Original anzeigen (0,2 MB)Spazieren auf der alten Kantonsstrasse: Der entleerte Stausee von Vogorno gibt den Blick frei auf das ursprüngliche
Tal.
Ivo Bordoli, Bürgermeister von Vogorno, war 6 Jahre alt, als der Stausee kam.
Original anzeigen (0,2 MB)Auch ein alter Brunnen war unter der Wassermasse des Stausees begraben.
Original anzeigen (0,2 MB)Seltener Blickfang: Diese Brücke liegt für gewöhnlich unterhalb des Wasserspiegels.
Zum ersten Mal seit seinem Bau vor 56 Jahren wird der Stausee im Verzascatal vollständig entleert. Während Techniker am Seegrund Sanierungsarbeiten durchführen, gibt der abgesenkte Wasserspiegel den Blick frei auf einstige Weingärten und eine verwunschene Steinbrücke.
Stein um Stein sind sie noch immer aufgeschichtet, trotz der Wassermassen, die sich Jahr für Jahr in Richtung Lago Maggiore bewegen: Die Mäuerchen der einst fruchtbaren Terrassen-Gärten von Vogorno kommen erst jetzt, wo die Verzasca bald leer ist, wieder zum Vorschein.
«Die Leute aus dem Dorf züchteten früher hier unten die Traubensorte Uva Americana. Die Vogorneser waren auch die einzigen im Tal, die gegen den Bau der Staumauer stimmten, doch genützt hat es nichts», sagt Gemeindepräsident Ivo Bordoli im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
1960 begann der Bau der Staumauer, fünf Jahre später war das Werk vollendet. Mit 220 Metern Höhe gehört die Staumauer der Verzasca zu den höchsten Europas.
Bordoli ist der erste «Sindaco» der 2020 zur Gemeinde Verzasca zusammengeschlossenen Dörfern im Tal. Als der Bau der Staumauer begann, war Bortoli sechs Jahre alt. «Damals war das Tal noch wild und tief eingeschnitten.» Der Talgrund war bewaldet, die Kantonsstrasse schlängelte sich weiter unten im Tal in Richtung Berge.
Dort lag auch einst auch der Dorfteil Pioda, in dem es eine Post, eine Tankstelle sowie einige Osterie gab. 20 bis 30 Personen hätten dort gelebt, sagt Bordoli. Der Wald wurde gerodet, die Häuser zerstört, bevor das Wasser kam.
Individuelle Lebensdauer
In diesem Winter wird der Stausee zum ersten Mal seit 56 Jahren vollständig entleert. Die Techniker der Verzasca SA erneuern unter anderem den Korrosionsschutz im Schacht unter dem Stausee. Auch müssten die Betonwände in der Expansionskammer saniert werden, erklärt Direktor Andrea Papina auf Anfrage von Keystone-SDA.
Die sogenannten Drosselklappen am Ende der Druckrohrleitungen müssen ebenfalls ersetzt werden. Sie dienen der Unterbrechung des Wasserflusses im Falle eines Kraftwerksausfalls.
Für den Bedarf an solchen Renovationsarbeiten gebe es keinen exakten Fahrplan, sagt Papina. Je nach Charakteristik des Wassers würden sie früher oder später fällig. Auch die Lebensdauer eines Stausees hänge von lokalen Gegebenheiten wie der Geologie und der Wasserbeschaffenheit ab und könne deshalb sehr unterschiedlich sein. Zum Beispiel der Gelmerstausee im Bernbiet wird diesen Winter ebenfalls vollständig entleert, und das nach über 90 Betriebsjahren.
007 machte die Mauer weltberühmt
Oben auf der schwindelerregend hohen Staumauer merkt man an diesem sonnigen Morgen nichts von der Korrosion weiter unten. Ein paar Wanderer geniessen den Ausblick in Richtung Lago Maggiore. 1995 sprang hier Pierce Brosnan alias James Bond oder «Zero Zero Sette», wie man ihn im italienischsprachigen Raum nennt, an einem Bungeeseil von der Mauer. Von Bond geblieben ist der Name des heutigen Bungee-Jumps: «Golden Eye».
Weiter oben im Tal zeugen Warnschilder auf Englisch davon, das Touristen sommers in Horden zum kristallklaren Wasser der Verzasca pilgern: «It can happen in a moment». Und in Deutsch: «Sicherheit im Wasser: Es liegt an dir». Die berühmte «Ponte dei Salti» liegt an diesem Dezembertag still im Schatten, auf der Wiese unter den Brückenpfleilern leuchtet Schnee.
In diesem Winter ist auch die kleine Schwester der «Römerbrücke» Ponte dei Salti wieder sichtbar. Sie spannte sich einst über den seitlichen Zufluss zur Verzasca unterhalb von Vogorno. Dann kam der Stausee und begrub die Brücke.
Das Wasser scheint ihr jedoch kaum etwas anzuhaben. Fast trotzig steht sie da in der steinigen Mondlandschaft des trockenen Flussbetts. «Früher nahm man sich mehr Zeit zum Bauen», sagt Ivo Bordoli. Kein Wunder, würden die Bauten von damals besser halten. «Diese Brücke ist definitiv widerstandsfähiger als jene in Genua», hält der Sindaco fest.
Die im Sommer mitunter lebensgefährliche Verzasca ist jetzt ein ruhiger Bach, der sich am Talgrund seinen Weg bahnt. Bei der Verbreiterung unterhalb der alten Brücke kann man beobachten, wie das Wasser Material vorwärts schiebt: In poetischen Wellen schaukelt die Wassermasse vorwärts. An den Hängen hat der Fluss feinen Sand hinterlassen. Auf einer der einstigen Weinterrassen liegt eine mächtige Baumwurzel. Auch sie hat dem kalten Wasser des auf 2864 Metern Höhe entspringenden Wildflusses getrotzt.
Rund 15'000 Kubikmeter Material wird die Verzasca bis zur vollständigen Entleerung Ende Januar in den Lago Maggiore transportiert haben. Am Ufer des bis nach Italien reichenden Sees werde man davon kaum etwas merken, sagt Andrea Papina.
Danach, wenn im Frühling die Regenfälle einsetzen und der Schnee schmilzt, wird sich der Stausee langsam wieder füllen. Und das kalte Wasser der Verzasca wird ein zweites Mal Wurzeln, Sand und Weinterassen in den Dornröschenschlaf versetzen.
sda/tgab