Narrenschiffer
Diskussionsleiter
Profil anzeigen
Private Nachricht
Link kopieren
Lesezeichen setzen
dabei seit 2013Unterstützer
Profil anzeigen
Private Nachricht
Link kopieren
Lesezeichen setzen
Bernie Sanders - Es ist ok, wütend auf den Kapitalismus zu sein
02.11.2023 um 17:24Bernie Sanders ist eine 82-jährige sozialdemokratische Ein-Mann-Fraktion bei den US-Demokraten, langjähriger Senator im Kongress und zweimal mit beachtlichem Erfolg in das Rennen für die US-Präsidentschaft eingestiegen. In diesem vor kurzem erschienen Buch gibt er episodisch Ereignisse und Senats-Diskussionen aus den letzten Jahren wieder, stellt aber auch den Kern seiner politischen Überzeugungen vor.
Sanders hat zwei Vorbilder: die europäischen Sozialstaaten und den US-Gewerkschafter Eugene Victor Debs. Außerhalb des Parteiwesens hält er die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeitenden für essenziell, um Rechte der Beschäftigten durchzusetzen, von denen viele in prekären Jobs arbeiten oder ihre Jobs durch Ausgliederung von Fabriken nach Mexiko bzw. andere Billiglohnländer verloren haben.
Ganz besonders liegt ihm das Gesundheitswesen am Herzen. Medicare (die Krankenversicherung für Über-65-Jährige) müsste zu einer generellen Krankenversicherung für alle umgestaltet werden, dann wäre Medicaid (die Krankenversicherung für Einkommens- und Vermögenslose) obsolet. Dass Krankenversicherungen an Arbeitsstellen gebunden sind oder privat für viele unleistbar teuer sind, sei nicht akzeptabel. So berichtet er anekdotisch aus seinem Bekanntenkreis, dass nach einer Rückenoperation vom Krankenhaus eine Rechnung von einer Million Dollar ins Haus geflattert sei.
Finanziert könnte dieses System durch progressive Besteuerung von Reichen (Oligarchen, wie er sie nennt) werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag der Spitzensteuersatz bei 90 Prozent und die Arbeitenden hatten ausreichend Einkommen, um ein würdiges Leben führen zu können. In den letzten Jahrzehnten des Hyperkapitalismus und beschleunigt während der Corona-Pandemie sei die Kluft zwischen Arm und Reich extrem gewachsen. CEOs würden nun bis zum 400-Fachen eines Durchschnittslohns verdienen (in den 1950er Jahren sei es das 40-Fache gewesen). Diese Kluft müsse revidiert werden.
Um die Arbeitsmarktsituation zu entschärfen (es gäbe viele, die zu den Niedriglöhnen auch nicht mehr arbeiten wollen - The Great Resignation) müsse die staatliche Austeritätspolitik beendet und ein staatliches Arbeitsplatzprogramm gestartet werden, das Arbeitsplätze in der Bauindustrie (durch Reparatur der maroden Infrastruktur), im Gesundheits- und Bildungswesen wie im Ökologiebereich schafft.
Wünschenswert sei für ihn, dass das Zweiparteiensystem zu einem Mehrparteiensystem wird, aber er hält dies mittelfristig nicht für umsetzbar wie auch eine Änderung des Wahlsystems weg vom Elektoratssystem. So bleibt ihm nur die Hoffnung, dass die Demokratische Partei sich von einer zweiten Partei der Reichen zurück zu einer Partei aller und vor allem der Arbeitenden wandelt, wie es zur Präsidentschaft Roosevelts gewesen sei.
Ob die Chancen gut für eine sozialdemokratische Fraktion bei den Demokraten oder gar eine sozialdemokratische Partei stehen, bezweifle ich alleine deshalb, dass ein mittlerweile 82-jähriger Senator mit Herzproblemen die einzige hörbare Stimme in den oberen politischen Rängen ist, die oft im Senat nicht mal eine zweite abgeordnete Person hinter seinen Gesetzesvorschlägen finden kann. Ich fürchte, nach seinem Ausscheiden aus der Politik wird es um sozialdemokratische Positionen in den USA sehr still werden.
Phasenweise interessant zu lesen, vor allem weil einem die Person Sanders (Sohn einer aus Polen geflohenen armen jüdischen Familie, die väterlicherseits von den nationalsozialistischen Mördern mehr oder weniger ausgelöscht wurde) wie auch seine mit Herzblut vorgetragenen Überzeugungen näher kommen.