Schnitzler-Anatol

Das aus dem Jahr 1892 stammende Theaterstück Anatol war das erste des damals noch als Arzt in Wien tätigen Arthur Schnitzler. Schon in diesem aus Einzelepisoden bestehenden Stück mit der Zentralfigur Anatol sind Schnitzlers Thematiken gezeichnet: Der aus gutem Haus stammende reiche junge Mann aus der Wiener Innenstadt und seine Sexualbeziehungen zu jungen, aus ärmlichem Umfeld stammenden Frauen aus den Wiener Vorstädten, die damals noch nicht oder soeben eingemeindet wurden (das namentlich erwähnte Hernals wurde 1892 eingemeindet und ist heute der 17. Bezirk): das "süße Mädel", das so definiert wird:
sie hat die weiche Anmut eines Frühlingsabends ... und die Grazie einer verzauberten Prinzessin ... und den Geist eines Mädchens, das zu lieben weiß!
Die kleinen, ärmlichen Vorstadtzimmer dieser jungen Liebschaften wird auf diese Weise idyllisiert:
ein kleines dämmeriges Zimmer - so klein - mit gemalten Wänden - und noch dazu etwas zu licht - ein paar alte, schlechte Kupferstiche mit verblaßten Aufschriften hängen da und dort. - Eine Hängelampe mit einem Schirm. - Vom Fenster aus, wenn es Abend wird, die Aussicht auf die im Dunkel versinkenden Dächer und Rauchfänge! ... Und - wenn der Frühling kommt, da wird der Garten gegenüber blühn und duften ...
Auch wird der Grund, warum Anatol dort seine Affären sucht, von ihm benannt:
d o r t bin ich auch zuweilen glücklich!
Und in einer Episode, in der er beim Weihnachtseinkauf in der Mariahilfer Straße eine bekannte verheiratete Frau aus guter Gesellschaft trifft und ihr sein Problem, für ein Mädchen aus der Vorstadt ein Geschenk zu finden, erzählt, wünscht diese am Ende, nachdem sie sich zunächst verächtlich über die ärmliche Schicht der Vorstadt geäußert hat, dass Anatol ihr einen Blumenstrauß mit folgenden Worten von ihr überreichen soll:
Diese Blumen, mein ... süßes Mädl, schickt dir eine Frau, die vielleicht ebenso lieben kann wie du und die den Mut dazu nicht hatte
Diese Beziehungen sind jedoch nicht dauerhaft. Ehen werden ausschließlich standesgemäß geschlossen (die Mädchen heiraten in der Vorstadt, deren reichen Liebhaber in der Oberschicht). Dennoch sammelt Anatol die kleinen Erinnerungsstücke, Aufmerksamkeiten und Geschenke und übergibt sie in einer Szene seinem Alter Ego und Freund Max mit diesen Worten:
Keine von allen, die ich liebte, kann ich vergessen. Wenn ich so in diesen Blättern, Blumen, Locken wühle - du mußt mir gestatten, manchmal zu dir zu kommen, nur um zu wühlen - dann bin ich wieder bei ihnen, dann leben sie wieder, und ich bete sie aufs neue an.
Aber wehe, wenn er - wie bei einer Emilie, bei der er ungeniert in den Schubladen stöbert - etwas findet, das auf einen anderen Liebhaber deutet, dann wird Anatols Eifersucht viehisch und er beschimpft sie beim Weggehen als "Dirne", da er einen Rubin und einen schwarzen Diamanten (vermutlich eine Lüge ihrerseits, er soll eine Viertelmillion Gulden, heute über 4 Mio Euro, wert sein) findet.

In der letzten Episode bereitet sich Anatol vormittags auf seine Hochzeit mit einer Unbekannten vor, die am Nachmittag vollzogen wird, nicht ohne sich von seiner bei ihm übernachtet habenden Geliebten zu verabschieden, wobei es ihm sehr schwer fällt, ihr die Wahrheit zu sagen. Sein Freund Max muss sie beruhigen. Damit endet das Stück.

Der Grundstein für Schnitzlers Stücke Liebelei und Reigen ist gelegt, aber Anatol ist mehr als ein "Vorläufer", es ist ein frühes Meisterwerk.