Mit den Zahlen haben es Reiss/Bhakdi insgesamt nicht so. Ein paar Beispiele.
Zu Beginn zitieren sie gleich mehrfach eine Studie, die angeblich zeigen soll, dass Covid-19 im Vergleich zu herkömmlichen Coronaviren "kein Killervirus" ist, was dann die Voraussetzung für die weiteren Auslassungen ist und den Grund für den "offenen Brief" an Merkel darstellte, wo genau nach diesem Vergleich mit anderen Coronaviren gefragt wurde.
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0924857920300972Demnach betrug am 2. März die Sterblichkeit durch Covid-19 in den OECD-Ländern, nur bezogen auf die gemeldeten Fälle, 1.3% bei gut 7000 Fällen in den OECD-Ländern.
Das wird dann verglichen mit einer Gruppe von Patienten die wegen Atemwegsinfektionen durch herkömmliche Coronaviren in Krankenhäusern in Marseille behandelt wurden. In dieser Gruppe war die Sterblichkeit 0.8%.
Sind das keine Ärzte oder warum wissen die nicht, dass die paar Personen, die wegen Atemwegsinfektionen im Krankenhaus behandelt werden, mit größerer Wahrscheinlichkeit sterben als alle Menschen, die ein paar Mal im Jahr eine gewöhnliche Erkältung haben und deswegen nicht in das Krankenhaus eingeliefert werden? Wenn man schon vergleicht, müsste man die Sterblichkeit unter den bereits Hospitalisierten vergleichen, denn die sind bereits schwer erkrankt, und da beträgt dann die Sterblichkeit bei Covid-19 etwa 20%. Und überhaupt war am 2. März in den OECD-Ländern die 1. Welle gerade mal ganz im Anfang, die Sterblichkeit lässt sich erst zeitversetzt beurteilen, und da kommt man, auch mit Stand Ende Mai, auf dem das Buch ist, bereits auf ganz andere Werte. Auch wurde wegen der hohen Infektiosität von Covid-19 intensiv nach Fällen gefahndet, um diese zu isolieren, ist das denn bei einer gewöhnlichen Erkältung genauso, dass auf das zugrunde liegende Virus getestet wird?
Kurz darauf möchten dann die Autoren ihre Behauptung aufstellen, dass die Methode zur internationalen Vergleichbarkeit, nach der Verstorbene, die positiv getestet wurden, als "Corona-Tote" zählen, falsch sei, denn es mache eine bedeutenden Unterschied, ob eine Person "mit oder an dem Virus" stirbt.
HIerfür zitieren sie den britischen Daily Telegraph, wonach "88 % der italienischen »Corona-Toten« nicht ursächlich an den Corona-Viren gestorben sind.", so Reiss/Bhakdi.
Der britische Daily Telegraph zählt zu den schlimmsten Boulevardzeitungen des Landes, aus dem sich gerade in jüngerer Zeit repubtable Journalisten wegen der häufigen Falschdarstellungen und Boris-Johnson-Propaganda zurückziehen:
https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2019/oct/07/toxic-telegraph-made-me-feel-nauseous-says-graham-nortonIn diesem Fall kann man aber noch nicht mal dem Telegraph die Schuld geben, sondern muss sie bei den Autoren suchen. Denn der Telegraph schreibt nur:
“On re-evaluation by the National Institute of Health, only 12 per cent of death certificates have shown a direct causality from coronavirus, while 88 per cent of patients who have died have at least one pre-morbidity - many had two or three,” he says.
https://www.telegraph.co.uk/global-health/science-and-disease/have-many-coronavirus-patients-died-italy/Das heißt ja nun natürlich nicht, dass alle Personen mit Vorerkrankungen, die wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt wurden, ausschließlich aufgrund ihrer Vorerkrankungen gestorben sind, denn das hieße ja, dass z.B. eine Person mit Übergewicht deshalb innerhalb von 2 Tagen tot umfälllt. Sondern die Personen, die Vorerkrankungen hatten und außerdem eine Covid-19-Infektion, sind immer noch an dem Virus gestorben und hätten sonst länger gelebt, auch wenn die Vorerkrankung ein Faktor für den ungünstigen Verlauf gewesen sein mag (was aber nun wirklich nichts neues ist, man kann das überall nachlesen).
Trotzdem legen Reiss/Bhakdi diesen Wert später für ihre Sterblichkeit an. Um dies plausibel zu machen, schrecken sie aber auch nicht vor der falschen Präsentation von Daten zurück. Denn etwas weiter, in dem Abschnitt zur "Situation in Italien" schreiben sie dann, dass 99% der Corona-Toten in Italien Vorerkrankungen hatten.
Die Quelle, die sie gleich zweimal verlinken, schreibt allerdings "0 comorbidities 4.1%", also unter 96% hatten Vorerkrankungen.
https://www.epicentro.iss.it/en/coronavirus/bollettino/Report-COVID-2019_25_june_2020.pdfImmer noch recht viel, das relativiert sich aber, nicht nur weil das Dokument vom Juni stammt, der Telegraph-Artikel aber vom März, sondern auch weil dort Dinge wie hoher Blutdruck (was ungefähr zwei Drittel der Menschen im Rentenalter haben) dazugezählt werden.
Noch davor, bei der Behauptung, die Sterblichkeit von Covid-19 sei nicht viel höher als bei der Grippe, geben sie für die Grippe die "Sterblichkeitsrate zwischen 0,02–0,40" an.
Wenn man mal die Studie aufruft, die sie zitieren, dann finden sich dort diese Zahlen überhaupt nicht, sondern dort steht:
infection fatality rates ranged from 0.00% to 0.26% with median of 0.05% (corrected, 0.00-0.23% with median of 0.04%).
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.05.13.20101253v2Richtig hätte es also heißen müssen, dass die Sterblichkeit von Covid-19 etwa 10 mal so hoch ist wie bei der durchschnittlichen Influenza, und das in Deutschland, wo die Sterblichkeit durch Covid-19 im internationalen Vergleich, auch innerhalb von Westeuropa, erstaunlich gering ist.
Reiss/Bhakdi sind publizierte Wissenschaftler, ich gehe daher davon aus, dass sie in der Lage sind, Zahlen richtig zu transkribieren. Daraus ziehe ich den Schluss, dass die Verfälschungen von Inhalten, aber auch die Verfälschung von Daten, die ja hier nur auf Stichproben beruht, kein Zufall oder ehrlicher Fehler ist. Anders scheint es auch gar nicht möglich zu sein, die Krankheit zu verharmlosen, denn das Buch bietet abgesehen von etwas Polemik nichts neues, was man nicht überall sonst auch nachlesen kann.