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Günter Schabowski - Der Absturz

4 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Rezension, DDR, Wende ▪ Abonnieren: Feed E-Mail
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Günter Schabowski - Der Absturz

08.08.2023 um 00:12
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Da ich entdeckt habe, dass Schabowskis Buch aus 1991 bei Rowohlt als E-Book in der Serie für vergriffene Bücher veröffentlicht ist, musste ich zuschlagen. Seine Pressekonferenz ist mir immer noch in Erinnerung, als ob es gestern wäre. Als Österreicher war ich am Abend des 9. November 1989 in einem ungarischen Weinkeller, in dem auch Menschen aus der DDR anwesend waren, und die Kellner teilten uns ganz aufgeregt mit, dass die Mauer gefallen sei und es in der DDR nun Reisefreiheit gäbe. Darauf wurde mit den Menschen aus der DDR kräftig angestoßen.

Eine Frage, die mich seither beschäftigte, war: Hat Schabowski auf der internationalen Pressekonferenz über die ZK-Tagung eigenmächtig gehandelt? Hier schreibt er, dass die Öffnung der Grenzen für Aussiedler wie normal Reisende beschlossen war, wegen der Ereignisse die Regierung einem Gesetz durch eine Verordnung vorgegriffen hat, er jedoch nicht Mitglied des Ministerrats war. Den berühmten Zettel habe er von Krenz bekommen und auf diesem habe auch "ab sofort" gestanden. Er habe also nur verlautbart, was beschlossen war. Die Sperrfrist bis 4 Uhr früh kannte er nicht. Was jedoch nicht aus dem ihm vorliegenden Beschluss hervorgeht, ist die antragslose Ausreise. In der ihm vorliegenden steht, dass sowohl Reisen als auch ständige Ausreisen genehmigt werden müssen. In seinem Buch schreibt Schabowski, dass die DDR ein normaler Staat geworden sei, der die Ausreise seiner Bürger:innen nicht verhindern darf. Meiner Meinung nach hat er getrickst und die Genehmigungspflicht (auch wenn sie nicht abgelehnt werden darf) unter den Teppich gekehrt. Die Faksimile der vorläufigen Beschlussfassung mit "ab sofort" ist auf NDR bzw. Chronik der Mauer und seines 2015 wieder aufgetauchten handschriftlichen Zettels für die Pressekonferenz auf LEMO. Laut Schabowski habe Mielke bereits um 21 Uhr die Grenzstellen angewiesen, die Leute über die Grenze gehen zu lassen.

In seiner Rückschau scheint er ein gebrochener Mann zu sein, der sein Leben für eine Schimäre, ein Trugbild weggeschmissen habe, und er bedauert, dass Zweifel an "unserer messianischen Anmaßung" ihm viel zu spät gekommen seien. Was innerhalb der Mauern (realer und ideologischer) sich entwickelt habe, sei nicht lebensfähig gewesen. Anfälligkeiten der Planwirtschaft seien hingenommen und nicht analysiert worden, sie wären symtomatisch als Unzulänglichkeiten betrachtet worden, jedoch nicht als grundsätzliche Systemfehler.

Strukturell ist das Buch chronologisch aufgebaut: Von den für Memoiren typischen Kindheitsgeschichten über seine Tätigkeit als Journalist bei der Gewerkschaftszeitung Tribüne bis zur Chefredaktion im Neuen Deutschland, ab 1981 mit Kandidatenstatus für das Politbüro, ab 1984 Vollmitglied. Schließlich wurde er Erster Sekretär der SED in Berlin (von Honecker vorgeschlagen). Mit dem Kandidatenstatus des Politbüro drängte Mielke auf einen Umzug nach Wandlitz (vermutlich wegen der Überwachbarkeit, Schabowski sieht darin eine Art feudale Abhängigkeit vom Generalsekretär, der diese Privilegien verleihen, aber auch wieder nehmen kann). So erinnert er an einen Satz aus der Parteihochschule Anfang der 1980er Jahre: "Der Generalsekretär ist die Verkörperung des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes." Zum inneren Zirkel Honeckers (Günter Mittag, Erich Mielke, Horst Sindermann, Harry Tisch, Werner Krolikowski) mit den Jagdausflügen zählte Schabowski nicht.

Einigen Raum nimmt die mehrfach ohne Konsequenz vorgetragene Kritik des Chefs der staatlichen Planungskommission Gerhard Schürer an der vom ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen Günter Mittag forcierten Honecker'schen Sozial- und Wirtschaftspolitik, mit der sich der Staat übernehme und die nur durch Westschulden und Exporte finanzierbar sei, gleichzeitig aber innerstaatliche Investitionen behindere. Berühmt wurde Schürer mit seiner Politbüro-Vorlage über die desolate Lage der Wirtschaft der DDR im Oktober 1989 (online als PDF bei derBundeszentrale für politische Bildung). Der Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats Alfred Neumann hielt Honecker vor, dass er 1971 eine intakte Partei und ein intaktes Land übernommen habe, das nun mit zwei Milliarden "in der Kreide" stehe.

Als die Zweifel kamen, seien es er, Egon Krenz und Siegfried Lorenz gewesen, welche die Absetzung Honeckers im Politbüro initiiert hätten. Zwar sei dies zu spät und unzureichend gewesen, aber eine Entwicklung wie in Rumänien hätte dadurch abgewendet werden können, da Honecker mehrfach mit Panzern gedroht habe, um die Demonstrationen abzuwürgen. Zu spät auch deswegen, da die ignorierten Denkansätze von Marx, dass "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist", bzw. von Rosa Luxemburg, dass ohne Demokratie die Herrschaft der Partei zu einer bürgerlichen Diktatur einer Bürokratie werde (Die russische Revolution 1918) zugänglich und bekannt, jedoch nicht reflektiert waren. Auch von ihm nicht. Mit Ernst Bloch stellt sich Schabowski die Frage, ob der Stalinismus den Sozialismus zur Unkenntlichkeit verzerrt oder ihn zur Kenntlichkeit gebracht habe.

Der Abbau der Grenzbefestigungen in Ungarn zu Österreich sei am 2. Mai 1989 bekannt geworden und eine Zäsur gewesen. Was interessant ist, der Beschluss Ungarns war Ende Februar, die Zustimmung Gorbatschows Anfang März (Chronik am Server der deutschen Bundesregierung). Der nächste Schlag waren die Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen (die Akzeptanz der Einheitslisten war viel geringer als offiziell verkündet). Auch ein Versuch seitens Honeckers, die Versorgungsschwierigkeiten in der Sowjetunion unter der Führung Gorbatschows hervorzuheben, um die Perestroike zu diskreditieren, gelang nicht. Offenheit und Partizipation waren als Alternativangebot attraktiver. Außerdem stand es um die Versorgung in der DDR auch nicht zum Besten. Es gab keine Partizipation, keine ausreichende Versorgung und keine Reisefreiheit. Schabowski zitiert Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann von der 10. Tagung des ZK im November 1989:
Viele Menschen haben das Gefühl. etwas Entscheidendes in ihrem Leben zu verpassen. Ich nenne es, die Welt kennenzulernen, moderne Konsumgüter und andere Sachen erwerben zu können. Den meisten Bürgern sind hochtechnologische Produkte fast unerreichbar. CD-Plattenspieler, Home- und Personalcomputer kann man nirgendwo mit unserer Währung erwerben.
Nach der einstimmigen Absetzung von Honecker (mit dessen Stimme) im Politbüro sowie am 18. Oktober 1989 im ZK wurde Egon Krenz zu dessen Nachfolger als Generalsekretär der SED und als Staatsratvorsitzender. Schabowski kritisiert, dass (inklusive ihm) kein Konzept ausgearbeitet wurde, aber im Nachhinein konstatiert er, dass das System nicht zu retten gewesen sei, sondern nur überwunden werden konnte. Auch habe die SED immer noch nicht verstanden, dass sie vom Machtmonopol, der "Machtanmaßung" zurücktreten müsse. Dies hätten sie durch die Ereignisse lernen müssen. Schabowskis Rückblick, auch auf den 9. November:
Wenn eine Gesellshaft, eine Ordnung oder ein System, wie immer man es nennen mag, daran zu Bruch geht, daß die Menschen sich frei bewegen können, dann haben diese Konstruktionen nichts Besseres verdient.
Somit reflektiert er über die von ihm mit initiierte kurze Ära Krenz:
Die vierzig Tage unter Krenz wurden zum Probelauf, bei dem nur unsere Untauglichkeit festgestellt werden konnte.
Die SED war ein untergehendes Schiff und die Volkskammer hat am 1. Dezember 1989 Artikel 1 (das Machtmonopol der SED) aus der Verfassung gestrichen. Am 3. Dezember lösten sich das Politbüro und das Zentralkomitee der SED auf.

Schabowskis persönliches Resümee lautet:
Was uns tatsächlich reif gemacht hat für den Fall, waren die hausgemachten Fehler, die politische Begrenztheit, die Unfähigkeit, weit über den Schatten der SED zu springen, die moralischen Lasten der alten Führung, der Krenz, Lorenz und ich seit den 80er Jahren angehört hatten. Wir alle, auch die uns mutmaßlich aushebeln wollten, waren dem Urteil unterworfen, das die Geschichte über ein untaugliches System gesprochen hatte.
Sein Verdikt über die Vereinigung ist ziemlich eindeutig. Die Möglichkeit einer alternativen Entwicklung eines zweiten deutschen Staates sieht er nicht. Auch Alternativen einer nicht kommunistischen Linken seien nicht überlebensfähig gewesen.
In der linken Aversion gegen die Einheit steckt Trauer über den Verlust eines sozialen Experimentierfeldes, das - seltene Chance der Geschichte - mit der Beseitigung der SED-Macht greifbar schien. Doch eine sich selbst überlebende DDR hätte nur eine Siechenheim-Idylle werden können. Sie hätte die Masse der Bürger im Willen zur Einheit lediglich bestärkt.
Am Ende schwört er dem Kommunismus ab.
Es wird nicht gelingen, bei der Abrechnung mit den Fehlern des Sozialismus kurz hinter Stalin innezuhalten. Das linke Urgestein, die Marxsche Vergesellschaftungsthese steht auf dem Prüfstand. Sie sollte die ewigen Übel der Gesellschaft «endlich» machen. Tatsächlich hat sie in den sozialistischen Ländern neue hervorgebracht oder die alten modifiziert. Die vor Ort ausgeübte Kompetenz von Kapitalisten und Managern durch die Impotenz einer zentralistischen Bürokratie zu ersetzen, das ist der Grundfehler. Die dadurch verursachten Rückstände in der Produktivität, in der Ökologie und in der Versorgung der Menschen straften fortwährend die beanspruchte Vollkommenheit Lügen.



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Günter Schabowski - Der Absturz

10.08.2023 um 10:20
Das ist dann wohl eine Erscheinung von Synchronizität:
Graumann schrieb (Beitrag gelöscht):Hilfreich war mir dabei kurioserweise das Buch vom ehemaligen SED-Chef Ost-Berlins Günter Schabowski ("Der Absturz"), wo das untergegangene System kritisch hinterfragt wurde.
Ich konnte diesem Buch viel entnehmen, was mich begreifen ließ, warum es in der DDR damals so gewesen ist, wie es gewesen war. Insbesondere das Kapitel "Sozialistischer Absolutismus" enthält sehr fundierte Reflexionen über die ideologischen Befangenheiten, die hinter der reinen Machtausübung durch die Politbürokraten der SED als Legitimation standen. Ich zitiere mal daraus im Zusammenhang, weil das wirklich zentral ist für das Verständnis dessen, was damals praktiziert wurde:
Das Königtum war eine Machtform, die sich nicht unmittelbar durch geschicktes, profitables Reagieren auf ökonomische Zwänge legitimierte. Im Gegenteil, Prestigebefangenheit und Verschwendungssucht verstießen schließlich in selbstzerstörerischer Weise gegen die ökonomische Raison, die die nachfolgende, die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Gott erhob.

Da ökonomische Plusmacherei nicht Macht und Existenz des Königtums begründete, musste es durch einen Mythos, eine Ideologie, gerechtfertigt sein, das Gottesgnadentum. Die feudal-höfische Gesellschaft war eine ideologische, eine "Kopfgesellschaft", eine Gesellschaft, an die man glauben musste, im Gegensatz zur "Magengesellschaft" des Kapitalismus.

Der Kapitalismus braucht keine Ideologie, oder - vice versa - er erträgt tausendundeine Ideologie. Unser Sozialismus hingegen setzte auf Bewusstsein. Er wollte die ökonomischen Gesetze vorausschauend, planend nutzen und damit dem chaotischen Wuchern der marktregulierten Profit- und Ausbeutungsgesellschaft ein Ende setzen. Er brauchte damit die Zustimmung der Menschen. Der Kapitalismus hat sie nicht nötig. Er reguliert unangepasstes Verhalten der Produzenten mit Stockschlägen auf den Magen.

Der Sozialismus benötigt das "bewusste Handeln", das einsichtige Tun der Menschen. Der Sozialismus, der sich die Beseitigung der Gottesgnaden wie der Profiteliten zum Ziel gesetzt hatte, ist also gleichfalls eine ideologiebetonte Gesellschaft. Auf einer höheren Windung der geschichtlichen Spirale waren wir wieder bei einer "Kopfgesellschaft" angelangt, nur mit dem Unterschied, dass an die Stelle "einsichtigen Tuns" der Menschen die Allmachts- und Allwissenheitsanmaßung der Partei getreten war.

Ideologien, als Gesinnungs- und Glaubensbrevier verstanden, haben etwas gemein mit Dauerbackwaren. Sie sind nicht zu schnellem Verzehr bestimmt und dürfen sich nicht verändern. Eines Tages stellt sich ihre Ungenießbarkeit heraus. Ideologien muss man den Menschen einreden. Aber viele mögen das nicht. Ideologien vervollkommnen sich nicht nach der Methode des "trial" and "error". Ideologien brauchen Hohepriester, letzte Instanzen, die befinden, warum sie richtig und unfehlbar sind, auch wenn die Realität gegen sie aussagt.

Je geschlossener, also je weniger einlassfähig für Einflüsse der Wirklichkeit, desto begrenzter ist ihre Nutzungsdauer, desto verbissener und repressiver ihr Bestreben, sich selbst zu überdauern. Dem totalen Anspruch und dem hermetischen Charakter einer Ideologie entspricht die politische Monostruktur der darauf gegründeten Gesellschaft. ...

Viel hängt davon ab, welches Verständnis von sozialer Entwicklung Menschen haben. Nicht ein vorgegebener idealer Bauplan, sondern eine unendliche Kette von Versuch und Korrektur, neuerlichem Versuch und Korrektur bestimmt die Evolution in der Natur, in der Gesellschaft und in der menschlichen Erkenntnis. Mutationen, revolutionäre Sprünge können das permanente Experiment beschleunigen. Die Kette sprengen und ersetzen können sie nicht.

Evolution bleibt die Dominante. Denn sie gewährleistet das Notwendige: Bestandssicherung, Öffnung für begrenzte nützliche Veränderungen oder Lösungen und schließlich unbegrenzte Veränderbarkeit dieser Lösungen, wenn sich ihre Tauglichkeit für das jeweilige System erschöpft hat.

Das sozialistische Verheißungsmodell will sich nicht an Korrekturen verschwenden, sondern durchsetzen. Fehler, Disproportionen, Rhythmusstörungen, gegen die das Retortenkonzept nicht gefeit ist, rufen Kritik und Ablehnung bei der Bevölkerung hervor. Da die Verheißung vollkommen zu sein hat, prinzipiell dem kapitalistischen Gesellschaftsmodell überlegen bleiben muss, bedeutete das Eingeständnis von Unzulänglichkeiten oder Fehlern den Verzicht auf die Überlegenheit.

Deshalb kann sich das System nicht berichtigen. Zu korrigieren ist die Nicht-Akzeptanz. Die Menschen müssen zur richtigen Raison gebracht werden. Durch Indoktrination, ideologisch und administrativ betrieben, sollen Kritik und Versuchstrieb eingeschläfert werden. Die Verheißung lebt besser mit dem Glauben. Das Unheil kommt aus der selbsternannten Heilsbringerschaft, mit der wir uns in der Partei ausgestattet haben. Hier ist die eigentliche und letzte Quelle der Repression in unserem obrigkeitlichen, etatistischen Sozialismusversuch. Ein Versuch, der scheiterte, weil er den Menschen das "Versuchen" abgewöhnen wollte. Die Anmaßung war unser Verhängnis.



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Günter Schabowski - Der Absturz

10.08.2023 um 12:32
Zitat von GraumannGraumann schrieb:Das ist dann wohl eine Erscheinung von Synchronizität
Nicht ganz. Ich habe Deinen Beitrag damals gelesen und mir das Buch als E-Book zugelegt, als ich herausgefunden habe, dass es elektronisch wieder ausgeliefert wird. Jetzt weiß ich wieder, woher ich den Tipp hatte. Vielen Dank!

Ich habe mir gleich danach auch den Interviewband Das Politbüro aus 1990 zugelegt, das ich nun als nächstes von ihm lesen werde. Mir ist diese Welt sehr fremd, aber Schabowski blieb mir wegen dieser eigentümlichen Pressekonferenz am 9. November in Erinnerung.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass seine Gedankengänge nach 1989 nicht aufgesetzt waren. Wie ich nun nachgelesen habe (seine weitere Lebensgeschichte kannte ich nicht), hat er beim Prozess Ende der 90er Jahre moralische Schuld dafür übernommen, dass an der Grenze scharf geschossen wurde.

In einem Beitrag für die Zeitschrift der Gesellschaft für kritische Philosophie ist Schabowski schließlich an dem Punkt angelangt, dass er die theoretischen Überlegungen von Marx grundsätzlich für falsch und zwangsläufig zu Gewalt führend bewertet. Da hat jemand 15 Jahre lang die Grundfesten seines beruflichen Lebens demontieren müssen. Mich erinnert dies an Menschen, die aus Sekten aussteigen. Auch diese brauchen sehr, sehr lange, um sich von der Ideologie befreien zu können. Dieser Artikel ist http://www.gkpn.de/schabowski_marx.htm


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Günter Schabowski - Der Absturz

10.08.2023 um 14:31
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Ich habe Deinen Beitrag damals gelesen und mir das Buch als E-Book zugelegt, als ich herausgefunden habe, dass es elektronisch wieder ausgeliefert wird.
Ah ja, also so rum - na dann: es freut mich, dass es mir gelungen ist, Dein Interesse an diesem Thema zu wecken.
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Interviewband Das Politbüro aus 1990
Den hatte ich mir damals im Dezember 1990 sofort gekauft, nachdem er bei rororo erschienen war. Am 9. November 1990 - also zum Jahrestag des Mauerfalls - lief in der ARD ein Fernsehspiel mit dem Titel: "Wer zu spät kommt - Das Politbüro erlebt die deutsche Revolution". Moderiert wurde die Sendung von Hanns Joachim Friedrichs und Günter Schabowski trat darin als Zeitzeuge auf:

Wer zu spät kommt
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Mir ist diese Welt sehr fremd
Ja, wer nicht darin aufgewachsen ist, kann sich das Bizarre dieses Systems schlecht vorstellen, geschweige denn, es nachempfinden. Eventuell bewirkt das Fernsehspiel ja ein wenig Einblick in den damaligen Zeitgeist. Es war eine Mischung aus Wut, Verzweiflung und Unterwürfigkeit, die sich damals 1989 Bahn brach, nachdem im Vorzeigeland Sowjetunion Gorbatschow Reformen eingeleitet hatte, die man in der DDR unter Honecker verweigerte und über Ungarn plötzlich ein Loch im Grenzzaun war, durch das man der Repression entrinnen konnte, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet oder erschossen zu werden. Das war dann der Auslöser dafür, dass die Stimmung im ganzen Land kippte, weil das Politbüro ratlos war und das Problem aussitzen wollte. Das kommt im Fernsehspiel sehr gut rüber.
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:dass seine Gedankengänge nach 1989 nicht aufgesetzt ware
Meines Wissens ist Schabowski der einzige höhere Parteifunktionär, der sich bis an die Grundfesten der Ideologie herangearbeitet und sie aufgrund besserer Einsicht dann auch konsequenterweise verworfen hat. Selbst ein Hans Modrow ("Ich wollte ein neues Deutschland") ging mit seiner Kritik nicht so weit, dass er dem Kommunismus abgeschworen hätte. Von Egon Krenz möchte ich mal gar nicht erst anfangen zu reden ...
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:beim Prozess Ende der 90er Jahre
Er wurde auch zu mehreren Jahren Haft verurteilt, musste sie aber nicht in voller Länge absitzen, sondern wurde nach etwa eineinhalb Jahren begnadigt. Aber ich denke, das Gericht hat ihm die Ehrlichkeit seiner Reue abgenommen, zumal er sich bereits vor dem Prozess mehrfach in der Öffentlichkeit in diesem Sinne positioniert hatte.
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:In einem Beitrag für die Zeitschrift der Gesellschaft für kritische Philosophie
Diesen Artikel kannte ich noch nicht. Vielen Dank für das Verlinken. Diese Stelle ist wichtig (neben vielen anderen Stellen):
Marx umhüllt die Aura des Wissenschaftlichen. Seine Nachbeter werden nicht müde, das zu beschwören. Es ist der Versuch, seine kommunistischen Zukunftsvisionen vom Ruch platter Prophetie zu entlasten.
Ich bin gerade dabei, durchzuarbeiten, warum so ein hoher Stellenwert darauf gelegt worden ist, dass es sich beim Marxismus-Leninismus um eine "wissenschaftliche" Weltanschauung gehandelt hat. Darauf lege ich den Fokus in meinem Blog und habe dort aus verschiedenen SED-Publikationen zitiert.

Meine Vermutung ist, dass dies ein propagandistischer Effekt gewesen ist, denn Wissenschaft hat eine hohe Reputation und wer meint, es mit den Wissenschaften aufnehmen zu können, muss selber ein besserer Wissenschaftler sein. Das sind aber die Wenigsten, so dass mit dem Attribut "wissenschaftlich" die Ideologie um so effizienter auf übergriffige Weise den Menschen aufgedrängt und zur Übernahme und Nachplapperei genötigt werden konnte.

Dazu muss ich aber noch einige Recherche-Arbeit leisten.

Bis hierhin erst mal vielen Dank für Deine Ausführungen und für den verlinkten Artikel.


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