zum Tode von James Gandolfini:
21. Juni 2013, 11:49 Uhr
Thomas Glavinic über Tony Soprano
Ein Killer wie du und ich
Tony Soprano war der Mann, der für uns Böses tat und das Dunkle der Seele ertrug. Dafür haben wir James Gandolfini, der ihn spielte, geliebt und verehrt. Eine Hommage an den verstorbenen Schauspieler von dem Schriftsteller Thomas Glavinic.
Ob Tony Soprano tot ist, weiß ich nicht. Die letzte Folge der Serie ließ es offen. Einiges sprach dafür, aber das will ich nicht wahrhaben. Tony muss leben. Tony Soprano lebt, auch wenn James Gandolfini nun tot ist.
Eine besonders markante unter den vielen einprägsamen Begegnungen Tonys mit Verbrecherkollegen ist wohl jene mit dem frisch aus der Haft entlassenen Richie Aprile zu Beginn der zweiten Staffel. Richie Aprile ist einer der brutalsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Er kennt keinerlei Skrupel, er ist kaltherzig und machtgierig, er achtet sehr genau auf die Höhe der Summe, die ihm nach seiner Gefängniszeit von seinen alten Kumpeln als Starthilfe überreicht wird, und liest daran den Respekt ab, den sie ihm nach zehn Jahren Abwesenheit entgegenbringen. Und er bekommt zu wenig von beidem, an Geld und an Respekt, so sieht er das zumindest.
Eine Zeitlang versetzt er seine ganze Umgebung in Angst und Schrecken, dann beschwert er sich bei Tony persönlich über die vermeintliche Geringschätzung, die ihm widerfährt, und in dieser Szene verehrt man Tony noch mehr als zuvor. Denn er fürchtet sich kein bisschen vor diesem Gewaltmenschen. Im Gegenteil, der Zuschauer merkt, wer von beiden wirklich Grund hätte, sich zu fürchten. Richie Aprile mag ein psychopathischer Mörder sein, aber er kann Tony Soprano nicht das Wasser reichen. Tony ist größer, härter, sensibler, und er ist viel, viel gefährlicher.
War Tony Soprano eigentlich je im Gefängnis? Vermutlich, ich weiß es gar nicht. Aber was ist ein Mobster ohne Gefängniserfahrung? So jemanden nimmt doch niemand ernst, so jemand hat keine street credibility, zu jemandem, der sich noch nie die Finger schmutzig gemacht hat, schaut keiner auf. Ein Bandenboss muss Menschen an sich binden können, und dazu bedarf es neben Charisma auch einer gewissen physischen Durchsetzungskraft.
Schwäche bei Lebensgefahr verboten
James Gandolfini war der erste Mafioso-Darsteller, dessen Figur ich im Gegensatz zu so vielen filigranen Filmpaten zutraute, den realistischen Aufstieg eines Bandenchefs hinter sich zu haben, die archaische Gewalt, die allgegenwärtige Nähe des Todes, die Jahre, in denen er die Werte jener dunklen Seite der Gesellschaft verinnerlichte, bis er an der Spitze stand, wo man keine Schwäche zeigen darf, wo man von allen beäugt wird, von den Capos, die nur auf ein Zeichen lauern, dass der Chef es nicht mehr packt. So jemand kann natürlich nicht offiziell zum Psychiater gehen. So jemand muss sich auch körperlich immer wieder beweisen.
Nachdem Tony vom verwirrten Corrado angeschossen wurde, ist er schwach. Er weiß es, er weiß, dass es die anderen wissen, und er weiß, dass er etwas dagegen tun muss, nicht gegen die Schwäche, gegen die kann er nicht viel tun, aber gegen den fatalen Eindruck, den seine Umgebung von ihm hat. Also sucht er sich ein Opfer, er wählt es klug aus, er wählt einen Muskelmann, einen Schläger, diesen und keinen anderen, weil dieser der Einzige in der Runde ist, der keine Tattoos hat, was in Tonys Augen ebenfalls ein kaum merkliches Signal von Schwäche ist. Mit dem bricht er einen Streit vom Zaun, und nach der erfolgreich bestrittenen Schlägerei sperrt er sich in der Toilette ein, um heimlich zu kotzen. Schwäche ist bei Lebensgefahr verboten.
Für uns die Angst überwinden
Wir lieben Tony. Er ist ein Frauenhändler, Erpresser, Mörder, aber wir können das nicht verurteilen. Er tut diese Dinge auch für uns. Und er ist Ehemann, Familienvater, Freund, Patient, er ist vieles von dem, was wir sind. Wir bewundern ihn für seine Wildheit, wir lieben ihn für seine Normalität.
Das große Thema der "Sopranos" ist die Angst. Die große Leistung von James Gandolfini war es, uns wie kaum ein anderer zugleich die Angst vor dem Leben und die Angst vor dem Tod zu vermitteln. Er zeigte uns Tony Soprano als jemanden, der sich seiner Angst immer wieder stellt, und solche Leute brauchen wir. Es muss Menschen geben, die sich für uns der Angst stellen, sie für uns überwinden, so wie es Menschen geben muss, die sich für uns in Gefahr begeben, solche, die für uns Böses tun.
Wir sind nämlich alle ein wenig wie Tony - zumindest, was seine schlechten Seiten anbelangt.
Und heute, in einer Zeit, in der alles Spontane, Ungebärdige verdrängt und erstickt wird, in einer Zeit, in der alles korrekt und glattgebügelt sein muss, in der jeder halbwegs verhaltensauffällige Mensch nicht mehr als Persönlichkeit gesehen, sondern pathologisiert wird, hilft es dem gelangweilten Zuseher, sich mit jemandem identifizieren zu können, der das Dunkle in uns aushält, es erträgt, ohne darin unterzugehen und ohne von ihm ganz überwunden zu werden. Das ist es, was uns James Gandolfini gegeben hat. Es ist sehr viel.
URL:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/thomas-glavinic-ueber-tony-soprano-und-james-gandolfini-a-907059.html