Saar-Steinklopfer

Diese Novelle des österreichischen Schriftstellers Ferdinand von Saar ist kein proletarischer Roman, spielt jedoch im Milieu der Arbeiter:innen, welche in den frühen 1850er Jahren die sogenannte Semmeringbahn, eine Gebirgsstrecke der Südbahn von Wien nach Triest, bauten. Die für den Bahnbau benötigten Steine mussten per Hand auf die gewünschte Größe geschlagen werden, und diejenigen, welche diese Arbeit verrichteten, waren die Steinklopfer. An hierarchisch unterster Stelle waren diejenigen, welche Kalkstein zu Schotter für die Gleisbetten schlugen.

Der Beginn der Novelle:
Wer in früherer Zeit - heutzutage ist der Eindruck nicht mehr so gewaltig - die Bahn über den Semmering, die sich längs gähnender Abgründe und schroffer Felswände emporwindet, zum ersten Male befahren hat, der wird, wenn der Zug über schwindelerregende Viadukte donnerte oder plötzlich mit schrillem Pfeifen in die Nacht endlos scheinender Tunnels hineinbrauste, jene mit erhabenem Grauen gemischte Bewunderung empfunden haben, die uns stets überkommt, wenn wir etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns sehen. Und wenn dann die gekoppelte Wagenreihe, allmählich ebenen Boden erreichend, wieder gefahrlos zwischen lachenden Triften1 forteilte, dann wird er sich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu sein, das solche Wunderwerke hervorbringt, in seinen Sitz zurückgelehnt und sich mit halbgeschlossenen Augen hinübergeträumt haben in die Errungenschaften der Zukunft, welche in der Eröffnung des Suezkanals und dem Durchstich des Mont Cenis noch immer nicht ihre kühnste Betätigung gefunden. An eines aber, das kann man zuversichtlich annehmen, werden die wenigsten gedacht haben: an die Tausende und Abertausende von Menschen, welche im Schweiße ihres Angesichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen gesprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt und so recht eigentlich jene Verkehrsstraße geschaffen, auf welcher man, fast so rasch wie der Gedanke, aus der unruhvollen, staubdurchwirbelten Hauptstadt am Ufer der Donau an den Strand der blauen Adria versetzt werden kann.
Thematisiert wird in diesem Text jedoch Persönliches: Ausbeutung, Gewalt, sexuelle Gewalt, aber auch Liebe und häusliches Glück. Das Arbeitskommando führt ein Aufseher, der die Arbeitenden um ihr Geld betrügt, indem er ihnen verdorbene Lebensmittel vorsetzt und in eine Art Schuldknechtschaft bringt, indem er ihnen Schnaps verkauft und diesen vom Lohn abzieht.

Diese Novelle handelt von der Liebe eines wegen Krankheit aus der österreichischen Armee entlassenen, "beurlaubten", Soldaten namens Georg Huber, und da seine Heimatgemeinde die Sozialunterstützung nach einer Zeit nicht mehr gewährt, wird dieser eher klein gewachsene und kränkliche Mann zu den Steinklopfern geschickt. Vom Aufseher wird er einer Frau zugeteilt, mit der er Kalkstein klopft. Sie heißt Tertschka, stammt aus Böhmen und wird vom Aufseher, der ihr Stiefvater ist, als Arbeits- und Haussklavin gehalten. Lohn erhält sie keinen, die Arbeit sei ihre Familienpflicht.

Die beiden verlieben sich, ihr Stiefvater will die beiden auseinanderbringen, was jedoch nicht gelingt. Sie treffen sich heimlich sonntags zum Kirchgang. Georg wird entlassen und Tertschka will mit ihm gehen. Aus Wut sperrt ihr Stiefvater sie in den Keller des Aufsehergebäudes und als Georg sie befreien will, wird er mit einem Messer attackiert, woraufhin er den Aufseher mit einem Hammer erschlägt.

Sehr lange Zeit verbringt Georg in einem Militärgefängnis in Wiener Neustadt, ohne einem Richter vorgeführt zu werden. Tertschka hat eine Arbeit bei einem Hausbau angenommen und schafft es schließlich, einen Offizier zu veranlassen, dass der Totschlag verhandelt wird. Das Urteil: Ein Jahr Gefängnis, diese Zeit sei aber bereits mit der Untersuchungshaft abgesessen.

Die Novelle endet idyllisch. Der Offizier, der von Schicksal und Liebe der beiden gerührt ist, verschafft ihnen eine Möglichkeit, die Kampfveteranen der kaiserlichen Armee offensteht: Georg erhält eine Bahnwärterstelle samt Häuschen und Feld an der Südbahnstrecke. Am Ende wird 15 Jahre nach vor geblendet: Man sieht ein glückliches Paar mit zwei Kindern.

Am stärksten ist die Novelle bei den Schilderungen der Herkunft der beiden. So erzählt Georg, während er neben Tertschka arbeitet:
"Vater und Mutter sind mir früh gestorben, und da hab ich im Ort die Gänse hüten müssen und später die Kühe - bis in mein achtzehntes Jahr. Denn ich war immer an Kraft zurück, und kein Bauer hat mich als Knecht nehmen mögen. Aber den Herren von der Assentierung2 war ich doch recht. ›Im zweiten Glied kann er mitlaufen‹, meinten sie und haben mir den weißen Rock angezogen. Und nun hat man mich krank und elend nach Hause geschickt. Eine Zeitlang wurd' ich von der Gemeinde erhalten; dann hieß es, ich solle gehen und Steine klopfen. Na - und jetzt klopf ich sie", schloß er mit bitterem Lächeln, während er wieder nach dem Hammer griff.
Tertschka über ihren Stiefvater und Aufseher:
"... mein rechter Vater ist bei der Arbeit verunglückt, als ich noch ganz klein war; abstürzende Erde hat ihn verschüttet. Dann ist die Mutter bei Dann ist die Mutter bei dem Aufseher geblieben, der damals, wie mein Vater, Teichgräber war und mit ihm in Böhmen umherzog. ... Schon zur Zeit, da die Mutter noch lebte, wollte er oft zärtlich mit mir tun; aber ich wich ihm aus und drohte, ich würd' es der Mutter klagen. Im vorigen Sommer jedoch kam er eines Abends allein aus dem Wirtshaus zurück und fing wieder an und sagte, er würde mich heiraten. Und da ich ihm kein Gehör gab, wollt' er Gewalt brauchen. Ich aber hab mich seiner erwehrt und hab ihm gesagt, was ich von ihm denke. Seitdem haßt er mich bis aufs Blut und rächt sich, wie er kann."


1 Trift: Von Vieh ausgetretene Pfade.
2 Assentierung: Musterung