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Aldous Huxley - Schöne neue Welt
03.11.2024 um 11:06Dies ist neben 1984 von Orwell wohl der bekannteste dystopische Roman des 20. Jahrhunderts, den ich nun zum ersten Mal gelesen habe. Die Story war mir nur in Umrissen bekannt. Gelesen habe ich ihn in der Übersetzung von Herberth E. Herlitschka aus dem Jahr 1932 (ein Jahr nach dem Erscheinen des Originals), in der die Handlung von London nach Berlin bzw. Deutschland verlegt ist und den Protagonisten deutsche Namen gegeben worden sind. Der Roman selbst schwankt zwischen Satire und Dystopie. So wird Henry Ford in Stoßgebeten wie "Gelobt sei Ford am Lenkrad!" angesprochen, die zehn Weltaufsichtsräte sind "Fordschaften", Namen sind von Unternehmen oder historischen wie kommunistischen Persönlichkeiten übernommen, und beim Leiter der Abteilung Schreiben an der Hochschule für Emotionstechnik, Helmholtz Watson, legt Herlitschka noch drauf, er nennt ihn Helmholtz Holmes-Watson. Der Weltaufsichtsrat für Westeuropa heißt in dieser Übersetzung Mustafa Mannesmann.
Der Roman spielt im Jahr 2540 bzw. 632 nach Ford (Bezug ist das erste T-Modell aus 1908). Nach einem zerstörerischen Neunjährigen Krieg (2049-2058) wurde ein Weltstaat eingerichtet, der in zehn Zonen aufgeteilt ist. An der Spitze ist jeweils ein Weltaufsichtsrat. Da als Grundübel der alten Welt die soziale Mobilität gesehen wurde, die zu Intrigen bis hin zu Kriegen führte, wird eine Gesellschaft geschaffen, in der jeder Mensch seinen angestammten Platz hat. Der Slogan des Weltstaates ist "GEMEINSCHAFTLICHKEIT, EINHEITLICHKEIT, BESTÄNDIGKEIT". Zunächst wurde Widerstand mit brutaler Gewalt niedergeschlagen, doch mit der Zeit wurden "Methoden der künstlichen Zeugung, der Neo-Pawlowschen Reflexnormung und der Hypnopädie" entwickelt, um einen neuen Menschen zu formen.
Um dies umzusetzen, werden Kinder nicht mehr von Frauen ausgetragen und geboren, sondern in Aufzuchtzentren in Flaschen, die mit Nährlösungen versehen werden. Je nach Qualität und Sauerstoffgehalt der Nährlösungen ist bereits vorbestimmt, in welche der fünf Kasten (von Alpha bis Epsilon) ein Kind "entkorkt" wird. Von dieser hierarchischen Kasten-Gesellschaftsordnung wird nicht abgegangen. Ein Experiment auf Zypern mit 22.000 Alphas und Selbstverwaltung habe laut Mannesmann nach sechs Jahren im Bürgerkrieg und mit nur 3.000 Überlebenden geendet.
Auch für ihre zukünftige Tätigkeit werden die Embryos konditioniert (zum Beispiel an Hitze oder Schwermetalle gewöhnt). Um die Gleichheit innerhalb von Arbeitsgruppen zu verstärken, werden nach einem "Bokanowskyverfahren" aus einer befruchteten Eizelle Dutzendlinge (zum Teil über hundert eineiige "Zwillinge") geschaffen. Zufällige Schwangerschaften werden abgetrieben. Die Gesellschaft ist nicht nur immobil, sondern auch männerdominiert. Alphas, also politische und wirtschaftliche Entscheider, sind ausschließlich Männer. Frauen sind maximal Betas.
Die Erziehung der Kinder obliegt dem Staat, Wissen oder besser gesagt Leitsätze werden durch Hypnopädie (Schlaflernen) eingetrichtert, wobei jedes Kind nur das erlernt, was es für seine zukünftigen Aufgaben benötigt. Historisches Wissen, Kunst, Religion sind abgeschaft, alte Bücher (Shakespeare als Dauerbeispiel im Roman) verboten. Nur Weltaufsichtsräte haben uneingeschränkten Zugang zu verbotenen Werken. Auch freie Wissenschaft wird nicht betrieben, da auch eine technologische Entwicklung die Stabilität der Gesellschaft unterminieren könnte.
Der Bevölkerung selbst wird ein hohes Maß an Vergnügen bereitgestellt. Eine Psychodroge namens Soma versetzt einen in kürzester Zeit in einen berauschten Glückszustand, ohne nach Abklingen verkatert zu sein. Unterhaltung gibt es in sogenannten Fühlkinos. Promiskuität wird gefördert. Es ist gewünscht, dass mit vielen Partnerinnen und Partnern sexuell verkehrt wird. Noch fruchtbaren Frauen werden Verhütungsmittel zur Verfügung gestellt. Neben Ford ist auch Freud Pate dieser Gesellschaft, auch wenn er nicht angebetet wird. Zur gemeinschaftlichen Abendunterhaltung gibt es Tanzunterhaltungen (zum Beispiel in der Dom-Diele).
Um die Wirtschaft in Gang zu halten, werden die Menschen von Anfang an darauf konditioniert, dass Dinge nicht repariert werden, sondern neu gekauft, wenn sie schadhaft sind. Neue Produkte müssen komplizierter oder komplexer sein als die bisher gängigen, um vom Weltaufsichtsrat für die Produktion freigegeben zu werden.
Der Roman spielt in der männlichen Alphasphäre, weibliche Protagonistin ist die Beta-Frau Lenina Braun. Mit dem körperlich für einen Alpha ungewöhnlich kleinen Sigmund Marx (es wird gemunkelt, dass in seiner Nährlösung Alkohol beigemengt war, außerdem hat er ungewöhliche Ansichten, indem er in der Promiskuität die Frau als Stück Fleisch wie "Schweinebraten" angesehen sieht) fliegt sie nach New Mexico in ein Wilden-Reservat, das mit elektrischen Zäunen abgeschottet ist. Dort leben Indigene in Pueblos nach altem Lebensmuster und präsentieren Besuchern ein touristisches Folkloreprogramm. Sie treffen jedoch auf zwei Weiße: die mit ihren 44 Jahren bereits ausgemergelte und dicke Filine mit ihrem Sohn Michel. Der Hintergrund: Filine war mit dem Direktor des Brut- und Aufsichtszentrums von Berlin-Dahlem auf einem Tourismustrip, stürzte jedoch ab und der Direktor flog alleine nach Berlin zurück. Filine war schwanger, ihr Sohn wuchs unter den Indigenen auf, wurde jedoch kein akzeptiertes Vollmitglied der Pueblo-Gemeinschaft. Beide werden nach Berlin geflogen. Filine stirbt an Altersschwäche in einem Palliativzentrum in Potsdam, Michel ist eine Kuriosität und diskutiert in einem Kernkapitel mit dem Weltaufsichtsrat Mustafa Mannesmann über Shakespeare (die gesammelten Werke hatte Michel in der Pueblo-Siedlung), Religion, Gesellschaft und Wissenschaft.
Zwischen Michel und Lenina würde es eigentlich sexuell funken, nur unterscheiden sie komplett unterschiedliche Ansichten bezüglich des Mann-Frau-Verhältnisses. Für Lenina ist eine sofortige Befreidigung ihre Lüste normal, was Michel jedoch abstößt, da er ein sehr konservatives, eigentlich fundamentalistisches Frauen- und Familienbild vertritt. Lust und Abneigung zerreißen ihn innerlich. Er scheidet aus der Gesellschaft aus und zieht in einen ehemaligen Funkfeuerleuchtturm in der Lüneburger Heide. Dort beginnt er sich zu geißeln und ruft immer wieder lauthals "Metze!" und meint Lenina damit. Dieses Tun bleibt nicht unbeobachtet, ein Fühlfilmkameramann nimmt ihn zwei Tage lang auf, der Film wird ein Renner und in Scharen kommen nun Menschen heran, welche ihn anfeuern, sich doch zu geißeln. Als Lenina auch unter den sich wild gebärdenen Leuten ist und ihn umarmen will, geht Michel in den Leuchtturm und erhängt sich im Laufe der Nacht.
1946 kommentierte Huxley seinen vor dem Krieg und vor der NS-Herrschaft entstandenen Roman. Die beiden Totalitarismen waren für Huxley Spielarten des Nationalismus.
In den letzten dreißig Jahren gab es keine Konservativen, sondern nur nationalistische Radikale der Rechten und nationalistische Radikale der Linken. ... Die nationalistischen Radikalen setzten sich durch, und wir alle kennen die Folgen: Bolschewismus, Faschismus, Inflation, Wirtschaftsdepression, Hitler, Zweiter Weltkrieg, Ruin Europas und nahezu weltweit Hungersnöte.Für sein Romankonzept sei wesentlich, dass die Folgen dieser Unordnung durch Machtzentralisation und Stärkung der Regierung bekämpft werden.
Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre ein Staat, in dem die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrscht, die zu gar nichts gezwungen zu werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben.Die Ausmerzung bzw. das Verbot von Geschichte und Kunst argumentiert Huxley wie folgt:
Groß ist die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, ist das Verschweigen der Wahrheit. Indem totalitäre Propagandisten gewisse Dinge einfach nicht erwähnten, indem sie einen - wie Churchill es nannte - »eisernen Vorhang« herabließen zwischen den Massen und solchen Sachverhalten oder Argumenten, die von den politischen Machthabern für unerwünscht gehalten wurden, beeinflußten sie die öffentliche Meinung viel wirksamer, als sie es durch die beredsamsten Anklagen, die zwingendsten logischen Widerlegungen hätten tun können.Die "Revolution in den Gemütern und Leibern der Menschen" sei durch vier "Entdeckungen und Erfindungen" zu gewährleisten:
- Verbesserte Methoden der Suggestion
- Eine voll entwickelte Wissenschaft der Unterschiede zwischen Menschen zur Platzanweisung in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rangordnung
- Ein wenig schädliches Rauschmittel als Ersatz für Alkohol oder Heroin
- Ein System der Eugenik
Das totalitäre Herrschaftssystem, das die Menschen zufrieden leben lässt, sieht für Huxley nun so aus:
In Verbindung mit der Freiheit des Tagträumens unter dem Einfluß von Rauschmitteln, Filmen und Rundfunk wird die sexuelle Freiheit dazu beitragen, seine Untertanen mit der Sklaverei, die ihr Los ist, auszusöhnen.Dass dies für Huxley jedoch keine wünschenswerte Utopie, sondern eine abzulehnende Dystopie ist, zeigt sich an dieser Überzeugung:
Nur eine große, Dezentralisierung und Selbsthilfe erstrebende Volksbewegung könnte die gegenwärtige Tendenz zur Staatsallmacht aufhalten. Zum jetzigen Zeitpunkt ist kein Anzeichen erkennbar, daß es zu einer solchen Bewegung kommen wird.Für mich stellt sich jedoch die Frage: Kommen wir dann wieder zurück zum Nationalismus, den er treffend ablehnt?