Camus-Mensch

Das Manuskript dieses nicht vollendeten Werks hatte Camus während seines tödlichen Autounfalls bei sich und wurde erst nach längerer Zeit von seiner Schwester freigegeben. Diese Ausgabe von Rowohlt umfasst auch die gefundenen Notizen und ist kommentiert.

Die Hauptfigur Jacques Cormery und dessen Familie ist stark autobiographisch geprägt. Dennoch schreibt Camus nicht in einem Nabelschau-Ich, sondern lässt die Figuren von einem Erzähler von außen betrachten. Der Roman ist nicht in Ich-Form geschrieben.

Geboren ist Jacques wie Camus im Jahr 1913 in einem kleinen ostalgerischen Ort namens Mondovi, heute Dréan, als seine Familie dort ankommt, da der Vater eine Gutsverwaltung übernehmen soll. Ein Jahr später wird der Vater, der Frankreich nie gesehen hat, in die Armee eingezogen und fällt in der Bretagne. Die Armen aus Algerien (Europäer, Araber, Berber) waren von der französischen Armee so schlecht ausgerüstet,
sodass Wellen von grell und fesch gekleideten arabischen und französischen Algeriern mit Strohhüten auf dem Kopf als rot-blaue Zielscheiben, die man Hunderte Meter weiter sehen konnte, zuhauf ins Feuer vorrückten, zuhauf vernichtet wurden und ein begrenztes Gelände zu düngen begannen
Mit seiner schwerhörigen, schweigsamen und analphabetischen Mutter (mit einem Wortschatz von 400 Wörtern, wie geschrieben ist) zieht er zurück zur herrischen Großmutter nach Algier, ins Arbeiter- und Armenviertel Belcour, einem der Brennpunkte der Aufstände in den 1950er Jahren.

Jacques ist ein quirliger Charakter, begeistert sich für Sport und Literatur, wird von seinem Grundschullehrer gefördert (Camus hielt zu seinem eigenen Grundschullehrer bis zu seinem Tod engen Kontakt) und erhält im Gymnsium einen Stipendienplatz. Das Gymnasium selbst spiegelt die Dreigliederung der algerischen Kolonialgesellschaft und ihre sehr begrenzte soziale Durchlässigkeit: Die meisten Schüler (Schulen sind nach Geschlecht getrennt) stammen aus der europäischstämmigen Ober- und Mittelschicht, einige aus armen europäischstämmigen Familien wie Jacques und ganz wenige algerischen (Araber, Berber).

Der Roman bricht mit dem Ende des Gymnasiums ab, nach den gefundenen Skizzen dürfte ein groß angelegter Roman geplant gewesen sein, der die politischen wie kolonialistischen Verwerfungen der Resistance gegen den Nationalsozialismus wie des für Camus 1959/60 immer noch aktuellen Algerienkriegs thematisiert. In einer zweiten Ebene scheint Jacques' zum Teil sehr frauenfeindlicher Charakter als Thema geplant gewesen sein.

Kern ist die Identitäfindung eines Kindes aus einer armen europäischen Familie in kolonialem Umfeld. Es gibt keine Anknüfpungspunkte für eine Identität: Frankreich ist für die Armen unbekanntes Land, sie waren nie dort, sie kennen es nicht. Dennoch sind sie Nachfahren von Einwanderern. Dies gilt auch für Jacques. Väterlicherseits stammt die Familie aus dem Elsass. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1871 sind sie nach Algerien geflohen. Die Mutter stammt aus einer Familie aus Menorca, die von dort nach Algerien geflohen ist, um nicht an Hunger zu sterben. Eine Verbindung zu den europäischen Wurzeln gibt es nicht, einen Anknüpfungspunkt an eine algerische Geschichte ebensowenig. Jacques ist ein Kind ohne Identität, erst durch Bildung (Gymnasialabschluss) eröffnet sich für Jacques der Weg nach Europa, das aber für ihn ebensowenig identitätsstiftend ist wie sein Vater, dessen Grab er in Saint-Brieuc aufsucht. Er ist "ohne Vater, ohne Identität", wie Camus schreibt. Es sei ein Leben in der Gegenwart und daher ein Leben in der Nähe des Todes.

Die Welt des Kindes ist eine unmittelbare, keine historisch gewachsene: Die Sonne, der Regen, der Sport, das Lesen, die Schule, die Familie, die Mutter mit ihrem Schweigen. Er wuchs inmitten einer Armut auf, "die so nackt war wie der Tod".

Erst bei einer Reise in den 1950ern zu seinem Geburtsort findet er historische Linien der euroäischen Armen, und diese waren schauderhaft. Revolutionären von 1848 wurde Land in Algerien angebpriesen, Tausende reisten nach Ostalgerien, viele starben an Cholera, der Kampf gegen die Berber und Araber war brutal. Hoden wurden abgeschnitten, Frauen wurden die Brüste abgeschnitten und der Bauch aufgeschlitzt. Rassischer Hass ohne rassistische Ideologie. Der Mensch halte sich nicht im Zaum, obwohl das Sich-im-Zaum-Halten ihn vom Tier unterscheide, schreibt Camus.

Aber auch an seinem Geburtsort gibt es keine Identität. Das Gutshaus, in dem er geboren wurde, ist abgerissen. Der jetzige Besitzer erklärt ihm: "Hier wird nichts aufgehoben. Man reißt ab, und man baut wieder auf. Man denkt an die Zukunft, und man vergisst das Übrige."

Gut 100 Jahre nach Ankunft sollen die Siedler weg. Ein Winzer gräbt mit seinem Traktor wie ein Besessener seine Weinstöcke um und leitet Brackwasser auf seine Felder. Von einem Offizier angesprochen, was er tue, gibt er zur Antwort: "Junger Mann, da das, was wir hier getan haben, ein Verbrechen ist, muss es wiedergutgemacht werden." Es ist das koloniale Dilemma der armen Kolonisten.

Das Leben bestehe aus Unglück, gegen das man nichts tun könne. Jacques sollte diesen existenzialistischen Grundsatz spiegeln, indem der das Notwendige, das vom Schicksal ihm Aufgedrängte liebe, nicht das von seiner Wahl Abhängige. Deshalb auch seine enge Bindung an die (nicht wählbare) Mutter und nicht an eine (wählbare) Frau. So werde er auch zur Liebe zum Tod finden müssen, dem Unvermeidlichen.

In den Notizen finden sich noch Lösungswünsche für Algerien, für alle dort in Armut Lebenden:
Gebt den Boden zurück. Gebt den ganzen Boden den Armen, denen, die nichts haben und so arm sind, dass sie nicht einmal je den Wunsch hatten, zu haben und zu besitzen, denen, die wie er in diesem Land sind, die riesengroße Schar der Elenden, die meisten Araber und einige Franzosen, die mit Hartnäckigkeit und Ausdauer hier leben oder überleben, in der einzigen Ehre, die auf der Welt etwas wert ist, der der Armen, gebt ihnen den Boden, so wie man das, was heilig ist, denen gibt, die heilig sind, und dann werde ich, wieder und endlich arm, in das schlimmste Exil am Rande der Welt geworfen, lächeln und zufrieden sterben, weil ich weiß, dass unter der Sonne meines Ursprungs der Boden, den ich so geliebt habe, und jene und die eine, die ich verehrt habe, endlich vereint sind.
Die Identität, die Jacques in Frankreich aufgebaut hat, ist brüchig:
Morgen würden sechshundert Millionen Gelbe, Milliarden von Gel-ben, von Schwarzen, von Braunen über das Kap von Europa strömen ... und [es] bestenfalls [umwandeln]. Dann würde alles, was man ihn und seinesgleichen gelehrt hatte, auch alles, was er gelernt hatte, von diesem Tag die Menschen seiner Rasse, würden alle Werte, für die er gelebt hatte, an Nutzlosigkeit sterben. Was würde dann noch gelten? ... Das Schweigen seiner Mutter.
In einem der letzten Sätze schreibt Camus beinahe testamentarisch über die Berufung des Schriftstellers:
Die Würde des Schriftstellerberufs liegt im Widerstand gegen die Unterdrückung,



Jacques fährt mit der Straßenbahn von Belcourt in die westlich der Bucht liegende Innenstadt, in die Rue Bab-Azoun, um zur Schule zu gelangen. Dort, wo sie sich zu einem Platz mit Arkaden weitet, steigt er aus, um bei arabischen Ständen köstliche Teigwaren zu kaufen, wenn er Geld hat. Diesen kleinen Platz haben die Gebrüder Lumiers 1896 in einem Film festgehalten, der auf YouTube zu sehen ist. Eine längere kolorierte und mit Musik unterlegte Version des Lumiers-Films von Algier findet sich ebenso auf YouTube - faszinierende Aufnahmen.

Eine Sammlung von Fotos aus dem Armenviertel Belcourt aus der französischen Kolonialzeit (Einwohnerverteilung Europäer - Algerier etwa 50:50, auch die Nachbarn von Jacques waren Araber) finden sich auf der Webseite JudaicAlgeria (Archiv-Version vom 25.03.2023)