescheuert und bluteten, doch ich verspürte keinen Schmerz. Meine Hände fühlte ich nicht mehr. Sie tasteten sich von allein vorwärts und die Arme winkten von allein, wenn ein Zug vorüber fuhr.
Langsam und bruchstückhaft kamen Erinnerungen. Weihnachten... ja, es war Weihnachten. Ich stand im Zug mit meinen Freunden. Wir sprachen von Schlitten fahren und Schneeballschlacht. Wollten wir doch in die Berge ihrem behindertem Sohn zuliebe, der Schnee über alles liebte. Und ich war eingeladen, da ich sonst Weihnachten allein verbracht hätte.
Aber wie kam ich hierher?
Stimmt, wir standen im Zug an der Tür. Noch eine halbe Stunde, dann hatten wir unser Ziel erreicht. Doch plötzlich hielt der Zug und die Lichter gingen aus. Die Tür öffnete sich. Drinnen und draußen war es stockdunkel. Plötzlich bekam ich einen Stoß und flog hinaus. Stürzte hinaus aus dem Zug in die Dunkelheit und noch ehe ich aufschlug, wusste ich, dass mich das behinderte Kind gestoßen hatte.
Ich spürte keine Wut, keine Angst. Ich spürte keine Hoffnung, dass das alles vorbei sein würde. Ich hob nur den Arm und winkte und kroch vorwärts. Es war auch kein Gedanke da, der mir sagte, bald wirst du überfahren werden. Ich hatte keine Angst. Ich war ein Nichts in einer irrealen Welt.
Ausgestoßen aus einer Welt in die andere.
Wie viele Jahre war ich schon hier? Oder waren es nur Minuten? Wurde ich vermisst in der anderen Welt?
Ein Lichtschein! Kaltes weißes Licht. Ein riesiger Lichtkegel! Ein Zug kam, die Lichter gingen aus und die Türen öffneten sich. Aus der Tür stieg ein Mann. Er stieg hinein in das grelle Licht auf einen winzigen kleinen Bahnsteig. Die Türen des Zuges schlossen sich und er fuhr ab. Aber der Mann war noch immer da. Ich konnte ihn deutlich sehen, obwohl ich weit entfernt war. Er trug einen schwarzen Hut mit Krempe und einen langen schwarzen Mantel. Als er sich umdrehte, konnte ich sein Gesicht sehen. Es war die Güte in Person. Liebe freundliche blaue Augen, die zu mir hinsahen und ein Mund der lächelte. Aschblonde Haare ringelten sich unter dem Hut hervor. Da stand er auf seiner Insel aus Licht und ich wusste, er war die Liebe.
Automatisch hob ich den Arm und winkte ihm zu. Er winkte zurück.
Nun kroch ich vorwärts in seine Richtung und er stand da und sah mir zu. Sah er mich eigentlich? Hatte er mir zugewunken? Egal, ich musste zu ihm hin. Als ich etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, hielt wieder ein Zug bei ihm. Diesmal gingen die Lichter nicht aus aber die Türen öffneten sich. Der Zug war vollbesetzt mit Menschen, sie standen bis an die Tür. Der Mann im schwarzen Mantel ging auf die Tür zu. Mein Herz blieb stehen. Wollte er mich hier allein lassen? Die Menschen standen mit unbewegten Gesichtern und wichen nicht zur Seite. Der Mann, der scheinbar ein Laptop in der Hand hatte, hob es hoch und reichte es in den Zug. Irgendjemand griff danach. Nun versuchte der Mann einzusteigen, aber er schaffte es nicht. Niemand wich zur Seite. Die Türen schlossen sich und der Zug fuhr ab. Zurück blieb im grellen kalten Scheinwerferlicht ein einsamer Mann. Jetzt wünschte ich mir, er hätte einsteigen können. Er sah so traurig aus. Und weiter kroch ich auf ihn zu. Nur noch zwei Meter und ich würde im hellen Licht sein. Im hellen Licht auf der kleinen Rampe. Doch ich kam nicht weiter. Plötzlich war alle Angst und aller Schmerz da. Ich lag auf den Knien und weinte und schaute ihn flehend an. Er hörte mich und sah mich. Und er stieg von seinem Podest herunter zu mir. Er kniete sich neben mich und hob mich auf. Auf seinen starken Armen trug er mich ins Licht. Dann kam ein Zug und wir stiegen ein. Ich lag noch immer in seinen Armen und ich wusste, dass er mich in die andere Welt zurück trug.
Er war die Liebe! Er war die Güte! Und er war das unendliche Glück!