@HorruzDas Konstrukt "multiple Persönlichkeit" wird in der Psychologie ab inzwischen bei weitem kritischer gesehen als zur Zeit seiner Erfindung/Entdeckung.
"Auch Krankheiten können in Mode kommen: Wellen von Candida Hefepilz, Reizdarm, Hyperaktivität, Bum-out-Syndrom, Brummton, Joggerknie saßen in den Wartezimmern der Ärzte. Beispiel Candida: Es gibt tatsächlich Patienten, die eine krankhafte "Überbevölkerung" ihrer Verdauungsorgane mit Pilzen leiden, vor allem Menschen, deren Immunsystem generell außer "Rand und Band" ist. Doch sehr wenige sind es, so weiß man das heute. Es ist auffällig, das Mitte der 90er Jahren zehn mal so viele Erkrankte mit der Candida-Diagnose gab als Heute.
Oft werden erst vor sehr kurzer Zeit entdeckte Krankheiten mit einem breiten Symptomspektrum zu Modekrankheiten. Kaum wurden die Entdeckungen allgemein anerkannt, zuerst in Fachzeitschriften und dann in den Medien publiziert, schon kam es zu einer Welle dieser Erkrankungen. Bei der Diagnose "Candida" sollte man eine zuckerfreie und kohlenhydratarme Diät einhalten. Diese hat keinem Betroffenen geschadet.
Richtig gefährlich wird es, wenn in der Psychologie Modeerscheinungen auftreten. Mitte der siebziger Jahre meinte die Psychologie ein neues Phänomen entdeckt zu haben. Eine "Multiple Persönlichkeit" wurde Personen attestiert, in deren Brust mehrere Charaktere wohnen sollten, so zum Beispiel eine "Person", die Willensstark ist und in Stresssituationen die Kontrolle über den Körper übernehmen sollte und eine "Person", die sensibel ist. Als Ursache des Leidens wurden traumatische Erfahrungen in der Kindheit, zumeist sexueller Art, vermutet. Die so gequälten Kinder sollten als Schutzmechanismus andere Personen erfunden haben, welche missbraucht wurden.
Mitte der achtziger Jahre kam es zu einer exponentiellen Zunahme der Diagnose. In den Neunzigern war die Krankheit schon Mode. Gab es eine neue Form des Wahnsinns? Dann wies der kanadische Philosoph lan Hacking nach, dass die zunehmende Aufmerksamkeit für sexuellen Missbrauch während der achtziger Jahre mit der Etablierung des Syndroms einherging; Erklärungen, die von therapeutischer Seite kamen, passten in den gesellschaftlichen Kontext. Als diese Zusammenhänge aufgedeckt wurden, gab es mehr und mehr Zweifel an der Erkrankung. Auch innerhalb der Psychologenzunft in den USA gab es Skeptiker, die vor allem die Suggestivkraft mancher Fachkollegen, die sich auf Patienten mit dieser Störung spezialisiert hatten, kritisierten. Die Diagnosehäufigkeit nahm in den letzten Jahren ab und heute scheint die Störung ganz verschwunden zu sein.
Ein dramatisches Beispiel für eine solche Fehldiagnose: Neun Jahre lang war Elisabeth R. sicher, eine "Multiple Persönlichkeit" zu sein. Insgesamt 32 verschiedene Personen lebten angeblich in ihrem Körper, jede mit eigenem Namen und Biographie. Ein Psychotherapeut hatte die Malerin und Kinderbuchautorin 1992 davon überzeugt, dass sie als Kind von ihrem Vater immer wieder sexuell missbraucht worden sei und sich in viele Personen auf gespalten habe, um die traumatischen Erlebnisse überstehen zu können. Neun Jahre lang lebten in der heute 59-Jährigen eine wütende Marie ebenso wie eine kühle Dorothea, eine eineinhalbjährige Elisabeth oder eine achtjährige Sali; Persönlichkeiten, die in langen Therapiesitzungen unter Hypnose entdeckt worden waren, immer im Zusammenhang mit schrecklichen Gewalterlebnissen.
Nach Schätzungen von Experten ist Elisabeth R. eine von mehreren Zehntausenden "Multiplen" in Deutschland. Sie gehörte zu den Ersten, die sich öffentlich äußerten. In einer Fernsehdokumentation schilderte sie 1995 detailliert den sexuellen Missbrauch durch ihren Vaters. Elisabeth R. hat inzwischen Klage gegen ihren Therapeuten eingereicht. Sie ist heute sicher, dass sie nie sexuell missbraucht wurde und nie multiple war. "Ich wurde Opfer der Fehldiagnose meines Therapeuten", sagt sie.
Die Suche nach Erkenntnissen über die spektakulärste Krankheit in der Geschichte von Psychiatrie und Psychotherapie führt in die USA, dorthin, wo "MPS" vor etwa 25 Jahren ihren Ursprung nahm. Was dort zu finden ist, überrascht und erschreckt. In den Vereinigten Staaten gibt es - anders als hierzulande - seit Jahren bereits heftige Kritik an Diagnose und Therapie. Und nicht nur das, es hat bereits Hunderte Klagen gegen Therapeuten gegeben, die allesamt zugunsten der angeblich "Multiplen Persönlichkeiten" entschieden wurden. Erschütternde Videoprotokolle belegen die Fragwürdigkeit der Therapiemethoden. Es ist die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang des Psychohits der letzten Jahrzehnte."
Literatur zum Thema:
Elisabeth Loftus/Kartherine Ketcham
"Die therapierte Erinnerung"
Ingrid Klein-Verlag ISBN 3-89521-028-5
Ian Hacking
"Multiple Persönlichkeit"
Fischer Taschenbuch ISBN 3-596-14380-2
Daniel L. Schacter
"Wir sind Erinnerung"
rororo Sachbuch 2001 ISBN 3-499-61159-7
(3sat, gekürzt)