Narrenschiffer
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Franz Kafka - Das Schloß
19.06.2023 um 15:31Dieses unvollendete Romanfragment über einen Landvermesser namens K., der in ein winterliches Dorf gelangt und mehr oder weniger auf Ablehnung stößt, obwohl er einen Vertrag abgeschlossen hat, wirkt wie die Niederschrift eines Albtraums einer kleinen Dorfgemeinschaft voller isolierter und auf soziale Stellung erpichter Einwohner, die von einer überdimensionierten Schlossbürokratie beherrscht, wenn nicht versklavt ist. Das Schloss ist unzugänglich, die Herren unbekannt, Kontakt gibt es über Sekretäre und Boten, welche Entscheidungen übermitteln.
Ab seiner Ankunft muss K. darum kämpfen, überhaupt einen Schlafplatz zu erhalten. Wer für ihn zuständig ist, bleibt im Dunkel. Der Gemeindevorsteher des Dorfes erläutert, dass seine Landvermesserstelle umstritten sei, viele halten die Besitzgrenzen für unverrückbar. So bietet er ihm eine Stelle als Schuldiener an, die er skurrilst ausführt. Beigestellt werden ihm zwei ständig hüpfende, lästige Gehilfen, seine eigenen Assistenten kommen nie im Dorf an.
Bei seinen Kontakten mit Dorfbewohnern, allesamt in vorindustriellen Berufen, lernt er die Feindseligkeiten kennen, und obwohl er verheiratet mit Kind ist, schnappt er sich nach einer Nacht in der Ausschank das Ausschankmädchen Frieda, verspricht ihr die Ehe und nimmt sie in die Schule mit, wo sie jedoch wieder davonläuft, als er eine nicht-sexuelle Nacht bei zwei anderen Mädchen verbringt.
Überhaupt sind die Mann-Frau-Beziehungen höchst erotisch aufgeladen, die im besser gestellten Gasthaus Herrenhof weilenden Sekretäre befehlen immer wieder Dorfmädchen als Sexualsklavinnen zu sich. Ob real oder Gerücht, bleibt offen. Nur ein Mädchen lehnt einen solchen Befehl ab und bringt ihre Familie damit in Schwierigkeiten.
Das ganze Setting erscheint herabgekommen und desolat, die Sekretäre hausen in kleinen fensterlosen Kammern im Herrenhof, bearbeiten Akten und empfangen Dorfbewohner nächtens im Bett liegend, um ihnen Entscheidungen mitzuteilen. In einem Gespräch gegen Ende mit einem der drei Zimmermädchen erfährt K., dass sie in einem winzigen Zimmer mit drei Stockbetten hausen. Ein Zimmer, das mehr einem Schrank gleicht. Außerdem müssten sie abgesehen von einem freien Nachmittag 24/7 bereit stehen, um die Sekretäre zu bedienen.
Was führt Kafka in diesem auch wegen der emotionslosen, trockenen Sprache schwer zugänglichen Text eigentich vor? Ein winziges Dorf wird von einer überdimensiionierten, gesichtslosen Bürokratie beherrscht, die Leute sind sich spinnefeind und wollen ständig eine bessere Stellung zum Schloss, das ihnen nicht zugänglich ist, ergattern. In dieser Isolation prickelt es gleichzeitig voll erotischer Spannung, die wie bei K. und Frieda schnell erfüllt werden kann. Der Roman bricht ab, als sich K. und die Wirtin des Herrenhof über ein Kleiderkompliment näher kommen.
Lesbar ist der Text durchaus als symbolgeladene Dystopie, die in das 20. Jahrhundert mit seinen entpersonalisierten Herrschaftsverhältnissen vorausweist, seien sie totalitär oder auch nicht.
... unsere Lage ist derart, daß wir mit aller Welt zerfallen sind ...