Die Brücke - Angst
20.01.2024 um 21:25Auch hier vorab eine Triggerwarnung. Hier geht es um Angst, um Höhenangst, um Todesangst.
Menschen, die darunter leiden, lesen bitte nicht weiter. Danke!
Wie vereinbart trefft ihr euch. Nachts, unten am Alten Elbtunnel. Du schleichst Dich aus dem Haus. Den Eltern ist es ohnehin egal, wann ihre Kinder kommen und gehen. Die sind müde, kaputt, totgearbeitet, die merken nichts mehr, denen ist alles egal. Die Wartenden sind zu fünft, Du bist allein. Rüber auf die andere Elbseite, zur Eisenbahnbrücke über den Kanal. Die Aufgabe: „Du gehst da rüber und zurück. Aber zackig.“ Was so einfach klingt, ist es nicht. Keinesfalls. Zwischen den Gleisen ist nichts als nichts. Schwellen in weitem Abstand. Rutschig vom Regen, von Öl und Schmutz. Keine Bretter. Kein sicherer Tritt. Einen Laufweg für die Eisenbahner gibt es nur an der Seite. Den darfst Du nicht betreten. Dann hast Du verloren. Dann ist alles aus. Bleibt der Weg über die Schwellen. Nicht nach unten sehen. Da unten, vielleicht 15 Meter unter Dir, ist der Kanal. Dunkel, kalt, tief. Wer da runterfällt ist tot. Den finden sie mit Glück nach Wochen bei Cuxhaven. Aufgebläht, mit Aalen im Körper, das Gesicht von den Fischen zerfressen, den Leib von Schiffsschrauben verstümmelt.
Die anderen warten. Vorsichtig wagst Du den ersten Schritt. Das Licht ist so schlecht, dass Du nicht siehst, wohin Du Deinen Fuß setzt. Schwelle, Lücke, Absturz? Du zögerst. Keine Angst zeigen. Dann bist Du Opfer. Dann hast Du versagt. Dann bist Du tot, mehr tot, als würdest Du abstürzen. Dann könnten sie Dir wenigstens noch Mut nachsagen. Nächster Schritt. Sicher. Es ist rutschig, es ist dunkel. Mensch, Du bist doch erst dreizehn. „Mach' mal hin! Hast Du Schiss?“ Stimmen von hinten treiben Dich an. Du beschleunigst Deinen Schritt, glaubst, im fahlen Licht zu sehen, wo die Schwellen sind. Sie sind so rutschig. Was, wenn meine Turnschuhe zu glatt sind? Schneller. Keine Angst zeigen. Du schwitzt, obwohl es kalt ist. Du hast einfach nur Angst. Was ist schlimmer, das Versagen oder der Sturz in den Tod. Die Brücke scheint kein Ende zu nehmen. Deine Schritte werden sicherer, schneller. Jetzt, fast, gleich bist Du drüben. Fünf, vier, drei Schwellen noch. Du rutscht. Kein Halt. Körpergewicht verlagern, Anders! Gerade eben noch mal so gut gegangen. Wenn Du jetzt fällst, dann auf die Ufermauer unter der Brücke. Fünf Meter bis zum Beton. Kannst Du das überleben?
„Umdrehen und zurück. Aber zack. Sonst erwischt Dich ein Zug!“ Rufe vom jenseitigen Ufer. Also zurück. Nur nach vorne sehen. Nicht zurück. Nicht zögern. Gleich, gleich hast Du das erste Viertel der Brücke geschafft. „Der Zug kommt! Der Zug kommt!“ brüllen sie. Wollen sie Dir Angst machen? Du hast Angst. Die Angst, die wächst. Sie überwuchert Dich. Frisst Dich. Dein Atem geht schneller. Deine Schritte werden schneller, fahrig, unkonzentriert, unsicher. Der Abgrund unter Dir wartet. Wartet auf Deinen Tod. „Schneller. Der Zug kommt!“ Konzentriere Dich, kleiner Junge. Du musst doch etwas hören, sehen, spüren? Dreh' Dich nicht um. Hinter Dir kommt der Zug. Willst Du ihn sehen? Ein letztes Mal sehen, bevor Dich eine viele Tonnen schwere Diesellok zerfetzt, bevor Dich unzählige Eisenräder der Waggons zermalmen, Dich einmassieren in die Schienen? Stahl auf Stahl. Dazwischen Dein Fleischbrei. Willst Du das sehen? Mensch, reiß Dich zusammen. Du musst ihn doch hören, den Zug. Deine Ohren lauschen in die Nacht. Da ist ein Geräusch. Es scheint näher zu kommen. Aber im Hafen ist die Nacht voller Geräusche. Du hörst es pochen. Laut wie die Niethämmer auf der nahe gelegenen Werft. Es klopft. Es dröhnt. Es rauscht. Es pocht. Angst. Nackte Angst. Nicht umdrehen. Jetzt nicht umdrehen. Konzentriere Dich auf Deine schnellen Schritte. Höre nicht auf die Angst. Es ist Dein Blut, das rauscht. Es ist Dein Atem, der faucht. Es ist Dein Herz, das klopft. Es dröhnt in den Ohren. Wäge Deine Schritte. Die Tiefe, die Dunkelheit, das Wasser. Er muss Dich doch sehen, sagt Dein Verstand. Er wird ein Signal geben. Dann spring zur Seite. Dann hast Du verloren, aber Du lebst, dann bist Du zwar ein lebender Toter, von allen gemieden, aber wenigstens kein toter Toter. Du müsstest doch die Vibrationen spüren, sehen. Die Gleise müssten doch wackeln. Wackeln sie? Sie wackeln! Wirklich? Oder doch nur Einbildung? Die ganze Brücke vibriert. Ist es Dein Zittern? Die Brücke ist endlos. Die Prüfer stehen, kaum erkennbar, klein in der Dunkelheit. Tränen verschleiern Deinen Blick. Du könntest Dir vor Angst in die Hose pissen. Aber dann, wenn Du es dann schaffst, schaffen solltest, bist Du ein Feigling. Sie werden lachen, wenn sie Deine vollgepisste Hose sehen. Besser ausgelacht als tot? Nein, Du gehst weiter, nein, Du hastest jetzt, springst von Schwelle zu Schwelle. Der Regen fällt. Die Schwellen werden rutschiger. Du findest keinen Halt. Noch bist Du über dem Wasser. Vielleicht gerade über die Mitte hinweg. Noch so ein weiter, fast endloser Weg. Schwelle für Schwelle. Jetzt, jetzt, jetzt. Nicht schwanken, nicht taumeln, nicht stürzen. Nicht umdrehen. Ist da ein Licht? Scheinwerfer, die Dich erfassen, bevor Du stirbst? „Der Zug, der Zug kommt! Lauf! Lauf!“ Lauf um Dein Leben, lauf über die Brücke. Von Schwelle zu Schwelle. Da: Das Licht auf den glänzenden Schienen. Der Zug! Der Zug kommt. Der Zug erwischt Dich. Schneller. Schneller, Immer schneller. Nein, da ist kein Zug hinter Dir. Dann würden die anderen doch aus dem Gleis treten, ihm den Weg frei machen, nachdem er Dich aus dem Weg gefetzt hat. Er holt Dich, er kriegt Dich. Der macht Dich platt. Jetzt und hier. Aus. Nein, das Licht kommt von den Lampen am Ende der Brücke. Da ist kein Zug. Oder? Es dröhnt, Du torkelst. Keinen Fehltritt. Der Zug oder der Abgrund. Noch sechs Schwellen, fünf, vier. Panik! Werde ich es schaffen? Drei. Du rutscht. Wenn Du jetzt fällst, dann nicht in den bodenlosen Abgrund. Dann auf hartes, solides Mauerwerk. Fünf Meter unter Dir. So oder so: Tot. Der Zug, der Abgrund, die Mauer. Die Mauer! Zwei. Nein, da ist kein Zug. Der hätte Dich schon längst erwischt. Geschafft. Kein Zug. kein Sturz. Kein Abgrund. Du lebst. Du hast das Ende der Brücke erreicht. Sie fangen Dich auf. Lachen. „War doch nur Spaß!“ „Hast Du etwa Angst gehabt?“ Du klappst zusammen. Sie reichen Dir eine Kornbuddel. „Nimm' erst mal einen Schluck. Die erste Prüfung hast Du geschafft.“ Du torkelst nach Hause, benommen von Angst und Korn.
Menschen, die darunter leiden, lesen bitte nicht weiter. Danke!
Wie vereinbart trefft ihr euch. Nachts, unten am Alten Elbtunnel. Du schleichst Dich aus dem Haus. Den Eltern ist es ohnehin egal, wann ihre Kinder kommen und gehen. Die sind müde, kaputt, totgearbeitet, die merken nichts mehr, denen ist alles egal. Die Wartenden sind zu fünft, Du bist allein. Rüber auf die andere Elbseite, zur Eisenbahnbrücke über den Kanal. Die Aufgabe: „Du gehst da rüber und zurück. Aber zackig.“ Was so einfach klingt, ist es nicht. Keinesfalls. Zwischen den Gleisen ist nichts als nichts. Schwellen in weitem Abstand. Rutschig vom Regen, von Öl und Schmutz. Keine Bretter. Kein sicherer Tritt. Einen Laufweg für die Eisenbahner gibt es nur an der Seite. Den darfst Du nicht betreten. Dann hast Du verloren. Dann ist alles aus. Bleibt der Weg über die Schwellen. Nicht nach unten sehen. Da unten, vielleicht 15 Meter unter Dir, ist der Kanal. Dunkel, kalt, tief. Wer da runterfällt ist tot. Den finden sie mit Glück nach Wochen bei Cuxhaven. Aufgebläht, mit Aalen im Körper, das Gesicht von den Fischen zerfressen, den Leib von Schiffsschrauben verstümmelt.
Die anderen warten. Vorsichtig wagst Du den ersten Schritt. Das Licht ist so schlecht, dass Du nicht siehst, wohin Du Deinen Fuß setzt. Schwelle, Lücke, Absturz? Du zögerst. Keine Angst zeigen. Dann bist Du Opfer. Dann hast Du versagt. Dann bist Du tot, mehr tot, als würdest Du abstürzen. Dann könnten sie Dir wenigstens noch Mut nachsagen. Nächster Schritt. Sicher. Es ist rutschig, es ist dunkel. Mensch, Du bist doch erst dreizehn. „Mach' mal hin! Hast Du Schiss?“ Stimmen von hinten treiben Dich an. Du beschleunigst Deinen Schritt, glaubst, im fahlen Licht zu sehen, wo die Schwellen sind. Sie sind so rutschig. Was, wenn meine Turnschuhe zu glatt sind? Schneller. Keine Angst zeigen. Du schwitzt, obwohl es kalt ist. Du hast einfach nur Angst. Was ist schlimmer, das Versagen oder der Sturz in den Tod. Die Brücke scheint kein Ende zu nehmen. Deine Schritte werden sicherer, schneller. Jetzt, fast, gleich bist Du drüben. Fünf, vier, drei Schwellen noch. Du rutscht. Kein Halt. Körpergewicht verlagern, Anders! Gerade eben noch mal so gut gegangen. Wenn Du jetzt fällst, dann auf die Ufermauer unter der Brücke. Fünf Meter bis zum Beton. Kannst Du das überleben?
„Umdrehen und zurück. Aber zack. Sonst erwischt Dich ein Zug!“ Rufe vom jenseitigen Ufer. Also zurück. Nur nach vorne sehen. Nicht zurück. Nicht zögern. Gleich, gleich hast Du das erste Viertel der Brücke geschafft. „Der Zug kommt! Der Zug kommt!“ brüllen sie. Wollen sie Dir Angst machen? Du hast Angst. Die Angst, die wächst. Sie überwuchert Dich. Frisst Dich. Dein Atem geht schneller. Deine Schritte werden schneller, fahrig, unkonzentriert, unsicher. Der Abgrund unter Dir wartet. Wartet auf Deinen Tod. „Schneller. Der Zug kommt!“ Konzentriere Dich, kleiner Junge. Du musst doch etwas hören, sehen, spüren? Dreh' Dich nicht um. Hinter Dir kommt der Zug. Willst Du ihn sehen? Ein letztes Mal sehen, bevor Dich eine viele Tonnen schwere Diesellok zerfetzt, bevor Dich unzählige Eisenräder der Waggons zermalmen, Dich einmassieren in die Schienen? Stahl auf Stahl. Dazwischen Dein Fleischbrei. Willst Du das sehen? Mensch, reiß Dich zusammen. Du musst ihn doch hören, den Zug. Deine Ohren lauschen in die Nacht. Da ist ein Geräusch. Es scheint näher zu kommen. Aber im Hafen ist die Nacht voller Geräusche. Du hörst es pochen. Laut wie die Niethämmer auf der nahe gelegenen Werft. Es klopft. Es dröhnt. Es rauscht. Es pocht. Angst. Nackte Angst. Nicht umdrehen. Jetzt nicht umdrehen. Konzentriere Dich auf Deine schnellen Schritte. Höre nicht auf die Angst. Es ist Dein Blut, das rauscht. Es ist Dein Atem, der faucht. Es ist Dein Herz, das klopft. Es dröhnt in den Ohren. Wäge Deine Schritte. Die Tiefe, die Dunkelheit, das Wasser. Er muss Dich doch sehen, sagt Dein Verstand. Er wird ein Signal geben. Dann spring zur Seite. Dann hast Du verloren, aber Du lebst, dann bist Du zwar ein lebender Toter, von allen gemieden, aber wenigstens kein toter Toter. Du müsstest doch die Vibrationen spüren, sehen. Die Gleise müssten doch wackeln. Wackeln sie? Sie wackeln! Wirklich? Oder doch nur Einbildung? Die ganze Brücke vibriert. Ist es Dein Zittern? Die Brücke ist endlos. Die Prüfer stehen, kaum erkennbar, klein in der Dunkelheit. Tränen verschleiern Deinen Blick. Du könntest Dir vor Angst in die Hose pissen. Aber dann, wenn Du es dann schaffst, schaffen solltest, bist Du ein Feigling. Sie werden lachen, wenn sie Deine vollgepisste Hose sehen. Besser ausgelacht als tot? Nein, Du gehst weiter, nein, Du hastest jetzt, springst von Schwelle zu Schwelle. Der Regen fällt. Die Schwellen werden rutschiger. Du findest keinen Halt. Noch bist Du über dem Wasser. Vielleicht gerade über die Mitte hinweg. Noch so ein weiter, fast endloser Weg. Schwelle für Schwelle. Jetzt, jetzt, jetzt. Nicht schwanken, nicht taumeln, nicht stürzen. Nicht umdrehen. Ist da ein Licht? Scheinwerfer, die Dich erfassen, bevor Du stirbst? „Der Zug, der Zug kommt! Lauf! Lauf!“ Lauf um Dein Leben, lauf über die Brücke. Von Schwelle zu Schwelle. Da: Das Licht auf den glänzenden Schienen. Der Zug! Der Zug kommt. Der Zug erwischt Dich. Schneller. Schneller, Immer schneller. Nein, da ist kein Zug hinter Dir. Dann würden die anderen doch aus dem Gleis treten, ihm den Weg frei machen, nachdem er Dich aus dem Weg gefetzt hat. Er holt Dich, er kriegt Dich. Der macht Dich platt. Jetzt und hier. Aus. Nein, das Licht kommt von den Lampen am Ende der Brücke. Da ist kein Zug. Oder? Es dröhnt, Du torkelst. Keinen Fehltritt. Der Zug oder der Abgrund. Noch sechs Schwellen, fünf, vier. Panik! Werde ich es schaffen? Drei. Du rutscht. Wenn Du jetzt fällst, dann nicht in den bodenlosen Abgrund. Dann auf hartes, solides Mauerwerk. Fünf Meter unter Dir. So oder so: Tot. Der Zug, der Abgrund, die Mauer. Die Mauer! Zwei. Nein, da ist kein Zug. Der hätte Dich schon längst erwischt. Geschafft. Kein Zug. kein Sturz. Kein Abgrund. Du lebst. Du hast das Ende der Brücke erreicht. Sie fangen Dich auf. Lachen. „War doch nur Spaß!“ „Hast Du etwa Angst gehabt?“ Du klappst zusammen. Sie reichen Dir eine Kornbuddel. „Nimm' erst mal einen Schluck. Die erste Prüfung hast Du geschafft.“ Du torkelst nach Hause, benommen von Angst und Korn.