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Amerika braucht einen Marshall-Plan
Parag Khanna hat die Zweite Welt bereist – und dabei sein Heimatland USA wiedererkannt.
Von Thomas Speckmann 15.9.2008 0:00 Uhr
Unter Mitarbeitern der Weltbank in Washington heißt es im Scherz, sie würden niemals behaupten, sich in einem Land auszukennen, wenn sie es nicht wenigstens schon einmal überflogen hätten. Und schon Augustinus mahnte, die Welt sei ein Buch, und diejenigen, die sie nicht bereist hätten, hätten nur eine Seite daraus gelesen. Da Parag Khanna diese eine Seite nicht genug ist, hat sich der Amerikaner auf den Weg gemacht. Der Mitarbeiter des Weltwirtschaftsforums in Davos und des Washingtoner Think-Tanks „New American Foundation“ bereiste mehr als 50 Länder der sogenannten Zweiten Welt, wo der Wohlstand der Ersten auf das Elend der Dritten Welt prallt.
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Khanna will bei seinem Heimatland nicht länger von einer Mittelschichtnation sprechen. Denn er sieht dort eine Kombination von Extremen am Werke, wie sie typisch ist für die Zweite Welt: Seit 30 Jahren haben die amerikanischen Arbeiter keine realen Lohnzuwächse verzeichnet. Ihr Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung schrumpft, während ihre Zahl zunimmt. Ein Fünftel der Kinder wächst in Armut auf. Die Gesamtzahl der Armen beträgt allmählich fast 40 Millionen. Die Zahl der Bandenmitglieder ist so hoch wie die der Polizisten – rund 750 000. Das öffentliche Verkehrssystem befindet sich in einem prekären Zustand. Die Verbreitung von Breitband-Internetzugängen ist geringer als in Europa. Mobiltelefonnetze sind technisch nicht auf dem neuesten Stand.
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Khannas Fazit: Für die meisten Japaner oder Deutschen wäre es ein Rückschritt, wenn sie wie die Amerikaner leben würden. Ihre Länder hält er nach seiner Reise für die beiden reichsten und fortschrittlichsten, am wenigsten von sozialer Ungerechtigkeit betroffenen Staaten der Welt. Die amerikanische Demokratie hingegen funktioniert nach Khannas Urteil in der Theorie besser als in der Praxis. Und was für ihn noch mehr Anlass zur Sorge ist: Bislang war das bestimmende Merkmal Amerikas vor allem seine Fähigkeit zur Selbsterneuerung, ja sogar zur Selbstkorrektur. Aber die Verbindung aus einer messianischen Politik, Kulturkämpfen, Angst vor der auswärtigen Welt und Selbstzweifeln an der eigenen Führungsfähigkeit machen einen neuen gesellschaftlichen Konsens in Khannas Augen unwahrscheinlich. Vielmehr sieht er in seiner Heimat ein Land der Ersten Welt, das einen Marshall-Plan benötigt, um sein Niveau zu halten.
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http://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/Parag-Khanna;art138,2614548 (Archiv-Version vom 19.09.2008)