Prozessauftakt Mirco
12.11.2012 um 18:49
Das Buch von Herrn Thiel,ein Auszug daraus.
Teil 1:
Der Wein ist gut, er passt perfekt zu den Spaghetti mit Rucola-Pesto und Pinienkernen, die meine Frau vor zwanzig Minuten auf den Tisch gebracht hat. Da sitze ich jetzt auf der Couch, zusammen mit Uta, nehme einen weiteren Schluck und schaue ziellos durchs Wohnzimmerfenster auf die Wiesen hinter dem Haus. Sie glänzen im goldenen Abendlicht. Es ist das erste Wochenende im September 2010. Ein schöner Samstagabend ohne Verpflichtungen könnte jetzt einfach so weitergehen.
Da brummt der Vibrationsalarm meines Handys. Ein Kollege der Kriminalwache in Mönchengladbach ist dran; ich ahne, dass ich den Wein wohl nicht in Ruhe austrinken kann. Wenn die Kollegen mich so spät bemühen, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung, muss es einen besonderen Grund geben. Trotzdem sind die ersten Sätze für mich wie ein Schlag mit dem Hammer. „Wir haben ’nen Jungen weg“, sagt der Kollege von der Wache.
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Ich spüre Uta in meinem Rücken, als ich im Flur meine Schuhe suche. Wenn dies ein Fernsehkrimi wäre, müsste sie jetzt die Beleidigte geben. Aber das hier ist das wirkliche Leben und Uta eine ganz gelassene, realistische Frau. Sie hat mich vor einigen Jahren so gekauft wie besehen: ein Kripo-Mann aus Leidenschaft, den Freund und Feind „Terrier“ nennen.
„Da ist jemand verschwunden“, sage ich knapp, „hört sich gar nicht gut an. Warte besser nicht auf mich.“
„Okay“, sagt Uta, „dann trink ich dir den Wein weg.“
Suche nach Mirco: Polizisten durchkämmten damals die Wälder rund um Grefrath
Foto: Hojabr Riahi
Mirco S. ist mittlerweile seit vierundzwanzig Stunden verschwunden; er hat, wie uns die Viersener Kollegen schildern, den ganzen Nachmittag mit Freunden verbracht. Zuerst hat er sich mit einem Jungen und zwei Mädchen im Kempener Kino den 3D-Film „Step-up“ angesehen. Dann sind alle vier zu einer Skateranlage in Grefrath-Oedt geradelt. Dort tummelten sie sich, bis eine Schwester seines Freundes Mirco ausrichtete, dass seine Mutter angerufen hat: Er soll endlich nach Hause kommen. Also hat er sich gegen halb zehn aufs Rad geschwungen. Der Junge fuhr zunächst durch Oedt, um seinen Freund bis zu einer Bushaltestelle zu begleiten, an der sich regelmäßig ihre Wege trennten.
Dort ist Mirco zuletzt gesehen worden.
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„Wer von euch glaubt, dass wir den Jungen lebend finden?“, frage ich dort in die Runde. Statt zu antworten, schauen alle nur auf den Boden. Wahrscheinlich sind wir uns in diesen Momenten um Mitternacht einig geworden, dass wir vom Schlimmsten ausgehen müssen. Und dass viel Einsatz nötig sein wird, um den Jungen und seinen mutmaßlichen Entführer so schnell es geht aufzuspüren. Das ganz große Besteck: eine Sonderkommission.
Wir von der Kriminalpolizei sprechen lieber von Ermittlungs- und Mordkommissionen, aber Mordkommission würde in diesem Fall ein falsches Signal aussenden. Noch gibt es eine theoretische Chance, dass die Sache gut ausgeht.
Und wenn wir gleich von Mord sprächen – wer da draußen würde sich noch die Mühe machen, uns Beobachtungen und Hinweise zu liefern, die bei der Suche helfen könnten?
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*„Soko im Einsatz - Der Fall Mirco und weitere brisante Kriminalgeschichten“ von Ingo Thiel mit Bertram Job erscheint am 12. November im Verlag Ullstein extra (222 Seiten, 14,99 Euro)
Mirco hätte bis zur Abgreifstelle nicht mehr als zehn, zwölf Minuten gebraucht, schätzen die einen. Andere meinen, wir sollten besser von zwanzig Minuten ausgehen. Bis unserem OFA-Mann (Operative Fallanalyse, Ermittler, die Täterprofile erstellen, d. Red.) Bernd Mertens die zündende Idee kommt. „Warum lassen wir nicht einen anderen Jungen diese Wege nachfahren?“, fragt er in die Runde. „Einen, der etwa im gleichen Alter ist. Dann können wir die Zeit stoppen, die er dafür braucht.“
Also schicken wir den zehnjährigen Sohn eines Viersener Polizisten auf die verschiedenen Strecken und nehmen die Zeit. Demnach müsste Mirco nach etwa fünfzehn Minuten, also gegen zehn, seinem Entführer begegnet sein.
Das ist der Zeitpunkt des Übergriffs, von dem wir ab jetzt ausgehen.
Teil 2;
Am Dienstag, dem Tag 5 der Soko, finden sich tatsächlich die ersten Spuren. Eine Frau ruft in unserer Zentrale an. Ihre Mutter hat auf einem Parkplatz an der Hinsbecker Straße, ein paar Kilometer von der Abgreifstelle entfernt, eine graue Jogginghose entdeckt.
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Laboranten haben an Mircos Jogginghose Fremdspuren für ein erstes DNA-Profil gefunden. Und zwei markante Fasern, die aus dem Umfeld des Fahrers stammen müssen. Es sind sehr wahrscheinlich die ersten Abdrücke, die wir vom mutmaßlichen Täter haben.
Absolut unverwechselbar, wie mir unser Kriminaltechniker Jürgen Theissen bestätigt, und völlig ausreichend, um einen Verdächtigen zweifelsfrei zu überführen.
Unsere Hoffnung besteht von nun an aus zwei mikroskopisch kleinen, auffälligen Fasern. Die eine ist blau, die andere orange. Beide stammen sehr wahrscheinlich aus seinem persönlichen Lebensbereich und sind so einzigartig, dass bei Übereinstimmung ein Irrtum ausgeschlossen werden kann.
★★★
Eines Nachmittags steht dann wieder Bernd Mertens in meiner Tür. Der leise Kollege von der Operativen Fallanalyse senkt seine Stimme immer noch ab, wenn er einen neuen Gedanken unter die Leute bringen will.
Das verfehlt nur selten seine besondere Wirkung: Jeder hört ihm aufmerksam zu. „Warum sollten wir nicht versuchen, den Jungen mit den Kampffliegern der Bundeswehr aufzuspüren?“, fragt er unvermittelt und genießt meinen erstaunten Blick. „Die haben Tornados mit Wärmebild-Kameras.“
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Der Zeitpunkt ist günstig. Münchner Rechtsmediziner haben in einer neueren Studie herausgefunden, dass der menschliche Körper im Freien zehn bis fünfzehn Tage nach dem Ableben seine höchste Temperatur erreicht, wie mir Bernd erzählt. „Hat wohl in erster Linie mit den Bakterien zu tun, die ihn in dieser Zeit befallen.“
„Was denn für ’ne höchste Temperatur?“
„Puh... wenn ich’s richtig behalten hab, fast neunzig Grad.“
Bernd hat auch noch das saure Gesicht genossen, das ich gezogen hab. Aber warum nicht das Unwahrscheinliche versuchen? Die Chance dazu ergibt sich, als Uwe Schummer, ein Bundestagsabgeordneter aus dem nahen Wahlkreis Nettetal, bei einer Veranstaltung auf Verteidigungsminister Theodor zu Guttenberg trifft.
Auf unsere Bitte hin fragt Schummer beim obersten Heeresführer an, ob die Tornados verfügbar seien – und erntet prompt eine verbindliche Zusage. Von da an geht alles sehr schnell, auch wenn sich einige Herren in der Führungsriege der Bundeswehr ein wenig übergangen fühlen.
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Später schaue ich mir Mircos Zimmer an. Es ist ein kleines Reich voller Fotos von Treckern und Landmaschinen an den Wänden. So oft er konnte, ist Mirco mit seinem Rad zu den umliegenden Höfen gefahren, um dort bei der Arbeit zuzusehen.
Ein richtiger Junge vom Land, der lieber unterwegs war, als vor der Play Station zu hocken, und später Bauer werden wollte. Mich hier umzusehen hilft mir, ihn etwas besser kennenzulernen.
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„Kümmert ihr euch jetzt um eure anderen Kinder“, sage ich später zu den Eltern, „wir kümmern uns inzwischen um Mirco.“
Nach knapp zwei Stunden bringen uns Sandra und Reinhard S. fast schon wie gute Bekannte zur Tür. Dort werden wir alle vier zum Abschied kurz von der Mutter des Jungen gedrückt. In diesem bewegenden Moment höre ich mich noch einen letzten Satz sagen.
Es ist einer von denen, die man nicht planen oder einstudieren kann: „Wir gehen hier nicht eher weg, bis wir den gefunden haben. Das kann ich Ihnen versprechen. Und wir finden ihn.“
Teil 3:
„Soko im Einsatz – Der Fall Mirco und weitere brisante Kriminalgeschichten“ von Ingo Thiel mit Bertram Job
Ich stehe mit diesem Fall auf und nehme ihn mit ins Bett. Ich lebe mehr mit den Leuten der Soko zusammen als mit der Frau, die nach ihrem eigenen Feierabend wieder unseren Kühlschrank aufgefüllt und zwei Maschinen Wäsche erledigt hat. Die sich nicht beschwert, wenn ich das wenige, das ich für uns tun wollte, über den Tag wieder vergessen habe.
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Im Januar taucht plötzlich eine zweite Spur auf. Sie wird von Peter Renzel alias Siggi entdeckt, der noch immer dabei ist, zusammen mit Armin die Ramschdaten der Netzbetreiber auszuwerten. Sie halten fest, welche Mobiltelefone wann in welche Funkzelle eingetreten sind.
Siggi hat diese Daten in jeder freien Stunde studiert, dabei kristallisierte sich eine Linie heraus. Und jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Eine der Mobilfunk-Nummern wurde am Abend des 3. September immer dort verortet, wo später Mircos Kleider und Schuhe auftauchten.
Ecki hat bei der Bundesnetzagentur angefragt, auf wen das ominöse Handy gemeldet ist. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Inhaber des Geräts ist kein privater Nutzer, sondern die Telekom selbst. Der Mitarbeiter, der das Mobiltelefon nutzt, heißt Olaf H. Er arbeitet im Außendienst, ist fünfundvierzig Jahre alt und wohnt in der Gemeinde Schwalmtal. Die liegt keine fünf Kilometer von meinem Haus entfernt.
Armin hat den Namen des Handynutzers in den Rechner eingegeben und gleich mehrere Volltreffer erhalten: Olaf H. ist längst in unserem System. Er war im Juni 2010 im nahen Dilkrath von einer Radarfalle erfasst worden, als er mit 40 km/h durch eine Tempo-30-Zone fuhr.
Sein Fahrzeug: ein in Münster angemeldeter Passat Kombi B6. Den hat er allerdings sofort nach Beginn der bundesweiten Fahndung ans Flottenunternehmen der Telekom zurückgegeben. Das ist für mich das letzte Teil im Puzzle, jetzt ist das Bild komplett.
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Ich habe meinen Mitarbeitern streng verboten, sich dem Haus des Verdächtigen zu nähern. Doch vor Feierabend gebe ich nun selbst der Neugier ein Stück weit nach – zumindest virtuell. Ich öffne auf meinem Rechner Google Earth und gebe dort die Straße ein, auf der sich das Haus befindet.
INGO THIEL
Mir fällt sofort ein, dass ich schon mal hier gewesen bin. Letzten Juli, keine zwei Monate vor der Tat, bin ich an diesem Haus mit dem Schützenzug vorbeigelaufen. Zum traditionsreichen Schützenfest des Ortes.
Und genau vor diesem Haus stand ein Mann an einem Gartengrill und wendete fröhlich Bratwürstchen. Die waren sein Beitrag zum Schützenfest. Wir waren in dem Moment nur wenige Schritte voneinander entfernt, Olaf H. und ich.
Später erfahren wir von ihm, wie er den Jungen zunächst erdrosselt und dann zur Sicherheit auch noch mit einem Messer bearbeitet hat. Aus seinem Mund klingt das so
präzise und unbeteiligt wie die Anleitung zur Montage eines Küchenschranks.
Wenn er Bedauern äußert, gilt es der eigenen Lage. „Von mir nimmt jetzt keiner mehr ein Stück Brot“, sagt er einmal. Auch das wirkt so nüchtern, als spräche er über eine andere Person.
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Der Geständige ist bereit, uns zu Mircos Leiche zu führen. Erst wollte er die betreffende Stelle nur in einer Karte markieren. Doch schon bald willigt er ein, sie den beiden vor Ort zu zeigen.
Vielleicht ahnt er jetzt, dass es für längere Zeit der letzte Ausflug in diese Gegend, ja in irgendeine Gegend sein könnte. Vielleicht denkt er aber auch gar nicht so weit. Ich verspüre in dem Moment wenig Neigung, mich ernsthaft in ihn hineinzuversetzen.
Bevor ich an ihm vorbei bin, hebe ich nur kurz den Zeigefinger, wie zum Gruß, und sage halblaut: „Hab dich!“ – ENDE
*„Soko im Einsatz – Der Fall Mirco und weitere brisante Kriminalgeschichten“ von Ingo Thiel mit Bertram Job erscheint am 12.November!!