Immermann-Muenchhausen

Dieser 1841 erschienene Münchhausen-Roman von Karl Immermann ist ein Ungetüm von gedruckt über 800 Seiten. Nicht geboten werden Abenteuerepisoden, sondern ein Labyrinth an Figuren und Sprachbildern. Eingepackt in diese Arabesken (eigentlich orientalische Dekorschnörkel) sind knallharte Zeitaussagen, die skurrilen, surreal wirkenden Figuren in den Mund gelegt werden. Es fragt sich, ob dies nicht eine Methode ist, der Metternich'schen Zensur zu entgehen.

So gibt es einen alten Baron, bei dem sich Münchhausen einnistet und dessen Burg er einmal sogar gewaltsam besetzt hält, der noch nicht realisiert hat, dass es das alte Kaiserreich nicht mehr gibt, und seinen Geheimratsposten zurückhaben will. Ein alter Schulmeister ist wahnsinnig geworden, als eine Verordnung von ihm verlangt hat, die Kinder nach einer neuen Grammatik Deutsch zu lehren. Er selbst ist ein Anhänger der lakedämonischen (spartanischen) Methode: Nach vier Jahren müssen die Kinder nur ihren Namen schreiben können, ansonsten sollen sie sich so richtig austoben.

Der Roman beginnt gleich mit der Aussage Münchhausens bei einem Adelsbankett, dass auch sein Großvater ein Lügenbaron war, dessen Lügen mehr als 300 Menschen das Leben gekostet hätten.

An die typischen Geschichten von Münchhausen knüpfen wohl seine Kindheitsgeschichte und seine Luftverdichtungsaktiengesellschaft an.

Als Kind ist er von seinem Vater in einer Jackentasche ins Osmanische Reich mitgenommen worden und dort aus der Tasche gefallen, wonach ihn Ziegen aufgezogen haben und er selbst die Gestalt eines Wesens mit Ziegenkörper und Menschenkopf angenommen hat. So findet ihn ein Holländer, der ihn als kurioses Wesen mitnimmt und versklavt. Sein Vater kauft ihn frei und Münchhausen erhält wieder seine Menschengestalt.

Den Adeligen, bei denen Münchhausen "gastiert", will er Anteile einer Luftverdichtungsaktiengesellschaft andrehen. Er habe nämlich eine Methode gefunden, dass Luft so stark verdichtet werden kann, dass sie zu Stein wird. Dies werde eine erfolgreiche Methode für das Bauwesen sein und viel Gewinn abwerfen.

An Letzterem lässt Immermann Münchhausen reflektieren, warum Menschen Unsinniges glauben: Es sei die Hoffnung auf einen materiellen Vorteil.
»Theoretisch darf man den Leuten so viele Dinge, welche der Pöbel Lügen nennt, vorsagen, als man will, aber wehe dem, der ihnen etwas in den Kopf setzt, woran sich ihr Eigennutz heften kann! Sie glauben's, sie glauben's, und die Schüler treiben den Meister in die Enge. Ich fürchte, daß ich einen Fehler begangen habe, als ich die Luftverdichtungsaktienkompanie hier zur Sprache brachte, und der würde schlimmer sein, als ein Verbrechen.«
Angegriffen werden durchgehend Religion und Religionsgemeinschaften. So gebrochen über einen türkischen Freund, der Schweineohren esse und beabsichtige, in einem Buch nachzuweisen, dass Mohammed gar nicht existiert hätte, sondern nur "ein Produkt der Gläubigen sei". Die apostolische Kirche sei - sich auf David Friedrich Strauß berufend - "eine Art von Aktiengesellschaft gewesen, die sich den Erlöser auf gemeinschaftliche Kosten angeschafft habe, weil sie ihn bedurft".

Politisch ist durch diese Verwinkeltheit der Aussagen kaum mehr nachvollziehbar, wie Immermann selbst steht. Wenn er seine Figuren ultrakonservative Ansichten äußern lässt, ist einfach nicht klar, ob es ironisch gemeint ist oder nicht. So sei der moderne Staat ein "Not- und Bergehafen", der Freiheit und Selbständigkeit zertrümmert habe.

An einen Fortschritt durch Vernunft wird nicht geglaubt. Dieselben Dummheiten werden immer wiederholt.
Wenn ein Reich durch die Dummen und Memmen gestürzt und durch die Klugen und Tapfern gerettet worden, so beginnt einige Tage nach der Rettungsstunde ganz sicherlich die Herrschaft der Dummen und Memmen wieder. Wenn es Millionen Male vorkam, daß die Sklaven ihre Herren beraubten und ermordeten und nur die Treue des Freien fromm-schützend die Hand über Gut und Haupt des Gebieters hielt, so stellt sich die alte Liebhaberei für Sklaven jederzeit wieder ein, und wenn der menschliche Geist endlich auf den Punkt gediehen zu sein schien, die Geisterwelt im Geist zu erfassen, so ragt unversehens das verjährte, jämmerliche, krüpplichte Zeichen-, Wunder- und Gespensterwesen, der müffigste mystische Trödel in die nur scheinbar befreit gewesene Welt herein.
Der Küster (Kirchdiener) äußert ein sehr pessimistisches Menschenbild.
»Wenn man so wie ich auf vielen Hochzeiten gewesen ist«, sagte der Küster, »wenn man sieht, wie die jungen Leute einander heiraten, nach neun Monaten ein Kind kriegen, und dann immer so fort, jedes Jahr ein frisches Kind – nun stirbt dieses und jenes Kind, und die, welche leben bleiben, heiraten nach mehreren Jahren auch, und zuletzt stirbt alles miteinander, und hat das, wenn man seine sechzig Jahre auf den Schultern trägt, wie gesagt, einige Male mit durchmachen müssen, so kommt einem das menschliche Leben ganz einerlei vor und wie eine Kugel, die sich immer umdreht.«
Und wenn Immermann einen Hofschulzen (Gutsverwalter) als Ideal preist, so weist der Text 100 Jahre voraus, als der germanische Bauersmann gepriesen wurde.
Mein Hofschulze mag ein Mann von etlichen sechzig Jahren sein, doch trägt er den starken großen knochichten Körper noch ganz ungebeugt. In dem rotgelben Gesichte ist der Sonnenbrand der fünfzig Ernten, die er gemacht hat, abgelagert, die große Nase steht wie ein Turm in diesem Gesichte, und über den blitzenden blauen Augen hangen ihm weiße struppige Brauen, wie ein Strohdach. Er gemahnt mich, wie ein Erzvater, der dem Gotte seiner Väter von unbehauenen Steinen ein Mal aufrichtet und Trankopfer darauf gießt und Öl, und seine Füllen erzieht, sein Korn schneidet, und dabei über die Seinigen unumschränkt herrscht und richtet. Nie ist mir eine kompaktere Mischung von Ehrwürdigem und Verschmitztem, von Vernunft und Eigensinn vorgekommen. Er ist ein rechter uralter freier Bauer im ganzen Sinne des Worts; ich glaube, daß man diese Art Menschen nur noch hier finden kann, wo eben das zerstreute Wohnen und die altsassische Hartnäckigkeit, nebst dem Mangel großer Städte den primitiven Charakter Germanias aufrechterhalten hat. Alle Regierungen und Gewalten sind darüber hingestrichen, haben wohl die Spitzen des Gewächses abbrechen, aber die Wurzeln nicht ausrotten können, denen dann immer wieder frische Schößlinge entsprossen, wenngleich sich diese nicht mehr zu Kronen und Wipfeln zusammenschließen dürfen.
Und einen Diakon lässt er sagen:
Rede ich aber von dem Volke in dieser Beziehung, so meine ich damit die besten unter den freien Bürgern und den ehrwürdigen, tätigen, wissenden, arbeitsamen Mittelstand. Diese also meine ich, und niemand anders vorderhand. Aus ihnen aber, und aus dieser ganzen Masse haucht es mich wie der Duft der aufgerißnen schwarzen Ackerscholle im Frühling an, und ich empfinde die Hoffnung ewigen Keimens, Wachsens, Gedeihens aus dem dunkeln, segenbrütenden Schoße. In ihm gebiert sich immer neu der wahre Ruhm, die Macht und die Herrlichkeit der Nation
Ist das Ironie? Vielleicht nicht. An anderem Ort:
Der Bauernstand ist der Granit der bürgerlichen Gemeinschaft.
Und ein Kaspar, den Immermann "Patriotenkasper" nennt, hält eine Rede vor Gericht, wie die Hohen die Bauern im Stich lassen.
Herr Richter, ich mag mit meinem Schwerte und mit der Heimlichkeit am Stuhl wohl wie ein Narr da in den Schriften stehen, und Possen, wenn mir recht ist, nannte der junge vornehme Herr, an dem ich mich in meiner Angst vergreifen wollte, die Sachen, woran mein Herz gehangen hat. Ich will aber jetzt explizieren, was vor eine Bewandtnis es mit diesen Possen gehabt hat. – Allerhand habe ich erlebt in der Bauerschaft, Friedenszeiten und Kriegesläufte und Hagelschlag, Überschwemmung, gute Ernte und Mißwachs und Viehsterben. Nun sah ich denn, seitdem ich in die Jahre getreten war, wo das Menschenkind anfängt nachzudenken, daß hin und her die Herren kamen, die sich auf die Schreiberei verstehen und auf das Besserwissen als die Leute, welche die Sache angeht, und die kuckten nach, wenn alles geschehen war, das Korn niedergetreten und das Vieh in den letzten Zügen lag und die Wässer wieder im Ablaufen sich befanden. Hatte aber gar der Feind geplündert und ravagiert, da kamen sie vollends erst lange darnach und notierten sich's auf, denn während der Gefahr war meistens keiner der Herren zu finden.

Die Herren taten dann ordinieren, wie alles wieder in Richtigkeit zu bringen sei, mehrestenteils aber sagten sie Sachen des Sinnes und Verstandes, daß wenn der Hagel nicht gefallen wäre, so hätte sich das Korn nicht umgelegt und ohne die Lungenfäule müßten die Kühe noch am Leben sein. Unterweilen wurde auch wohl einiges Geld geschickt, es kam aber selten an den Rechten, und im ganzen rappelten diejenigen sich am besten wieder heraus, welche nicht auf die Hülfe der Herren da draußen warteten, sondern sich selber halfen, wohingegen ich manche Menschen habe ganz herunterkommen sehen, die immerdar bei jedem Unfall meinten, es müsse nun von da draußen ihnen das Malheur gutgemacht werden.
Dass Deutschlands Elite ein geistloser Haufen sei, lässt er einen Jäger äußern:
»Ich habe«, sagte der Jäger kleinlaut, »in einer hohen und vornehmen Familie, die ich vor kurzem auf meinen Streifereien kennenlernte, die zwanzigjährigen Töchter auf gut schwäbisch mit der ›Iphigenie‹ bekannt machen müssen, welche sie noch nie gelesen hatten, weil die Eltern Goethe für einen jugendverführerischen Schriftsteller hielten.«
Und der Diakonus setzt als Replik auf den Jäger noch eins drauf:
Die Vornehmen arbeiten aber nicht gern, sie ziehen es bekanntlich vor, zu ernten, wo sie nicht gesäet haben.
Die Unterdrückung der Frau wird angeprangert, interessanterweise vom Diakonus, der den Brauch anspricht, dass der Bräutigam bei einer Hochzeit verprügelt wird.
»Dieses Abklopfen des Bräutigams nach der Trauung ist ein uralter Gebrauch, den sich die Leute nicht nehmen lassen. Sie sagen, er solle bedeuten, daß der Bräutigam fühle, wie weh Schläge tun, damit er sein künftiges hausherrliches Recht wider die Frau nicht mißbrauche.«
Einen Deutschtürken namens Semilasso lässt Immermann Gedanken vortragen, die - wie schon die Bauernverehrung - weit vorausweisen: in eine Zeit des eugenischen Rassenwahns:
Wie entstehen die Menschen? Wie entstehen sie denn, mein Bester? Der Schwächling heiratet die kräftige Jungfrau, der kräftige Mann die Bleichsüchtige, häufig kommen auch Hektik und Hektik zusammen. Was für Kinder muß das geben? Auf das Physische wird gar nicht mehr gesehen, es ist, als ob wir nichts als Geist, Rücksicht, Verhältnis, Geld wären. Daher rührt denn das matte, aschgraue, totlebendige Geschlecht.

Sehen wir uns dagegen unter den Tieren um! Gehen wir in die Stammschäfereien, in die Gestüte, ja, besuchen wir nur einen tüchtigen Ökonomen, der auf sein reines friesisches Vieh hält. Wie macht man es denn da? Man hält auf Vollblut. Und eine edle Rasse folgt der andern. Da sitzt es. There's the rub. Will man wieder ein munteres, geistreiches, poetisches, lebensfrisches Menschengeschlecht haben, so muß man vor allen Dingen für Vollblut sorgen, man muß Rasse stiften. Reine Kreuzungen, reine Kreuzungen, junger Freund, darauf kommt es an!
Die Replik lässt jedoch keinen Zweifel aufkommen, was Immermann von solchen Ideen hält: gar nichts. Sie geht ad personam. Gegen die Person.
Semilasso, der diese Gedanken mit großem Feuer vortrug, ließ unerörtert, ob er auch bei seinen Standesgenossen Vollblut zu schaffen für möglich halte, Vollblut, nicht im aristokratischen, sondern im physischen Sinne. Aber mit graziösem Lächeln setzte er hinzu: »Ich bedaure nur eins, daß ich nicht mehr in den Jahren bin, um selbst praktisch die Sache angreifen zu können, ich werde mich leider auf die Verwaltung beschränken müssen, auf die trockene Verwaltung.«
Mit dem Rasseverwalter hat Immermann Vorahnungen, deren Düsterkeit er vermutlich noch nicht in ihrer Gänze erfassen kann.

Die vorgetragene Sündenbocktheorie lässt sich nicht von der Hand weisen. Beispiele werden aus dem Privatleben wie aus der politischen Welt vorgebracht.
Durch den Abzug des Schulmeisters waren die Akademiker von Schnick-Schnack-Schnurr desjenigen Individuums quitt geworden, welches einer jeden menschlichen Gemeinschaft not tut, nämlich des Sündenbockes. Irgendeiner muß in jedem Hause vorhanden sein, an welchem die übeln Launen, die Zornmütigkeiten und die verdrießlichen Stimmungen ausgelassen werden dürfen. Ohne einen solchen Abzugskanal läßt sich ein dauerhafter häuslicher Friede gar nicht denken. ... Und in der großen Welthistorie geht es mitunter nicht anders zu. Einem Volke tut ein tüchtiger Feind not, nur solange es ihn besitzt, ist es in Flor. Solange Rom sich mit Karthago herumbiß, setzte es alles böse Wesen draußen ab, als aber die Nebenbuhlerin in Trümmern rauchte, ging die innerliche böse Wirtschaft an; von Napoleon hat nicht einer bloß gesagt, er sei für uns viel zu früh gefallen.
Und Ärzte?
Vierundzwanzig Ärzte gab es in der Stadt; alle kommen nach und nach zu der leidenden Kreatur. Vierundzwanzig Ansichten werden laut, Vierundzwanzig verschiedene und entgegengesetzte Mittel werden verordnet. Der erste hält die Krankheit für eine Schwäche, der zweite für Hypersthenie, der dritte für eine neue Form der Schwindsucht. Der vierte verschreibt Sinapismen, der fünfte Kataplasmen, der sechste Blähungen; der siebente Adstringentia, der achte Mitigantia, der neunte Corroborantia; Ipekakuanha! ruft der zehnte, nein, Hyoscyamus! schreit der eilfte; keines von beiden, sondern Meerzwiebel, sagt ruhig der zwölfte; dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechszehn, siebenzehn operieren, skarifizieren, amputieren, evakuieren, trepanieren; Nummer achtzehn hat in der Diagnose recht, Nummer neunzehn findet die Prognose schlecht; der zwanzigste gibt Borax, der einundzwanzigste Storax, der zweiundzwanzigste findet des Übels Sitz im Thorax; der dreiundzwanzigste mir Frankenwein bot, der vierundzwanzigste macht mich Kranken scheintot.

Aus diesem Zustande erweckt mich ein Homöopath mit 1/6000000 Gran Arsenik. ›Herr Medizinalrat‹, flüstre ich ihm, entkräftet von vierundzwanzigfacher allopathischer Behandlung zu, ›Herr Medizinalrat, ich
Am Ende des Romans erscheint Immermann selbst im Roman und streitet mit Münchhausen, der ihn für einen "mittelmäßigen Kopf und seichten Geist" hält. Danach verschwindet Münchhausen.

Ganz zum Schluss ein versöhnlicher Ausblick. Ist er an die Zensoren gerichtet? Er klingt im Vergleich zu so vielem in diesem langen Text doch etwas platitüd.
Unsere Zeit ist groß, der Wunder voll, fruchtbar und guter Hoffnung. Aber irr und wirr taumelt sie noch oft hin und her, weiß die Stege nicht und plaudert wie im Traume. Das rührt daher, weil das Herz der Menschheit noch nicht wieder recht aufgewacht ist. Denn nicht abhanden kam der Menschheit das Herz, es ward nur müde und schlief etwas ein. Im Herzen müssen sich die Menschen erst wieder fühlen lernen, um den neuen Weg zu erkennen, den die Geschlechter der Erde wandeln sollen, denn vom Herzen ist alles Größte auf Erden ausgeschritten.
Ausgeklammert ist hier der Handlungsstrang zwischen zwei Liebenden und vieles mehr. Der Roman ist einfach zu lange, was das Lesen doch etwas anstrengend gestaltet.

Als ob er sich selbst mahnen wollte, lässt Immermann den Hofschulzen sagen:
Die Moral steckt aber in kurzen Sprüchen besser, als in langen Reden und Predigten.