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Adalbert Stifter - Brigitta
15.11.2024 um 11:33Von dieser Erzählung veröffentlichte der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter mehrere Fassungen in den vorrevolutionären 1840er Jahren. Dieser legt er wieder sein "sanftes Gesetz" zu Grunde, und zwar sowohl für das menschliche Miteinander wie auch für wirtschaftliche und soziale Entwicklung.
Ort der Handlung ist die ungarische Tiefebene, und als Erzähler wählt Stifter einen jungen Mann, dessen Hintergrund sowie Einkunftsquellen unbekannt bleiben. Er hat auf jeden Fall ausreichend Zeit und Geld, ausgedehnte Reisen durch Europa zu unternehmen. Auf einer solcher hat er in Italien einen Major mittleren Alters kennengelernt, der sich auf ein Gut in der ungarischen Tiefebene zurückzieht und den Erzähler einlädt.
Nach einer zweiten brieflichen Einladung macht sich der Erzähler schließlich auf den Weg nach Ungarn, wobei er seine Reise jedoch so ausführlich gestaltet, dass er ein halbes Jahr unterwegs ist, wobei die Beschreibungen eher im Allgemeinen bleiben. Detailkenntnisse über Ungarn hatte Stifter selbst nicht, er ist einmal mit dem Schiff von Wien nach Neusatz/Novi Sad durch Ungarn gereist (Info vom
Auf dem Gut des nun etwa 50-jährigen Major Stephan Murai erfährt er von dessen Nachbarin Brigitta Marosheli, deren Mann verschollen ist und die mit ihrem Sohn ein Gut nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führt und eine Gemeinschaft von Gutsherren gegründet hat, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ihre Güter führen, Sümpfe trockenlegen und die Infrastruktur verbessern (Straßenbau zum Beispiel).
Nachdem ihr Sohn von Wölfen angefallen worden und durch Murai gerettet worden ist, gibt sich Murai zu erkennen: Er ist der verschollene Ehemann.
Das "sanfte Gesetz" Stifters wird einerseits in der Beziehung zwischen Stephan und Brigitta dargelegt. Brigitta war ein hässliches Kind mit schönen Schwestern, doch sehr praktisch veranlagt sowie belesen und der junge Lebemann Stephan Murai, ein Frauenheld und Schönling, will nur sie haben und beide heiraten. Nach Geburt des Sohnes verlässt er sie, wobei er ihr ein großes Vermögen hinterlässt, womit sie das Gut Marosheli erwerben und aufbauen kann. Murai selbst zieht umher, wird in Spanien zum Major, bis er schließlich inkognito ein Gut neben Brigitta erwirbt, sie während einer Krankheit betreut und zwischen ihnen ensteht ein Band inniger Freundschaft. Warum sie ihren Mann nicht erkennt, bleibt im Dunklen. Nach Rettung ihres Sohnes vor den Wölfen gibt sich Murai zu erkennen.
Schönheit ist für Stifter nichts Äußerliches, sondern sie liegt im Charakter, in der Güte. Brigitta ist dafür sein Sinnbild: äußerlich hässlich, aber charakterlich so hoch entwickelt, dass Murai sich sowohl als junger Mann wie auch als gesetzter Herr zweimal in Liebe zu ihr hingezogen fühlt. Stifter nennt es "das sanfte Gesetz der Schönheit".
Für Stifter ist sein "sanftes Gesetz" nicht nur ein zwischenmenschliches, sondern auch ein gesellschaftspolitisches. Revolutionen hält er für schädlich bezüglich der Entwicklung einer Gesellschaft. Diese müsse langsam und harmonisch vor sich gehen. Gestaltet ist es mit der Weiterentwicklung von Landwirtschaft und Infrastruktur auf wissenschaftlicher Basis, was allen Bevölkerungsteilen zu Gute kommt. Den Menschen darf nichts von außen oktroyiert werden, sondern ihre Gebräuche und Traditionen sind zu achten. Gezeigt wird dies zum Beispiel darin, dass Murai nach Rückkehr auf sein Gut demonstrativ die lokale ungarische Kleidung trägt. Dies dürfte wohl ein Seitenhieb Stifters auf das vorrevolutionäre Österreich sein, das Ungarn mehr oder weniger wie eine Kolonie ausgebeutet hat und deren Landstände nichts zu entscheiden hatten.
Aber auch eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft wird nicht angestrebt, das zwischenmenschliche wie politische "sanfte Gesetz" vereint sich in Murai und Marosheli, die beide ihre Bediensteten, die Knechte und Arbeiter, respektvoll behandeln, jedoch keine Freiheiten zugestehen.
Murai über seine ihm Untertänigen:
"Diese würde ich sogar zum Blutvergießen führen können, sobald ich mich nur an ihre Spitze stellte. Sie sind mir unbedingt zugethan. Auch die andern, die Knechte und die Arbeiter, die ich zu Hause habe, würden sich eher ihre Glieder zerschlagen lassen, ehe einer zugäbe, daß mir ein Haar gekrümmt würde. Wenn ich nun die dazu rechne, die mir wegen dem Verhältnisse der Grundherrlichkeit unterthan sind, und die mir, wie ich bei vielen Gelegenheiten erfahren konnte, vom Grunde des Herzens zugethan sind, so würde ich, wie ich glaube, eine ziemlich große Zahl von Menschen zusammen bringen, die mich lieben. - - Seht nur, und ich bin erst zu ihnen gekommen, als mein Haupt schon grau geworden war, und als ich viele Jahre auf sie vergessen hatte. Wie müßte es sein, so Hunderttausende zu leiten, und sie zum Guten zu führen; denn meistens, wenn sie vertrauen, sind sie wie Kinder, und folgen zum Guten, wie zum Bösen."Stifters Überzeugung ist, dass gesellschaftlich Hochstehende und Gebildete die Menschen zum Guten führen können und müssen. Gleichzeitig erkennt er jedoch auch die Gefahren solcher Untertänigkeitsverhältnisse: Sie können auch zum Bösen geführt werden. Stifter war nicht naiv und er hat die Untiefen seines sanften Gesetzes erkannt, die bekanntlich zu Katastrophen geführt haben und bis heute gültig sind: Menschen lassen von Führern sich zu Untaten leiten. "Zum Blutvergießen".