Sloterdijk-Zeilen und TageOriginal anzeigen (0,2 MB)

Sloterdijk hat 2011 seine Notizhefte 100 bis 111 veröffentlicht. Relativ regelmäßig schreibt er morgens aktuelle Gedanken nieder, die sehr wenig von Persönlichem handeln, sondern Gedanken zu Aktuellem, zu Gelesenem und zu Allgemeinem formulieren. Auffällig ist dabei, dass er schreibt, als ob er veröffentlichen würde. Warum auch immer. Ins Auge sticht seine hohe Mobilität, er scheint fast immer unterwegs zu sein und meist zu Veranstaltungen, zu denen er eingeladen und an denen er präsent ist.

Roter Faden? Sehr oft lässt er sich über den mörderischen Kommunismus aus und disst mehr oder weniger alle Intellektuellen, die jemals diesem nahestanden. Vor allem französische. Die olympische Feier in Peking mit den turnenden Massen interpretiert er ziemlich treffgenau: "Das Individuum ist ein Pixel im Erscheinungsbild des totalen Staats."

Sein zweiter wiederkehrender Reibebaum ist Israel. Seine Kritik an einem gewalttätigen Staat akzeptiert er nicht als Antisemitismus. Ausgeglichen wird es mit dem Hinweis, dass arabisch-muslimische Sklavenhändler historisch etwa 17 Millionen Schwarzafrikaner:innen versklavt haben.

Und vielleicht um nicht einseitig dazustehen (obwohl, es sind Notizen!):
Im Grunde laufen die monotheistischen Lebensprogramme immer auf dasselbe hinaus: auf ein mutwilliges Sichvordrängen beim Dienen unter höchsten Adressen. Mit Allah kann man das übliche Ich-diene-dir-mit-Haut-und-Haaren-Spiel besonders leicht treiben, weil er ein hilfloser Alter ist, der dazu prädestiniert scheint, machthungrigen Experten der Vortäuschung von Selbstlosigkeit in die Hande zu fallen.
Auch mit Präsident Wulffs (den er nicht mag) Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland, verfährt er scheinbar kritisch, bleibt jedoch nur an der sprachlichen Oberfläche hängen:
Gehört der Islam zu Deutschland wie der Daumen zur Hand oder wie der OP zur Klinik oder wie der Crash zum Autorennen oder wie Goethe zur Allgemeinbildung oder wie der Tod zum Leben? Das Präsidentenwort ist eine mereologische Sumpfblüte, die mehrere miteinander unverträgliche Varianten des Teil-von-etwas-Sein-Könnens gleichzeitig anspricht. Ist man erst einmal auf dieser schiefen Eben gelandet, kann man mit ebensoviel Recht sagen, die Hand gehöre zum Daumen, das Rennen zum Crash, das Leben zum Tod und Deutschland zum Islam.
In Bezug auf Israel verklausuliert er weniger:
Der Staat Israel bietet bis auf weiteres das Bild einer politischen Improvisation, die aus dem Stadium der Gründungsverbrechen nicht herauskommt. Die von den Gründern eingeleiteten und von den Erben fortgesetzten Gewalttaten, von der Ermordung britischer Zivilisten beim Anschlag auf das König David Hotel 1946 und der Vertreibung der Palästinenser aus ihren Gebieten 1948 bis zur fortgehenden landräuberischen Siedlungspolitik und der kürzlich erfolgten Tötung türkischer Gaza-Hilfe-Aktivisten, können nicht in die Vergangenheit versinken, weil immer erneut aufbrechende Konflikte ihre historische Einklammerung nicht erlauben. Die äußere Lage, die durch mentale Fixierungen verschlimmert wird, macht die Bewohner des Landes geneigt, Akte der Gründungsgewalt vor den Augen der Weltöffentlichkeit teils verlegen, teils trotzig, gelegentlich sogar provokativ, zu wiederholen - eine Situation, wie geschaffen, um israelkritische Regungen zu animieren.

Erreicht die Kritik am israelischen Verhalten eine gewisse Schärfe, sprechen die Apologeten aufgrund einer unfehlbaren Automatik des A-Wort aus.

Binnen einer Sekunde versteinert die Debatte.
Beinahe könnte man meinen, Sloterdijk spricht Israel das Existenzrecht ab.

Es ist diese Sprunghaftigkeit bis hin zum Schenkelklopfer, welche die Lektüre von Sloterdijk mühsam macht. Da hilft auch seine Belesenheit, die manchmal zum Name-Dropping oder Zitate-um-sich-Schmeißen abgleitet und eine gewisse Arroganz zum Ausdruck bringt (auch die Leute, die er trifft, wie die besuchten Restaurants sind elitär). Nicht ungern hört (erfindet?) er von sich als "Hybrid aus Dieter Bohlen, Muammar al-Gaddafi und Carl Schmitt".

Zu den Schenkelklopfern zählen seine Bonmots über das moderne Universitätswesen mit seinem "stipendienbefeuerten Kognitionsluxus" samt "Lehrstühle für systemtheoretisch fundierte Forschungsnützlichkeitsvortäuschungsforschung". Und zur Betroffenheitskultur: "Unsere Studenten sind wie kostbare Ming-Vasen, ein kritisches Wort, und sie haben einen Sprung."

Auch eher abstoßend sind seine Länderklischees gegenüber Frankreich (Heuchler), Niederländer (gelogene Nachkriegswirklichkeit), Österreicher ("Überleben der Unfähigen", "Land der realen Canaillokratie?"), obwohl er oft in Frankreich und in Wien für seine Vorlesungen ist. Für Griechenland widmet er einen ganzen Absatz:
400 Jahre osmanische Besetzung, dann eine importierte Monarchie, später eine Junta von Gläubigern und ihren lokalen Handlangern an der Macht, dann deutsche Truppen, ein kleiner Demokratieversuch, beendet durch landeseigene Offiziere, dann wieder Demokratie auf Pump und zu schlimmer Letzt erneut die internationalen Gläubigerorgane.
Seine sozialen Ideen sind ein konservativ-libertäerer Mischmasch. So lehnt er eine Rentenanpassung an die Inflationsrate ab (die Leute bekommen zu wenig Kinder), Steuern sollten zur freiwilligen Gabe werden, Vermögens- und Erbschaftssteuern enteignen Familien binnen einiger Generationen. Zu den Rentnern (obwohl er selbst den Tod fürchtet) sehr herablassend: "Man wird die grauen Nomaden früher oder später stoppen müssen. Die Rentner der Ersten Welt sind die Heuschrecken unserer Zeit."

Historisch gesehen früh greift er Migration als Thema auf und tritt für einen Staat ein, der wie Kanada das Recht habe, sich seine Gäste auszusuchen. Er tritt ein für "eine gesteuerte Zuwanderung von Neubürgern aus leistungsorientierten Herkunftskulturen".

Dennoch hat er auch für einen Populismus nur hämische Worte über:
Das Grundschema ist immer das gleiche: der einsame Nichtskönner an der Spitze der Bewegung gemeinsam mit dem Pöbel gegen die erfahrenen Leute, denen man die Anmaßung des Konnens nicht vergibt.
Sein Geschichtsbild jedoch ist sehr eurozentrisch:
In zwei- oder dreihundert Jahren könnte Europa für die Mächte von morgen sein, was Griechenland für das aufsteigende Europa war, ein mythisches Damals, mit dem Unterschied, daß die kommenden Machtkomplexe im Osten und Süden alles, was sie vom »Westen« übernommen haben, für ihre eigene Erfindung halten werden. Die heute schon überall grassierende postkoloniale Unredlichkeit läßt unmißverständlich erkennen, wohin die Reise geht.
Beinahe im Widerspruch kritisiert er die Integrationsdebatte, die er als Wirklichkeit gewordene Brutalität sieht, nachdem der Staat selbst keine Inklusion mehr anbiete. Als Vorbild sieht er die österreichische Donaumonarchie:
Hatte etwa das Habsburger-Reich so etwas wie Integration nötig? Keineswegs, denn da es eine Konstruktion auf transzendenten Grundlagen darstellte, vermochte es den Völkern die Inklusion von oben anzubieten. Der Vielvölkerstaat versammelt, versöhnt und unterdrückt, er integriert nicht. Ist aber das überhöhte politische Gebilde in die Nationen zerfallen, beginnt das Zeitalter der einsprachigen Unbarmherzigkeit. Nun wollen die Nationalkulturen das Ihre mit allen Mitteln geltend machen. In der hysterischen Integrationsdebatte von heute hört man noch immer das Echo der Brutalität, die nach dem Verlust der Inklusion von oben um sich griff.
Den richtige Riecher hatte Sloterdijk bezüglich der Flüchtlinge aus den arabischen und nordafrikanischen Staaten im Zuge der Revolutionen von 2011:
Der Ansturm von Flüchtlingen aus Nordafrika hat begonnen. Die Schicksalsmaschine arbeitet mit der bekannten Ungerührtheit. Aus geographischen Gründen fällt zuerst den Italienern die Aufgabe zu, die unmenschlichen oder minimal-menschlichen Maßnahmen der Küstenwache durchzuführen, später wird die unumgängliche Häßlichkeit auf die übrigen europäischen Nationen übergreifen.
Das Buch schließt pessimistisch:
Wenn wir gehen, werden wir das Gefühl haben, wir hätten unsere Kindheit in der Antike verbracht, unsere mittleren Jahre in einem Mittelalter, das man die Moderne nannte, und unsere älteren Tage in einer monströsen Zeit, für die wir noch keinen Namen haben.
Warm werde ich nicht mit Sloterdijk, dazu ist er mir zu sprunghaft und arrogant.