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Das frühe Mittelalter (Fischer Weltgeschichte Bd. 10)
30.09.2023 um 11:30Verfasst 1968 vom renommierten belgischen Historiker Jan Dhont, wird der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte breiter Raum gegeben, wobei jedoch beim Lesen der Überblick durch räumliche und zeitliche Sprünge sowie doch sehr vielen Namen von Wirtschaftstreibenden etwas verloren gehen kann. Dennoch sind einige merkenswerte Informationen zu lesen.
Dass Karl der Große als Sachsenschlächter gesehen wird, ist bekannt. Aber überlieferte Fakten, dass an einem Tag 4500 aufständische Sachsen hingerichtet wurden oder Taufverweigerung mit dem Tod bestraft wurde, lässt Dhont die Politik Karls als "terroristisch" einstufen. Ich persönlich fand es immer schon eigentümlich, dass Karl der Große Namensgeber des europäischen Friedenspreises ist.
Die weitere politische Geschichte des Karolingerreiches samt seinem Ende wird mit seinen bekannten Eckdaten vorgestellt, wenn auch mit dem Seitenhieb, dass die Karolinger in der Nachfolge von Karl dem Großen mehr mit eigenen Streitigkeiten beschäftigt waren, als sich um den Schutz der Bevölkerung zu kümmern, die im Westen den Überfällen der Normannen ausgesetzt waren (911 schließlich erhielten sie die Normandie). Im Osten konnten die Ungarn mit ihrer leichten Kavallerie und frauenraubenden Plünderungen erst 955 gestoppt werden.
Gesellschaftlich wird in Europa der Unterschied zwischen Reichen und Armen weiterhin größer, sie teilte sich in Freie und Unfreie und basierte im Karolingerreich auch noch auf Sklavenhaltung. Freie waren im Karolingerreich kriegsdienstpflichtig, was im Karolingerreich zunehmend auf Unzufriedenheit stieß und freie Kleinbauern in den Ruin treiben konnte.
Das Lehens- und Vasallenwesen entstand im Karolingerreich zur Zeit Karl Martells im frühen 8. Jahrhundert. Menschen, die den Karolingern Dienste erwiesen hatten, erhielten kein Landgeschenk mehr wie bei der Merowingern, sondern widerrufbare, nicht erbliche Landlehen (beneficia), welche mit bestimmten Leisungen (auch Kriegsdienst) verbunden waren. So wurde versucht, die Aristokratie an sich zu binden. Das Land wurde einerseits aus enteignetem Kirchenbesitz oder aus kriegerischen Überfällen zur Verfügung gestellt. Das Karolingersystem war demgemäß grundsätzlich expansiv.
Das karolingische Heer wurde im 9. Jahrhundert immer mehr zu einer berittenen Armee mit Rittern. In diesem Jahrundert wurde in den karolingischen Reiterarmeen auch der Steigbügel bekannt, womit eine effektivere Kampfweise auf Pferd möglich war. Auch wurden Reiter wie Pferd immer mehr durch Eisenpanzer geschützt.
Eine Teilung des fränkischen Reichs an der Rheinlinie, die auch eine Sprachlinie zwischen Altfranzösisch und Altdeutsch war, vollzog sich bekanntlichermaßen 911 nach Tod des letzten Karolingers (Ludwig das Kind). Die deutschen Stammesfürsten wählten einen Franken zum König (Konrad), der wiederum am Ende seines Lebens seinen erbittertsten Widersacher, den Sachsenherzog Heinrich (einen Nachfahren des großen Gegners Karls des Großen, Widukind) als Nachfolger vorschlug, da er ihm am ehesten zutraute, das deutsche Königtum zusammenzuhalten.
936 wurde nach Tod Heinrichs dessen Sohn Otto gewählt, der die Ungarn besiegte, seine Hausmacht über Sachsen hinaus ausdehnte und schließlich 962 zum Kaiser gekrönt wurde. Mit Hilfe seines Reichskirchensystems weitete er seine Macht auf die Kirche aus und bezog diese in die Verwaltung mit ein. Heftig kritisiert Dhont Ottos Reichsbestrebungen und seine Ausdehnung auf Italien, durch die er - wie bei Bismarck - eine der tieferen Ursachen einer über Jahrhunderte hinweg deutschen aggressiven, imperialistischen Politik sieht. Beide hätten ihr Land "auf den Weg einer abgründigen, zuletzt unglücklich verlaufenden Weltpolitik" geführt. Bereits die Nachfolger Ottos I. sind in unzählige Auseinandersetzungen in Italien und mit der Kirche verstrickt. 1031 mussten Gebiete östliche der Fischa und Leitha (Flüsse in Ostösterreich) an die Ungarn abgetreten werden, da die Ostgrenze nicht gehalten werden konnte.
Heinrich III. konnte Pommern, Polen, Böhmen und kurzzeitig Ungarn unter seine Oberhoheit bringen und regierte über die Königreiche Deutschland, Italien und Burgund. Gleichzeitig begannen die Normannen mit Robert Guiscard sich in Kalabrien, später in ganz Süditalien und Sizilien festzusetzen. 1066, ein Jahr nach der Volljährigkeit Heinrichs IV., konnte mit Wilhelm ein Normanne die Herrschaft über England an sich reißen.
Wirtschaftlich verzeichnet Dhont auf Grundlage technologischer Entwicklungen in der Landwirtschaft das Ende von Hungersnöten, die aus klimatischen Ursachen erst im 14. Jahrhundert nach Europa zurückkehrten. Auch sieht er archäologisch belegt kein Ende von Handelsströmen. Im Raum Kiew entstand mit dem multiethnischen Kiewer Rus mit einer skandinavischen Oberschicht (der Name Oleg stammt zum Beispiel vom skandinavischen Helge) ein überregionales Handels- und Wirtschaftszentrum, das schließlich das orthodoxe Christentum, die kyrillische Schrift und das aus dem Bulgarischen etwickelte Altkirchenslawisch übernahm.
Rom, das Zentrum der römischen Kirche, war zu diesem Zeitraum eine Ruinenstadt mit einigen tausend Einwohnern und einer zänkischen alten Oberschicht, welche um das Amt des Papstes stritt. Die Klosterreform von Cluny wollte die römische Kirche und das Mönchstum zu Andacht und Gebet zurückführen, blieb aber ein zeitlich und räumlich beschränktes Unterfangen. Diese Reform war keine politische.
Dieser Band ist nicht ganz so spannend wie der Vorgängerband, enthält aber einige interessante Informationen und ist umfangreich mit Quellen belegt.