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Sind die Katharer nur literarische Fiktion? Zur aktuellen Forschung

3 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Religion, Glaube, Geschichte ▪ Abonnieren: Feed E-Mail
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Sind die Katharer nur literarische Fiktion? Zur aktuellen Forschung

23.10.2024 um 20:40
Dass die Wissenschaft immer wieder neue Erkenntnisse gewinnt und Ansichten revidiert, gehört zu ihrem Wesen. Dass ein ganzer Forschungsgegenstand ins Wanken gerät, ist dagegen nicht so selbstverständlich. Die Katharer gelten gemeinhin als größte mittelalterliche „Ketzer“-Bewegung. Aber in Teilen der jüngeren Forschung wird inzwischen ihre Existenz infrage gestellt.

Südfrankreich war im Mittelalter politisch unruhig. Der König von England (gleichzeitig Herzog von Aquitanien), der Graf von Toulouse, dessen aufmüpfiger Vasall Vizegraf von Trencavel und andere standen im 12. und 13. Jahrhundert in der Region in Konkurrenz, während der König von Frankreich im fernen Norden saß und wenig Einfluss hatte. In diesem bestehenden Konflikt kam im mittleren 12. Jhd. der Vorwurf auf, es wimmele in der Region nur so von Ketzern. Der Vorwurf zog dann immer weitere Kreise, führte zu Pamphleten und Maßnahmen gegen die vermeintlichen Katharer und zum bekannten Albigenserkreuzzug. Die Katharer wurden im 19. Jhd. ein Teil der regionalen Identität und ein Thema der Geschichtswissenschaft. In jüngerer Zeit mehren sich aber kritische Stimmen, die zu bedenken geben, dass die Quellenlage äußerst dünn und dubios ist. Die Absichten der als Quellen herangezogenen mittelalterlichen Autoren seien lange zu wenig berücksichtigt und Dinge zusammengeworfen worden, die zeitlich und örtlich nicht zusammengehören. In diese Richtung geht auch das folgende Buch von 2023.


Markus Krumm, Eugenio Riversi, Alessia Trivellone:
Die Erfindung der Katharer. Konstruktion einer Häresie in Mittelalter und Moderne
Die Katharer gelten als die größte Ketzerbewegung des Mittelalters, eine Art Gegenkirche, letztlich zerstört durch Kreuzfahrer und Inquisitoren. Dieses traditionelle Bild von den berühmten Häretikern ist im zurückliegenden Vierteljahrhundert von der internationalen Forschung grundlegend in Zweifel gezogen worden. Statt um ein historisches Massenphänomen scheint es sich bei den Katharern vielmehr um einen modernen Mythos zu handeln, im Kern basierend auf einem im Hochmittelalter für den Häresiekampf geschaffenen Feindbild, ausgebaut von Historikern im 19. Jahrhundert und inzwischen eng verknüpft mit der regionalen Identität des heutigen Südfrankreich, das als „Katharerland“ auch touristisch vermarktet wird. Reich bebildert und ergänzt durch die Übersetzungen zentraler Quellen führt der Band erstmals in die komplexe Geschichte dieser „Erfindung“ ein.
Quelle: Verlag https://schnell-und-steiner.de/produkt/die-erfindung-der-katharer

Das Buch entstand parallel zu einer Ausstellung mit Konferenz in Bonn, die von den Autoren kuratiert wurde. Der Rezensent Jörg Oberste hat Kritikpunkte im Detail, hält aber die Hauptthese des Buches für "unbestreitbar".
Sie [Krumm/Riversi/Trivellone] konstatieren mit unbestreitbaren Argumenten, dass die Vorstellung einer großen Ketzerbewegung, die vor allem in Okzitanien im 12. und 13. Jahrhundert unter dem Namen »Katharer« oder »Albigenser« weit verbreitet gewesen sei und kirchenähnliche Strukturen aufgebaut habe, eine »Erfindung« mittelalterlicher Kirchenleute war, die durch moderne Theologen und Historiker seit dem 18. Jahrhundert zu einem lange Zeit unangefochtenen historiografischen Narrativ geformt wurde.
Quelle: Oberste, s. u.


Aus dem frei einsehbaren Konferenzbericht von Ulf Floßdorf:
EUGENIO RIVERSI [befasste sich] mit dem „Buch gegen die Katharer“ des Mönches Eckbert von Schönau. Eckbert konstruierte ein neues religiöses Feindbild unter dem ihm geläufigen Begriff „Katharer“ als schlimmste Ausprägung dualistischer Manichäer: Im Rekurs auf spätantike Häresiekataloge dienten ihm insbesondere die „Katharisten“ als Vorlage der katharischen Häresie, deren Glaubenssätze hauptsächlich aus der Inversion der orthodoxen Lehre abgeleitet werden.
Quelle: Floßdorf, s. u.
ALESSIA TRIVELLONE forderte in ihrem Vortrag eine Neubewertung der italienischen Traktate des 13. Jahrhunderts über Häresien in Norditalien sowie der Autorschaft, Datierung und Interdependenzen der entsprechenden handschriftlichen Überlieferung. Auffälliger Weise würden die Häretiker in den lombardischen Traktaten nicht durchgängig als Katharer bezeichnet, während die Beschreibungen der Organisation von „Katharerkirchen“ von Gemeinplätzen durchtränkt seien.
Quelle: Floßdorf, s. u.

Diese Gemeinplätze sind laut Buch u. a. angebliche Namen führender Katharer, die sich trotz sehr dichter Quellenlage nirgendwo sonst finden. Auch viele der genannten Ortsnamen mit angeblicher Katharerpräsenz kämen häufig vor und seien daher nichtssagend. Wenn die Orte tatsächlich identifizierbar sind, fehle in örtlichen Quellen des Zeitraums jeder Hinweis auf Verurteilungen wegen Ketzerei. Krumm weist auf die Rolle der Häresievorwürfe als politisch-militärische Legitimation hin.
MARKUS KRUMM (München) nahm den kommunikativen Kontext der Papst Innozenz III. gewidmeten Historia Albigensis des Mönches Pierre de Vaux-de-Cernay in den Blick. Das darin entwickelte religiöse Feindbild zeichne für die erste Phase des Albigenserkreuzzugs das Bild einer in den Herrschaftsgebieten Toulouse, Foix und Comminges grassierenden Häretikerbewegung. Es sei anzunehmen, dass die ursprüngliche causa scribendi darin lag, den Anführern des Kreuzzugs eine Argumentensammlung zu liefern, um den Papst im Frühjahr 1213 von der Fortführung des Kreuzzuges zu überzeugen, den dieser kurz zuvor auf Vermittlung der Gesandten König Peters II. von Aragón für beendet erklärt hatte. Argumentation und Erzählstruktur deuten darauf hin, dass das Sprechen über Häretiker zur Legitimation der Kriegsführung diente.
Quelle: Floßdorf, s. u.

Tobias Weller betont die Rolle mittelalterlicher Autoren, die über Häresien schrieben.
In der Abschlussdiskussion gab TOBIAS WELLER (Bonn) zu bedenken, dass die Konstruktion von Häresien offenbar häufig nicht etwa vorrangig von den devianten Glaubensbewegungen selbst ausging, sondern die Systematisierung angeblicher häretischer Vorstellungen zu einem „Lehrgebäude“ auf Seiten des kirchlichen Lehramts erfolgte, wo sie sich teilweise zu einer Obsession steigerte.
Quelle: Floßdorf, s. u.

Es gab aber auch Stimmen auf der Konferenz, die die Katharer zumindest mit Einschränkungen als real ansehen.
Ausgehend von den Ergebnissen seiner Untersuchungen über Netzwerke der Katharer im 14. Jahrhundert betonte YANNICK POUIVET (Trier) die reale Existenz der katharischen Häresie für eine spätere Zeit.
Quelle: Floßdorf, s. u.


Man sieht, es handelt sich um ein kontroverses Thema. Wenn sich die skeptischen Stimmen bestätigen, würde das bedeuten, dass es sich bei der großen, europaweit präsenten Katharerbewegung nur um eine Art von mittelalterlicher Verschwörungstheorie handelt. Das wäre für einige Leute sicher bitter. Die Katharer gehören in Südfrankreich zur regionalen Identität. Sie sind ein Bezugspunkt für heutige Esoteriker und Alternativreligiöse. Manche Historiker haben ihnen ihr Forscherleben gewidmet. Ich bin jedenfalls gespannt, was aus dieser Diskussion noch wird.

Mehr zur Katharerproblematik kann man in einem Artikel von Uwe Brunn lesen ("Schall und Rauch"), auf den sich auch Krumm/Riversi/Trivellone bezogen. Nach den Links folgen ein paar Auszüge.




Quellen und Links

Auffarth, Christoph: Mittelalterliche religiöse Bewegungen, die Erfindung der Katharer und ‚der‘ Kirche
https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/07/11/die-erfindung-der-katharer/
Rezension zum Buch

Brunn, Uwe: Schall und Rauch - Der Name „Katharer“ und das Gespenst der ketzerischen Gegenkirche vom Mittelalter bis in die neueste Zeit
https://books.openedition.org/larhra/4142
Artikel über die Entstehung des Katharermythos mit Darstellung der Quellenlage

Floßdorf, Ulf: Die Rheinlande und die "Erfindung" der Katharer. Die Konstruktion eines religiösen Feindbildes im hochmittelalterlichen Europa
https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-128755
Konferenzbericht

Oberste, Jörg: Rezension über: Markus Krumm / Eugenio Riversi / Alessia Trivellone, Die Erfindung der Katharer. Konstruktion einer Häresie in Mittelalter und Moderne
https://www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/francia-recensio/2023-3/mittelalter-moyen-age-500-1500/ReviewMonograph631886837/@@generate-pdf-recension?language=de
Rezension zum Buch

Riversi, Eugenio: Die Rheinlande und die ‚Erfindung‘ der Katharer
http://histrhen.landesgeschichte.eu/2022/05/rheinlande-katharer-ausstellung-riversi
Beschreibung der Bonner Ausstellung und der Kernthesen

Gilt als wichtiger Beitrag zum Thema, ist aber kostenpflichtig und auf englisch, daher hier nur als weiterführender Hinweis:
Cathars in Question, Hrg. Antonio Sennis, 2016
https://boydellandbrewer.com/9781903153819/cathars-in-question




Uwe Brunn:
Schall und Rauch - Der Name „Katharer“ und das Gespenst der ketzerischen Gegenkirche vom Mittelalter bis in die neueste Zeit


Hier die erwähnten Auszüge.
Die touristische und mediale Omnipräsenz der Katharer im heutigen Frankreich steht jedoch in einem erstaunlichen Widerspruch zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Schriftproduktion. Kein mittelalterlicher Autor des Languedoc hat jemals den Begriff „Katharer“ benutzt, in keiner der lokalen, zeitgenössischen Chroniken zum Albigenser-Kreuzzug und in keinem der Tausenden Inquisitionsprotokolle des 13. Jahrhunderts finden wir dieses Wort. Die südfranzösischen Autoren des Mittelalters nennen die Widersacher der katholischen Kirche schlicht heretici, „Ketzer“. Die Existenz von Ketzern, die namentlich als „Katharer“ bezeichnet werden können, ist also im Languedoc nicht belegt. Sucht man nach ersten Zeugnissen über sie, muss man Südfrankreich verlassen und sich dem deutschen Rheinland zuwenden.
Quelle: Brunn, s. u.

Genauer gesagt zu Eckbert von Schönau, der im Zusammenhang mit einer Ketzerverbrennung in Köln 1163 die Begriffe "Katharer", "Katharister" und "Kataphryger" ins Spiel bringt. Seine Schriften wurden lange als Beschreibung einer realen, umfassenden Ketzerbewegung angesehen. Allerdings ist laut Brunn nachzuweisen, dass Eckbert fast alles aus frühchristlichen Beschreibungen von Häresien, z. B. von Augustinus über die Manichäer, übernommen hat. Zwischen Eckberts "Katharern" und den angeblichen südfranzösischen Ketzern gab es zu dieser Zeit noch keinen Zusammenhang.
Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts wurde die Ketzerei einzelnen Gruppen oder Individuen zugeschrieben. Eckbert von Schönau geht als erster Autor des Mittelalters den Weg der Vereinheitlichung. Sein Liber contra hereses katarorum stellt den Versuch dar, den religiösen Widerstand auf eine einfache Formel zu bringen: Ketzer werden zu Katharern. Dank seiner Konstruktion, die, wie wir gesehen haben, auf einer Synthese verschiedener spätantiker Häresien beruht, wird es möglich, das gesamte schon von den Kirchenvätern aufgebrachte Arsenal gegen Häretiker effizient zu nutzen: Eine monolithisch erscheinende Ketzerbewegung ist, zumindest argumentativ, leichter zu zerschlagen als eine infinitesimal zersplitterte. Eckbert formuliert also ein klares Konzept, das es der Kirchenautorität erleichtern sollte, zukünftige Attacken gegen die Ketzerei gezielt zu führen. Er darf als Erfinder der manichäischen Katharer-Ketzerei gelten.
Quelle: Brunn, s. u.

Von Eckbert ausgehend verbreitete sich der Begriff "Katharer". Außerhalb Deutschlands fällt er erstmals 1179 beim dritten Laterankonzil. Brunn meint, dass dies aber kein Zeichen für eine große Katharerbewegung ist, sondern für eine inflationäre Anwendung des Begriffs, der ganz verschiedenen realen und vermeintlichen Häretikergruppen pauschal übergestülpt wurde.
Als der Katharer-Begriff wenig später auf dem dritten Laterankonzil zum ersten, dann kaiserlich verbürgt beim Konzil von Verona zum zweiten Mal in Italien auftritt, ist das nicht Zeichen einer Übertragung oder Verbreitung der katharischen Ketzerei von Deutschland nach Italien, sondern Ausdruck einer bestimmten Form von begrifflicher Erfassung des Widerstands gegen Kirche und Staat. Im späten 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts kommt es aber offensichtlich nicht mehr auf den genauen Inhalt der Ketzereien an, die Universalmächte hören auf, sich mit den Ketzern argumentativ auseinanderzusetzen. Katharer, Patarener, Arnaldisten, Josephiner - Ketzer, egal wie sie heißen und woher sie kommen, werden als universal austauschbar behandelt. [...]

Alle die durch die italienische Inquisition der Mitte des 13. Jahrhunderts produzierten Texte sagen das gleiche. Wie sollte es anders sein bei Schriften, die einem aufeinander abgestimmten Autoren-Kreis entsprangen und mit der Absicht produziert wurden, der Häresie mit einem einheitlichen Diskurs entgegenzutreten? Der Beweis für die Existenz einer bis ins Kleinste beschreibbaren italienischen Katharer-Kirche inklusive ihrer komplexen Liturgie gelingt aber nur aufgrund eines Zirkelschlusses: Die historische Beweisführung beruft sich auf sich gegenseitig bestätigende Inquisitoren-Texte und zieht selten ernsthaft in Erwägung, dass die wenigen aus Ketzersicht geschriebenen und als katharische Selbstzeugnisse angesehenen Werke nicht mehr als Stilübungen gelehrter katholischer Glaubensverfechter sein könnten.
Quelle: Brunn, s. u.

Erst die Geschichtswerke von Jacques Bénigne Bossuet (1688), Charles Schmidt (1849) und Arno Borst (1937) haben nach der Sicht von Brunn die Häresien aus den versteuten Quellen rückblickend zu einer großen Bewegung namens Katharer zusammengefasst, die es in Wirklichkeit nicht gegeben habe.


Quelle

Brunn, Uwe: Schall und Rauch - Der Name „Katharer“ und das Gespenst der ketzerischen Gegenkirche vom Mittelalter bis in die neueste Zeit
https://books.openedition.org/larhra/4142


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Sind die Katharer nur literarische Fiktion? Zur aktuellen Forschung

24.10.2024 um 00:35
Danke für diesen Einblick in die aktuelle geschichtswissenschaftliche Diskussion, die ich nicht so eng verfolgt habe und daher wirklich Neues und Hochinteressantes präsentiert.


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Sind die Katharer nur literarische Fiktion? Zur aktuellen Forschung

10.11.2024 um 19:11
Literatur ergänzt.

@Narrenschiffer
Danke noch für die Rückmeldung.


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