Verschollenes Wissen das Rad wurde 2mal erfunden
14.02.2005 um 17:4112. Jahrhundert, ein Kloster in der Wüste Judäas: Ein Mönch überschreibt die Seiten eines Buches, das er in der dortigen Bibliothek gefunden hat. Er weiß nicht, dass er dadurch eines der Hauptwerke der antiken Naturwissenschaft verschwinden lässt: eine Abschrift von sieben Texten des griechischen Mathematikers Archimedes.
Dass die Erkenntnisse des antiken Genies die Welt hätten verändern können, ist auch 800 Jahre später dem dänischen Griechenlandexperten Johan Ludwig Heiberg nicht klar. 1906 entdeckt er das Gebetbuch in einer Bibliothek in Konstantinopel – und erkennt die Spuren einer Schrift, die sich rechtwinklig zum biblischen Text über das Pergament zieht. Schnell bemerkt der Forscher, dass es sich um ein Werk des großen Archimedes handelt. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 verschwindet das Archimedes-Manuskript wieder von der Bildfläche.
Erst als das Buch 80 Jahre später wieder auftaucht, können Wissenschaftler beginnen, es vor dem Verfall zu retten und vor allem gründlich zu untersuchen. Was dabei zum Vorschein kommt, ist nichts weniger als eine Sensation.
Wie konnten die Schriften des Archimedes mehr als 2.000 Jahre überdauern? Die Reise durch die Jahrhunderte beginnt in Alexandria: Dort nutzen Forscher die Aufzeichnungen des griechischen Mathematikers als Lehrmaterial. Die Schriften werden immer wieder kopiert und zu Büchern gebunden. Das wiederaufgetauchte Exemplar stammt wahrscheinlich aus dem 10. Jahrhundert.
Ein Mönch braucht mehr Pergament
Als rund 200 Jahre später einem Mönch beim Verfassen eines Gebetbuches das Pergament ausgeht, holt er sich Nachschub aus der Bibliothek seines Klosters. Er nimmt sich ein Buch, dessen Inhalt er nicht versteht, löst die Pergamentseiten heraus und versucht, das Geschriebene mit einem Schwamm und Limettensaft zu löschen – was allerdings nicht vollständig gelingt. Dann schneidet er die Bögen durch, dreht sie um 90 Grad und bindet sie neu zusammen. Schließlich überschreibt er – ohne es zu wissen – die letzte bekannte Kopie von Archimedes’ Werk mit seinen Bibelversen.
Wanderschaft durch Klöster und Bibliotheken
Dieses Palimpsest – die Bezeichnung für ein Schriftstück, dessen Zeilen entfernt und überschrieben wurden – verschwindet immer wieder und taucht dann im Laufe der Jahrhunderte in verschiedenen Bibliotheken und Klöstern erneut auf. Durch die nach wie vor erkennbaren geometrischen Zeichnungen fällt das Buch allerdings jedes Mal auf, und so lässt sich sein Weg einigermaßen präzise nachvollziehen.
1906 in Konstantinopel entdeckt
Als Johan Ludwig Heiberg 1906 in einer Bibliothek in Konstantinopel das Werk entdeckt, darf er das Manuskript nicht für weitere Untersuchungen mitnehmen. Man gestattet ihm lediglich, Fotografien der Seiten anzufertigen. Anhand der Kopien kann Heiberg den Text nur teilweise entziffern, vieles bleibt verborgen. Aber eines ist schnell klar: Es handelt sich um ein Werk des großen Archimedes.
Auf der Titelseite der New York Times
Als Heiberg bekannt gibt, dass das verschwundene Manuskript wieder aufgetaucht ist, sorgt das für Furore in der Wissenschaftswelt. Die Story schafft es sogar auf die Titelseite der New York Times. Doch bevor der Däne nach Konstantinopel zurückkehren kann, um das Manuskript weiter zu untersuchen, bricht 1914 der Erste Weltkrieg aus. Ganz Europa versinkt im Chaos, ebenso die Gebiete der heutigen Türkei.
Versteigerung bei Christies in Paris
Nach den Wirren des Krieges gilt das Archimedes-Manuskript erneut als verschollen – bis es 80 Jahre später von einer alteingesessenen Pariser Familie zum Verkauf angeboten wird. Ein Mitglied dieser Familie, ein Sammler, war in den 20er Jahren nach Konstantinopel gereist und dabei zufällig auf das Palimpsest gestoßen. Als das Buch 1998 bei Christies in Paris versteigert wird, erzielt es einen Preis von 2 Millionen US-Dollar. Wer das wertvolle Objekt erworben hat, bleibt unbekannt – der Käufer will anonym bleiben. Man weiß lediglich, dass es sich um einen Multimilliardär aus der Computerbranche handelt. Das Leben des griechische Mathematikers Archimedes beginnt wahrscheinlich 287 vor Christus in dem griechischen Stadtstaat Syrakus auf Sizilien. Zum Studium geht Archimedes nach Alexandria, wo die besten Wissenschaftler der hellenischen Welt lehren.
Heureka!
Nach seiner Rückkehr in die Heimat widmet sich Archimedes ausgiebig der Mathematik und der Physik. Bekannt ist die Geschichte, dass er bei einem Bad das Prinzip des Auftriebs entdeckt haben soll: Das Gewicht eines schwimmenden Körpers entspricht stets dem Gewicht der verdrängten Flüssigkeit. Diese Erkenntnis hat ihn angeblich zu dem berühmten Ausruf veranlasst: „Heureka“ – „Ich habe es gefunden“!
Wunderwaffen der Antike
Außerdem betätigt sich Archimedes als Kriegswaffeningenieur König Hierons II. von Syrakus. Die Entdeckung der Hebelgesetze ermöglicht es ihm, Kräne zu konstruieren, die ganze Schiffe hochheben und anschließend zerbersten lassen können. Nicht zuletzt ist er der erste, der die Quadratwurzel aus der Zahl drei zieht und einen Näherungswert für die Zahl Pi errechnet.
Verbindung von Mathematik und Physik
Archimedes gilt als sehr vielseitig und originell in seinen mathematischen Erforschungen und Berechnungen. Wie keinem anderen vor ihm ist es ihm gelungen, Mathematik und Physik miteinander in Verbindung zu setzen und somit eine Grundlage für die moderne Naturwissenschaft zu schaffen. Das zeigt sich vor allem in seiner „Methodenlehre“, in der Archimedes beschreibt, wie er seine mathematischen Sätze über die Berechnung von Flächen mechanisch realisiert.
Der gewaltsame Tod des Archimedes durch die Römer 212 vor Christus bedeutet das Ende der Blütezeit der griechischen Mathematik. Doch zurück zum lange verschollenen Buch des Archimedes, das 1998 von einem Unbekannten erworben wurde: Über den Händler, der das Manuskript für den Käufer ersteigert hat, wendet sich William Noel vom Walters Museum in Baltimore an den neuen Besitzer – mit der Bitte, das Buch erforschen und vor dem Zerfall retten zu dürfen. Und bekommt seinen Wunsch erfüllt.
Das scheußlichste Buch
Noel beschreibt das kostbare Palimpsest als „das scheußlichste Buch, das ich je gesehen hatte“, da der Einband aus Schafsleder verschlissen und mit einem violetten Schimmel überzogen ist. Die Restauratorin Abigail Quant erhält den Auftrag, das angegriffene Stück zu reinigen: Der alte Text soll so gut wie möglich wieder zum Vorschein kommen. Dazu kratzt sie mithilfe von Skalpellen und Pinzetten Wachsflecken und Schimmelspuren ab. Außerdem versucht sie, den jahrhundertealten Leim zu lösen und löchrige Stellen mit Reispapier zu verstärken.
Fotos unter multispektralem Licht
Jetzt bleibt noch das Problem zu lösen, die überschriebenen Zeilen des Archimedes von denen des Bibeltextes zu trennen. Dazu werden die einzelnen Seiten unter multispektralem Licht fotografiert. Denn die Tintenreste der Archimedes-Abschrift aus dem 10. Jahrhundert reagieren auf eine andere Wellenlänge als die Buchstaben des Mönches. Nun können die Experten beide Handschriften deutlich erkennen und mit einer Computersoftware separieren.
Archimedes entdeckte die Grundlage moderner Technologien
Als die Schriften des Archimedes endlich vollständig zu lesen sind, kann ihre inhaltliche Aufarbeitung beginnen. Es sind weniger Zahlenkolonnen oder Textpassagen, welche die Forscher in Erstaunen versetzen – es sind vor allem die Diagramme. Denn eines davon zeigt, dass der Grieche ein Verfahren angewandt hat, das erst 1.800 Jahre später wieder neu erfunden wurde. Um den Rauminhalt eines komplizierten Körpers zu berechnen, teilte Archimedes diesen in eine unendliche Menge einzelner Flächen auf – und erhielt so das gewünschte Volumen. Damit hatte das griechische Genie bereits in der Antike ein Verfahren erfunden, das die Grundlage aller heutigen Technologien ist, ob in Architektur, Maschinenbau, Computerbau oder Raumfahrt: die Integral- und Differentialrechnung.
Dieses Buch hätte die Welt verändern können, wäre es nicht vor 800 Jahren von einem Mönch überschrieben worden.
Dass die Erkenntnisse des antiken Genies die Welt hätten verändern können, ist auch 800 Jahre später dem dänischen Griechenlandexperten Johan Ludwig Heiberg nicht klar. 1906 entdeckt er das Gebetbuch in einer Bibliothek in Konstantinopel – und erkennt die Spuren einer Schrift, die sich rechtwinklig zum biblischen Text über das Pergament zieht. Schnell bemerkt der Forscher, dass es sich um ein Werk des großen Archimedes handelt. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 verschwindet das Archimedes-Manuskript wieder von der Bildfläche.
Erst als das Buch 80 Jahre später wieder auftaucht, können Wissenschaftler beginnen, es vor dem Verfall zu retten und vor allem gründlich zu untersuchen. Was dabei zum Vorschein kommt, ist nichts weniger als eine Sensation.
Wie konnten die Schriften des Archimedes mehr als 2.000 Jahre überdauern? Die Reise durch die Jahrhunderte beginnt in Alexandria: Dort nutzen Forscher die Aufzeichnungen des griechischen Mathematikers als Lehrmaterial. Die Schriften werden immer wieder kopiert und zu Büchern gebunden. Das wiederaufgetauchte Exemplar stammt wahrscheinlich aus dem 10. Jahrhundert.
Ein Mönch braucht mehr Pergament
Als rund 200 Jahre später einem Mönch beim Verfassen eines Gebetbuches das Pergament ausgeht, holt er sich Nachschub aus der Bibliothek seines Klosters. Er nimmt sich ein Buch, dessen Inhalt er nicht versteht, löst die Pergamentseiten heraus und versucht, das Geschriebene mit einem Schwamm und Limettensaft zu löschen – was allerdings nicht vollständig gelingt. Dann schneidet er die Bögen durch, dreht sie um 90 Grad und bindet sie neu zusammen. Schließlich überschreibt er – ohne es zu wissen – die letzte bekannte Kopie von Archimedes’ Werk mit seinen Bibelversen.
Wanderschaft durch Klöster und Bibliotheken
Dieses Palimpsest – die Bezeichnung für ein Schriftstück, dessen Zeilen entfernt und überschrieben wurden – verschwindet immer wieder und taucht dann im Laufe der Jahrhunderte in verschiedenen Bibliotheken und Klöstern erneut auf. Durch die nach wie vor erkennbaren geometrischen Zeichnungen fällt das Buch allerdings jedes Mal auf, und so lässt sich sein Weg einigermaßen präzise nachvollziehen.
1906 in Konstantinopel entdeckt
Als Johan Ludwig Heiberg 1906 in einer Bibliothek in Konstantinopel das Werk entdeckt, darf er das Manuskript nicht für weitere Untersuchungen mitnehmen. Man gestattet ihm lediglich, Fotografien der Seiten anzufertigen. Anhand der Kopien kann Heiberg den Text nur teilweise entziffern, vieles bleibt verborgen. Aber eines ist schnell klar: Es handelt sich um ein Werk des großen Archimedes.
Auf der Titelseite der New York Times
Als Heiberg bekannt gibt, dass das verschwundene Manuskript wieder aufgetaucht ist, sorgt das für Furore in der Wissenschaftswelt. Die Story schafft es sogar auf die Titelseite der New York Times. Doch bevor der Däne nach Konstantinopel zurückkehren kann, um das Manuskript weiter zu untersuchen, bricht 1914 der Erste Weltkrieg aus. Ganz Europa versinkt im Chaos, ebenso die Gebiete der heutigen Türkei.
Versteigerung bei Christies in Paris
Nach den Wirren des Krieges gilt das Archimedes-Manuskript erneut als verschollen – bis es 80 Jahre später von einer alteingesessenen Pariser Familie zum Verkauf angeboten wird. Ein Mitglied dieser Familie, ein Sammler, war in den 20er Jahren nach Konstantinopel gereist und dabei zufällig auf das Palimpsest gestoßen. Als das Buch 1998 bei Christies in Paris versteigert wird, erzielt es einen Preis von 2 Millionen US-Dollar. Wer das wertvolle Objekt erworben hat, bleibt unbekannt – der Käufer will anonym bleiben. Man weiß lediglich, dass es sich um einen Multimilliardär aus der Computerbranche handelt. Das Leben des griechische Mathematikers Archimedes beginnt wahrscheinlich 287 vor Christus in dem griechischen Stadtstaat Syrakus auf Sizilien. Zum Studium geht Archimedes nach Alexandria, wo die besten Wissenschaftler der hellenischen Welt lehren.
Heureka!
Nach seiner Rückkehr in die Heimat widmet sich Archimedes ausgiebig der Mathematik und der Physik. Bekannt ist die Geschichte, dass er bei einem Bad das Prinzip des Auftriebs entdeckt haben soll: Das Gewicht eines schwimmenden Körpers entspricht stets dem Gewicht der verdrängten Flüssigkeit. Diese Erkenntnis hat ihn angeblich zu dem berühmten Ausruf veranlasst: „Heureka“ – „Ich habe es gefunden“!
Wunderwaffen der Antike
Außerdem betätigt sich Archimedes als Kriegswaffeningenieur König Hierons II. von Syrakus. Die Entdeckung der Hebelgesetze ermöglicht es ihm, Kräne zu konstruieren, die ganze Schiffe hochheben und anschließend zerbersten lassen können. Nicht zuletzt ist er der erste, der die Quadratwurzel aus der Zahl drei zieht und einen Näherungswert für die Zahl Pi errechnet.
Verbindung von Mathematik und Physik
Archimedes gilt als sehr vielseitig und originell in seinen mathematischen Erforschungen und Berechnungen. Wie keinem anderen vor ihm ist es ihm gelungen, Mathematik und Physik miteinander in Verbindung zu setzen und somit eine Grundlage für die moderne Naturwissenschaft zu schaffen. Das zeigt sich vor allem in seiner „Methodenlehre“, in der Archimedes beschreibt, wie er seine mathematischen Sätze über die Berechnung von Flächen mechanisch realisiert.
Der gewaltsame Tod des Archimedes durch die Römer 212 vor Christus bedeutet das Ende der Blütezeit der griechischen Mathematik. Doch zurück zum lange verschollenen Buch des Archimedes, das 1998 von einem Unbekannten erworben wurde: Über den Händler, der das Manuskript für den Käufer ersteigert hat, wendet sich William Noel vom Walters Museum in Baltimore an den neuen Besitzer – mit der Bitte, das Buch erforschen und vor dem Zerfall retten zu dürfen. Und bekommt seinen Wunsch erfüllt.
Das scheußlichste Buch
Noel beschreibt das kostbare Palimpsest als „das scheußlichste Buch, das ich je gesehen hatte“, da der Einband aus Schafsleder verschlissen und mit einem violetten Schimmel überzogen ist. Die Restauratorin Abigail Quant erhält den Auftrag, das angegriffene Stück zu reinigen: Der alte Text soll so gut wie möglich wieder zum Vorschein kommen. Dazu kratzt sie mithilfe von Skalpellen und Pinzetten Wachsflecken und Schimmelspuren ab. Außerdem versucht sie, den jahrhundertealten Leim zu lösen und löchrige Stellen mit Reispapier zu verstärken.
Fotos unter multispektralem Licht
Jetzt bleibt noch das Problem zu lösen, die überschriebenen Zeilen des Archimedes von denen des Bibeltextes zu trennen. Dazu werden die einzelnen Seiten unter multispektralem Licht fotografiert. Denn die Tintenreste der Archimedes-Abschrift aus dem 10. Jahrhundert reagieren auf eine andere Wellenlänge als die Buchstaben des Mönches. Nun können die Experten beide Handschriften deutlich erkennen und mit einer Computersoftware separieren.
Archimedes entdeckte die Grundlage moderner Technologien
Als die Schriften des Archimedes endlich vollständig zu lesen sind, kann ihre inhaltliche Aufarbeitung beginnen. Es sind weniger Zahlenkolonnen oder Textpassagen, welche die Forscher in Erstaunen versetzen – es sind vor allem die Diagramme. Denn eines davon zeigt, dass der Grieche ein Verfahren angewandt hat, das erst 1.800 Jahre später wieder neu erfunden wurde. Um den Rauminhalt eines komplizierten Körpers zu berechnen, teilte Archimedes diesen in eine unendliche Menge einzelner Flächen auf – und erhielt so das gewünschte Volumen. Damit hatte das griechische Genie bereits in der Antike ein Verfahren erfunden, das die Grundlage aller heutigen Technologien ist, ob in Architektur, Maschinenbau, Computerbau oder Raumfahrt: die Integral- und Differentialrechnung.
Dieses Buch hätte die Welt verändern können, wäre es nicht vor 800 Jahren von einem Mönch überschrieben worden.