Wolf-Kassandra

In dieser 1983 sowohl in der DDR als auch bei Suhrkamp erschienen Erzählung blickt Kassandra vor ihrem vermeintlichen Tod auf den Troianischen Krieg zurück. Der Text ist aus fünf Gründen schwer zugänglich: die abgehackte Sprache mit vielen unvollständigen Sätzen, die Themen- und Zeitsprünge, die vielen oft erst später vorgestellten Personen, die Voraussetzung von Detailkenntnissen der Überlieferung über den Troianischen Krieg, die versteckten zeitaktuellen Bezüge mit oft Schlüsselcharakter.

Für Kassandra ist der Troianische Krieg ein Männerkrieg. Dass ihr Bruder Paris überhaupt Helena aus Sparta entführt, liegt daran, dass sein Vater Priamos als König von Troia nicht darauf reagiert hat, als seine Schwester von den Griechen entführt worden ist. Die Entführung Helenas ist eine Reaktion auf dieses Nichtstun.
Ein König, der seine entführte Schwester nicht zurückzugewinnen suche, verliere sein Gesicht.
Männliche Gegenpole sind Aineias und der Achill ("das Vieh"). Aineias zieht schließlich mit einer Gruppe von Menschen aus dem zerstörten Troia weg (bei Vergil gründet er Rom), Kassandra bleibt zurück. Aineias wird als sanft und zurückhaltend beschrieben, der bei den ersten Treffen mit Kassandra nicht sexuell verkehren will und seine Männer nicht in den Tod führt, sondern auf den Berg Ida, um zu überleben. Kassandra dazu:
Aineias lebt. Aber muß ein Mann, der lebt, wenn alle Männer sterben, ein Feigling sein? War es mehr als Politik, daß er, anstatt die Letzten in den Tod zu führen, sich mit ihnen auf den Berg Ida, in heimatliches Gelände, zurückzog? Ein paar müssen doch übrigbleiben
Achill hingegen tötet einen Gegner im Friedensbezirk des Tempels von Apoll sowie die Amazonin Penthesilea, deren toten Körper er vergewaltigt.

Der Krieg selbst verändere die Männer, mache sie zu rasenden Kampfmaschinen, die sich Frauen nach Gutdünken nähmen. Griechen wie Troer. Die Frauen Troias ziehen sich in ihre Häuser zurück, erscheinen nicht mehr in der Öffentlichkeit.
... schienen die Männer beider Seiten verbündet gegen unsre Frauen. Entmutigt zogen die sich in die winterlichen Höhlen der Häuser, an die glimmenden Feuer und zu den Kindern zurück.
Und es sind die Frauen, es ist sie selbst, die sich gegen das Abschlachten gefangener Griechen stellt:
Da trat ich, ohne Priesterkleid, in diesen schmalen Zwischenraum, ging ihn, vom heißen Atem der Griechen, von den kalten Messern der Troer gestreift, Schritt für Schritt entlang, von der einen Wand zur andern. Alles still. Hinter mir sanken die Messer der Troer. Die Griechen weinten. Wie liebte ich meine Landsleute.
Paris vertrat mir den Ausgang. Du also, Priesterin, gestattest meinen Leuten nicht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. - Ich sagte: Nein.
Andererseits sind es die Frauen Troias, die es nicht zulassen, dass Troia sich ergibt:
Lieber kämpfend sterben, als versklavt sein, sagten ihre Frauen ...
Kassandra lehnt einen nationalistisch oder aus Kriegsgegnerschaft begründeten Abscheu gegen Griechen ab. Vielmehr verbringt sie ihre erste Liebesnacht mit dem Griechen Panthoos (Aineias war zu scheu dafür), welche sie so beschreibt:
Panthoos der Grieche tat, als kenne er die Wunde in meinem Herzen nicht; als mache es ihm nichts aus, in dies Herz eine mir selbst fast nicht bewußte, sehr feine, sehr geheime Feindschaft gegen ihn, den Ersten Priester, einzupflanzen.
Mein Griechisch hab ich ja bei ihm gelernt. Und die Kunst, einen Mann zu empfangen, auch. In einer der Nächte, da die frisch geweihte Priesterin beim Götterbild zu wachen hatte, ist er zu mir gekommen. Geschickt, fast ohne mir weh zu tun und beinah liebevoll tat er, wozu Aineias, an den ich dachte, nicht willens oder nicht fähig gewesen war. Daß ich unberührt war, schien ihn nicht zu überraschen, auch nicht, in welchem Maß ich körperlichen Schmerz zu fürchten schien. Zu niemandem, auch nicht zu mir, verlor er je ein Wort über jene Nacht. Ich aber wußte nicht, wie ich Haß und Dankbarkeit gegen ein und denselben Menschen mit mir herumtragen sollte.
Die Zeitbezüge zu sowjetisch-kommunistischen Herrschaftspraktiken sind zum Teil offenkundig. So zum Beispiel, dass diejenigen bestraft werden, die einen Missstand benennen, und nicht diejenigen, die ihn verursachen:
daß wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht ... Sprach in Troia irgendein Mensch von Krieg? Nein. Er wäre bestraft worden.
An anderer Stelle:
Sie leisteten es sich, Mord und Totschlag weniger zu fürchten als die grollende Augenbraue ihres Königs und die Denunziation durch Eumelos.
Dem Seher Kalchas werden vom Königshaus positive Prognosen abgezwungen und dieses sei daher "seherlos". Kalchas ist zu den Griechen übergelaufen:
Das Königshaus hat ihm die günstigen Prophezeiungen abgezwungen.
Kassandra formuliert auch, wie mit einem Mitglied der Elite wie sie selbst gehandhabt wird, wenn es nicht mehr den Richtlinien des Herrscherhauses folgt:
Priamos der König hatte drei Mittel gegen eine Tochter, die ihm nicht gehorchte: Er konnte sie für wahnsinnig erklären. Er konnte sie einsperren. Er konnte sie zu einer ungewollten Heirat zwingen. Dies Mittel, allerdings, war unerhört. Nie war in Troia eine Tochter eines freien Mannes zur Ehe gezwungen worden. Dies war das Letzte. Als der Vater nach Eurypylos und seinem Heer von Mysern schickte, obwohl bekannt war, der wollte mich als Lohn zur Frau, da konnte jeder wissen: Troia war verloren.
Auch der Bruch mit der Rechtsstaatlichkeit im Krieg wird vom König nicht nur hingenommen, sondern mehr oder weniger gefordert:
Priamos erklärte mir, im Krieg sei alles, was im Frieden gelten würde, außer Kraft gesetzt.
Thematisiert wird auch ein Überwachungssystem durch das Königshaus (SED/Stasi?), aber auch die Zwiespältigkeit ihrer, Kassandras, eigenen Person (Christa Wolf selbst war von 1949 bis Juni 1989 Mitglied der SED):
Immer hat es mich gestört, wenn andre mehr über mich wußten oder zu wissen glaubten als ich selbst. ... Worauf sollten sie setzen: auf meinen Hang zur Übereinstimmung mit den Herrschenden oder auf meine Gier nach Erkenntnis.
Der Personenkult wird thematisiert, als Paris Helena nach Troia gebracht hat:
Jubelnd lief das Volk durch die Straßen. Ich sah eine Nachricht zur Wahrheit werden. Und Priamos hatte einen neuen Titel: »Unser mächtiger König«. Später, je aussichtsloser der Krieg wurde, mußte man ihn »Unser allermächtigster König« nennen.
Der Krieg der Griechen (Westen) und Troer (Osten) kann an manchen Stellen durchaus in der Bipolarität des Kalten Kriegs und in seinem wirtschaftlichen Hintergrund (nicht Helena sei das eigentliche Kriegsziel der Griechen) gelesen werden:
Zehn Jahre Krieg. Sie waren lang genug, die Frage, wie der Krieg entstand, vollkommen zu vergessen. ... Red keinen Unsinn, sagte Priamos. Die wollen unser Gold. Und freien Zugang zu den Dardanellen.
Doch wofür steht das hölzerne Pferd der Griechen? Mahnt Christa Wolf selbst an, dass das kommunistische System nicht den westlichen Verlockungen erliegen soll? Dass dies kein Sieg sei?
Der Zusammenbruch kam schnell. Das Ende dieses Krieges war seines Anfangs wert, schmählicher Betrug. Und meine Troer glaubten, was sie sahn, nicht, was sie wußten. Daß die Griechen abziehn würden! Und dieses Monstrum vor der Mauer ste-henließen, das alle Priester der Athene, der das Ding geweiht sein sollte, eilfertig »Pferd« zu nennen wagten. Also war das Ding ein »Pferd«. Warum so groß? Wer weiß. Ebenso groß wie die Ehrfurcht der geschlagnen Feinde vor Pallas Athene, die unsre Stadt beschützte.
Holt das Pferd herein.
Das ging zu weit, ich traute meinen Ohren nicht. Zuerst versuchte ich es sachlich: Seht ihr nicht, das Pferd ist viel zu groß für jedes unsrer Tore.
So erweitern wir die Mauer.
Jetzt rächte sich, daß sie mich kaum noch kannten. Der Schauder, der an meinem Namen hing, war schon verblaßt. Die Griechen haben ihn mir wieder angehängt. Die Troer lachten über mein Geschrei. Die ist verrückt. Los, brecht die Mauer auf! Nun holt doch schon das Pferd! Heftiger als jeder andre Trieb war ihr Bestreben, dies Siegeszeichen bei sich aufzustellen. So wie die Leute, die in irrem Taumel den Götzen in die Stadt beförderten, sahn keine Sieger aus.
Aineias verlässt die Stadt, Kassandra bleibt mit ihren Zwillingen, die ihr zwangsverheirateter Mann Eurypylos in der Hochzeitsnacht, einen Tag vor seinem Tod, gezeugt hat, zurück.