@zweiter Ich würde in mehrerlei Hinsicht widersprechen.
Bundy hat erst spät(er) von der Art des Familienverhältnisses erfahren. Bereits vorher gab es Auffälligkeiten in seinem Verhalten, wie z.B. die frühe Beschäftigung mit Sexualität und Kontrolle, z.B. das Eindringen in die Intimsphäre Anderer (z.B. Spannerei). Als Dreijähriger Messer um eine schlafende Person zu drappieren, spricht dabei schon für eine gewisse fehlgeleitete Aggression und Personenwahrnehmung. Sicherlich machen viele Dreijährige jede Menge Unsinn, vielleicht auch in einer solchen kruden Form, allerdings fügt sich diese "Anekdote" m.E. gut in die nachfolgende Laufbahn Bundys ein.
Die Theorie, die du in deinem Posting verfolgst, erzählt die Geschichte einer neurotischen Pathologie. Doch wie sämtliches Material zu Bundys Persönlichkeit und Verhalten offenbart, war er zur Neurose nicht fähig. In seinen Taten sehe ich persönlich nicht das Bestreben, Dominanz ÜBER eine andere Person auszuüben, sondern diese Personen als Mittel zum Zweck zu benutzen, um SICH SELBST in seiner Dominanz zu bestätigen. Das würde auch erklären, weswegen unter seinen Opfern eine gewisse Wahllosigkeit herrschte und u.a. auch Kinder darunter auftauchten. Bundy hat zwar vordergründig zu seinen Opfern Auskunft gegeben, hat allerdings niemals Angaben dazu gemacht, weswegen er Kinder ermordete. Im Interview vor seiner Hinrichtung kann man in seinen nonverbalen Signalen sehr schön erkennen, was der mögliche Grund hierfür war. Erst huscht ein kleines Lächeln über sein Gesicht (es tat ihm nicht leid), das er sofort wieder verbirgt und dann lässt sein bedeutungsschwangerer, ernster Blick verlauten, dass es ihm offenkundig womöglich belaste. Das, was ihn, wenn überhaupt, daran belastet haben dürfte, war, dass die Kinder-Opfer der Fehler im Bild waren. Nicht in irgendeinem sondern in seinem Selbstbild. An den Kinder-Opfern wird deutlich, dass es ihm zu keiner Zeit um die expliziten Personen ging, die er vielleicht aus sexuellen Motiven ermordete, sondern dass ihm völlig egal war, wer das Opfer war und dieses ausschließlich den Nutzen hatte, ihn in seiner Dominanz zu bestätigen.
Warum ich ausschließe, dass die sexuelle Bemächtigung das Motivs Bundys war? Er hat einen heiden Aufwand betrieben, um sich den Opfern anzunähern. Er hat sich mitunter tage- und stundenlang mit ihnen beschäftigt, ihnen hinterherzusteigen, sie zu beobachten und sie zu manipulieren. Und dann, als er sie in seiner Gewalt hat, tut er etwas Paradoxes: er würgt oder schlägt sie bewusstlos. Erst dann missbraucht er sie. Und erst danach tötet er sie. Ginge es ihm um eine neurotisch-aggressive Triebabfuhr (Bestrafung des Mutter-Bildes), hätte er seine Opfer schon bei Bewusstsein lassen müssen, als er sie vergewaltigte. Diese letzte Sequenz war aus meiner Sicht lediglich seine Art, sich selbst die Belohnung zu geben, den Triumpf zu bestätigen, für die tolle Strategie der Jagd, die er zuvor verfolgte. Die Stabilisierung seines großen Selbstbildes. Das erklärt auch, weswegen seine Morde auch in der Art der Ausführung eskalierten, nachdem er nach den Verhaftungen floh. Er hatte den Thrill sehr nötig.
Darüber hinaus bin ich auch nicht der Meinung, dass er seine Opfer nach besonderen äußeren Merkmalen auswählte oder diese im Fokus seiner Auswahlkriterien standen, sondern die Rahmenbedingungen, in denen er seine Opfer fand. Auch in der Wahl seiner Reviere wurde er elaborierter. Erst Opfer im unmittelbaren Nahbereich (Nachbarschaft), dann, mit Zugang zur Universität Opfer, die dieser angehörten. Dann der nicht-institutionelle öffentliche Bereich (Naherholungsgebiete), bishin zum rein öffentlichen Bereich, wo er sich als Polizeibeamter ausgab. Man sieht also, dass er auch seine Rollen, die er verwendete, um an Opfer zu kommen, variierte und weiterentwickelte, bis er letztlich keiner Rolle mehr bedurfte, wie die Ermordung und Verletzung der Frauen in der Studentenverbindung zeigt. Da ist er einfach reinmarschiert, hat ein Massaker veranstaltet und ging wieder. Ohne vorherige Legendenbildung oder Manipulationen.
In all seinen Handlungen steht seine eigene Brillianz, sein eigenes Können, seine eigene Person, seine eigene Fähigkeit stets im Mittelpunkt. Die Opfer waren, wie gesagt, nur Mittel zum Zweck, ihn darin zu bestätigen. Ich gehe davon aus, dass er den Opfern gegenüber weder Aggressionen noch Verachtung empfand, sondern schlichtweg nichts.
Bei Psychopathie scheint es einen gewissen Grad an Umweltfaktoren zu geben, die an der Genese dieses Phänotyps beteilgt sein könnten, allerdings sprechen aktuelle Belege eher davon dass es sich wie gesagt um einen neurobiologisch abgrenzbaren (eigenständigen) Phänotyp von Persönlichkeit handeln dürfte. Daher denke ich, ist es insbesondere bei dieser Tätergruppe nicht wirklich möglich und auch nicht zielführend, eine Kausalität hinter den Taten herstellen zu wollen, die es womöglich gar nicht gibt. Zumindest nicht in der Form, wie man das bei Menschen mit halbwegs vorhandenem Empathievermögen tun könnte und kann.