Seethaler-Trafikant

Den Film habe ich vor ein paar Jahren gesehen und vergessen, außer dass er mich nicht sonderlich angesprochen hat. Jetzt hat mich interessiert, wie die Buchvorlage ist (normal ziehe ich eigentlich Buch vor Film vor). Sie erscheint mir genauso konstruiert wie der Film, der Roman aus 2012 ist nicht komplexer.

Der 17-jährige, nicht sonderlich kräftige und ziemlich naive (er kennt nicht mal Hitler) Franz Huchel zieht 1937 von seinem Dorf am österreichischen Attersee nach Wien, um bei einem Trafikanten eine Lehre zu beginnen, da seiner alleinerziehenden Mutter der reiche Liebhaber durch Tod (durch einen Blitz im See beim Schwimmen erschlagen) entronnen ist. Die im Anschluss entwickelte Geschichte ist wirr.

Franz beginnt eine Freundschaft mit Sigmund Freud, der in der Trafik Stammkunde ist. Sie sprechen viel über Liebe, aber das Niveau der Dialoge ist sehr belanglos. Nach Machtergreifung folgen wir Freud zum Wiener Westbahnhof, wo er nach Paris fährt, um ins Londoner Exil zu gehen. Die Charakterisierung von Freud ist grenzwertig. Nicht nur die Dialoge sind platt ("Ach, das Weib, dachte Freud mit stiller Verwunderung, was will es, und was soll es uns?" oder "An den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns"), sondern sein ganzes Therapiekonzept wird indirekt der Lächerlichkeit preisgegeben: Es sei zum Beispiel egal, ob er hinter den Klienten sitzt oder nicht, ob sie stehen oder liegen. Auch wird ihm Geldgier unterstellt.
Der einzig wahre Grund, warum er sich während all der ungezählten Therapiesitzungen in den vergangenen Jahrzehnten hinter das Kopfende der Couch zurückgezogen hatte, war der, dass er es nicht ertragen konnte, eine Stunde lang von seinen Patienten angestarrt zu werden, beziehungsweise selbst in ihre hilfesuchenden, verärgerten, verzweifelten oder von irgendwelchen sonstigen Gefühlen verzerrten Gesichter blicken zu müssen.
Stets kam sie als aufrechte Dame von Welt, doch kaum hatte sie sich aus ihrer von einem weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Ubergrößenschneider maßgefertigten Lodenjacke helfen lassen und sich vor Anstrengung leise pfeifend auf die Couch hinabgesenkt, verwandelte sie sich in ein hilfloses und weinerliches Kleinkind, das noch dazu mit seinen Tränen und seiner Schminke die teuren Polsterüberzüge verschmierte. Seltsamerweise mochte Professor Freud sie trotzdem. Aus irgendeinem Grunde vermutete er unter ihrer nervtötenden Attitüde und der dicken Speckschicht einen virilen Geist und ein offenes Herz. Außerdem zahlte sie pünktlich und in Dollar.
Seiner Mutter schreibt er Ansichtskarten. Und wie diese Karten ist sowohl das geschilderte Wien des 9. und 1. Bezirks wie auch des Salzkammerguts meist Ansichtskartenklischee. Selbst der Vergewaltigungsversuch eines Gastwirts, bei dem seine Mutter arbeitet, wirkt wie ein Klischee: Sie schlitzt ihm die Hose auf, sodass er mit bloßgelegtem Gemächt dasteht.

Franz' Beziehung zu einer böhmischen Schwarzarbeiterin namens Anezka ist eine Mischung aus "Liebe des Lebens" und notgeiler Verrücktheit. Beim ersten Treffen im Wiener Prater läuft Franz mit einer Dauererektion rum. Als der alte, einbeinige Trafikant (Kriegsinvalide) nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten von der Gestapo verhaftet und im Hotel Metropol, dem Hauptquartier der Gestapo, gefangengesetzt wird (wegen Verkaufs pornografischer Schriften), verbringen Franz und Anezka eine Liebesnacht in seinem Kämmerlein hinter dem Verkaufsbereich. Im Anschluss wälzen sie sich nächtens nackt im frisch gefallenen Schnee (in der Währingerstraße, einer Hauptverbindungsstraße in den ersten Bezirk). Ziemlich kitschig. Anezka ist auch Stripperin in einem Kabarett im Prater, das vor der Nazi-Herrschaft in einer Nummer Hitler verlachte, und nach der Machtergreifung ist es ein Treffpunkt für die SS und Anezka wählt einen SSler als Liebhaber.

Da der alte Trafikant in Gestapohaft wohl ermordet worden ist, tauscht Franz in einer Nachtaktion eine der drei Hakenkreuzfahnen vor dem Hotel Metropol mit dessen einbeiniger Hose. Auch er wird abgeholt und verschwindet damit aus dem Roman.

Am Schluss wird in den März 1945 gesprungen, während eines alliierten Bombenangriffs steht Anezka vor der nun langsam verkommenen Trafik und liest den letzten Zettel, den Franz aufgehängt hat. Nach einer Anregung von Freud hat er am Morgen immer einen Traum aufgeschrieben und ihn als Tageslosung an die Tür gehängt (eine der gelungensten Ideen des Romans).

Eigentümlich ist auch, welche Unmengen an Bier und Wein (ein Doppelliter geht schon) Franz trinkt bzw. dass er in einem Lokal, in dem er mit Anezka sitzt, drei Portionen Gulasch verschlingt. Auch ist nicht klar, wie der Lehrling, der seine Zeit in der Trafik nur mit Zeitungslesen und Auswendiglernen von Zigarrenwerbung verbracht hat, die doppelte Buchführung erlernt hat, die er benötigt, als ihm die Trafik von den Behörden übergeben worden ist.

Viel gewollt, aber letztlich wenig Tiefe. Vielleicht mit Blick auf eine Verfilmung geschrieben? Keine Ahnung.